Ein wirrer Donald Trump hat seine kurdischen Verbündeten in Syrien im Stich gelassen. Europa könnte Erdogan stoppen – wenn es nur wollte.
Wien, 16. Oktober 2019 / Schon sind sie da, die syrischen Soldaten und die mit ihnen verbündeten russischen Söldner. Die US-Truppen sind kaum überhastet abgezogen, da liefern sich die Einheiten des Assad-Regimes ein Wettrennen mit der türkischen Armee nach Nordsyrien. Den mit den USA verbündeten kurdischen Milizen war gar nichts anderes übrig geblieben, als ihre alten Gegner zur Hilfe zu holen, nachdem Trump seinen Truppen den überhasteten Abzug befohlen hatte.
Wer, wenn nicht Europa?
Jetzt sieht Erdogan die Gelegenheit gekommen, mit seinen kurdischen Feinden in Syrien kurzen Prozess zu machen. Wer könnte ihn stoppen? Russland? Ist mit Assad verbündet und profitiert vom Machtvakuum. Die USA? Haben unter “The Donald” jede außenpolitische Vernunft über Bord geworfen und zeigen aller Welt, was ein Bündnis mit ihnen wert ist: Nicht mehr als eine Stimmungsschwankung des Präsidenten. Die läppischen Wirtschaftssanktionen, zu denen sich das amerikansiche Finanzministerium durchringen konnte, kosten die türkische Führung nicht einmal ein müdes Lächeln.
Und Europa? Könnte Erdogan mit Leichtigkeit an die Kandare und die Kurden in Schutz nehmen. Das zeigt schon die Tatsache, dass Erdogan im Vorfeld der Offensive gegen die Kurden – die zynisch “Operation Friedensquell” heißt – von sich aus bei Angela Merkel anrief. Der türkische Präsident weiß ganz genau, dass eine entschlossene EU ihn jederzeit aufhalten könnte.
Ungleiche Kräfteverhältnisse
Die Türkei ist wirtschaftlich am Boden. Die Arbeitslosigkeit liegt selbst nach offiziellen Zahlen bei 14 Prozent, die Inflation ist zweistellig, die Zinsen, die das marode Land für seine Kredite zahlen muss, sind astronomisch. Auf der anderen Seite steht der reichste Markt der Welt. Handels- und Investitionsschranken, Einfrieren von europäischen Konten türkischer Politiker und Unternehmer, Ausweisung von Auslandstürken mit Doppelstaatsbürgerschaft – eine wichtige Devisenquelle für die Türkei – der kranke Mann am Bosporus wäre binnen Tagen vollständig ruiniert. Da ist auch die Drohung Erdogans, einige hunderttausend syrische Flüchtlinge nach Europa zu lassen, im Vergleich harmlos.
Erdogan weiß das, Merkel weiß das, Macron ebenfalls. Doch was passiert? Einzelne europäische Länder stoppen Rüstungslieferungen an die Türkei, nachdem sie das Land jahrzehntelang aufgerüstet haben. Das ist alles. Die Türkei hat heute die zweitgrößte Armee innerhalb der NATO. Das Kriegsmaterial kommt fast ausschließlich aus den USA und Europa. Jetzt braucht Erdogan keine neuen Waffen mehr. Die kurdischen Milizen, die von den USA überzeugt worden waren, ihre schweren Waffen abzugeben, sind gegen türkische Artillerie, Panzer und Kampfflugzeuge ohnehin völlig chancenlos.
Selbst schuld
Die Verantwortung für die Tatenlosigkeit der EU liegt nicht nur in Brüssel, sondern auch den nationalen Hauptstädten der Union. Wenn ständig Zwietracht gesät wird, um zu verhindern, dass Europa mit einer Stimme sprechen kann, braucht man sich nicht zu wundern, dass es am Ende vor einem zweitklassigen Möchtegern-Diktator kuschen muss.
(tw)
Titelbild: DELIL SOULEIMAN / AFP / picturedesk.com
Themenkreis Syrien
Thomas Walach kommentiert