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Corona und die Entzauberung der Nationalisten – Kommentar

Kommentar

Aufgrund all der nationalen Alleingänge scheint es, dass EU-Gegner und Nationalisten im Angesicht der Pandemie-Bekämpfung bestätigt werden. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich exakt das Gegenteil. Plädoyer für eine grenzüberschreitende Solidarität.

Wien, 18. März 2020 / Die Corona-Krise offenbart viel Überraschendes. Eine österreichische Regierung, die kurz zuvor taumelnd in eine Krise angesichts der Flüchtlingspolitik zu stürzen drohte, hält jetzt immerhin gut zusammen. Die Bevölkerung sowieso. Eine italienische Gesellschaft, die vor einigen Wochen noch den rechten Spalter Salvini wegen seiner Rücksichtslosigkeit feierte, lässt diesen nun links liegen. Die Italiener singen und halten in dieser schwierigen Zeit zusammen, über alle Balkone und Nationalitäten hinweg.

Völlig überfordert

Ausgerechnet diejenigen, die immer den kompromisslosen Führer geben, lassen gerade jetzt Führungskompetenz vermissen. Die spätmittelalterlich anmutende „Kur“, die Briten-Trump Boris Johnson mit der bizarren Herdenimmunität anstrebte, hatte eher was von Schamanentum und so gut wie nichts mit seriöser Krisenpolitik zu tun. Nun rudert der blonde Engel zurück. US-Präsident Donald Trump leugnete das Virus erst vehement, bevor er es als feindlichen Angriff Chinas dämonisierte. Jetzt will er natürlich der große Heiler sein und immer schon die beste aller Strategien gehabt haben. Die USA haben viel Zeit verloren, weshalb seine anfängliche Untätigkeit den Amerikanern schon bald nur so um die Ohren fliegen wird. Doch „die andere Seite“ ist nicht viel besser: die chinesische Führung, welche Kritiker am Vorgehen insbesondere in Wuhan einfach wegsperrt, gibt der USA die Schuld. Das Regime behauptet allen Ernstes, nicht Foodmärkte in Wuhan, sondern das US-Militär hätte das Virus ins Land getragen. In Brasilien sitzt ein grinsender Virus- und Klimaleugner, der offensichtlich völlig überfordert von der Pandemie ist und in all seiner Konfusion das 210 Millionen Einwohner zählende Land zur Corona-Drehscheibe machen könnte.

Covid-19 kennt keine Grenzen

Ob die osteuropäischen Staaten mit ihrer Abschottungspolitik weit kommen, ist mehr als fraglich. Zu abhängig ist man von europäischen und globalen Lieferketten, das zeigt sich jetzt mehr denn je. Der deutsch-polnische Grenzverkehr platzt, jedenfalls was die LKW betrifft, aus allen Nähten. Wenn das deutsche Forschungsunternehmen CureVac tatsächlich einen Impfstoff entwickelt, bringt es nichts, diesen zu nationalisieren. Das Virus hat keinen Pass, es macht keinen Halt an der Grenze. Eine weltweite Seuche greift die Existenz eines jeden an, ob prominent, unbekannt, rechts, links, arm oder reich. Dass die Europäische Union als Krisenlöser jetzt versagt, ist kein Wunder. Das aber ist kein Argument für mehr Nationalstaat, sondern im Gegenteil eines für mehr Zusammenarbeit. Denn wer ist „die EU“?

Die EU sind nicht unbekannte Bürokraten in Brüssel, sondern Nationalstaaten und ihre Regierungen. Wenn jetzt ausgerechnet Sebastian Kurz, der zwar in der Krise über weite Strecken einen durchaus soliden Eindruck macht, die Unfähigkeit der europäischen Politik kritisiert, hat das einen schwer ironischen Beigeschmack. Hätten wir auf europäischer Ebene schon vor Wochen gleichermaßen konsequent Maßnahmen umgesetzt, wären weniger Menschen gestorben. Stattdessen gibt es nun wieder einmal einen Flickenteppich an nationalen Alleingängen, inklusive undurchdachter Grenzschließungen, die die Einreise dringend notwendiger Pflegekräfte aus dem europäischen Ausland erschwert.

Die Chance der Vernunft

Das Beispiel der eine Million Atemschutzmasken, die Deutschland an Italien liefert, zeigt wie es anders gehen kann. Aber auch auf gesellschaftlicher Ebene gibt es eine transnationale Solidarität. Auch wenn das Singen auf den Balkonen den Österreichern zugegeben etwas schwerer fällt, beeindruckend ist das allemal, was in Italien vorgelebt wird. Die Weltbevölkerung solidarisiert sich derweil auch via Internet. Für die Politik ist das jetzt die einmalige Chance, Vernunft vor Eigeninteressen zu stellen. Die österreichische Regierung macht ihren Job, bis auf wenige Ausnahmen, gut. Doch Sebastian Kurz muss sich irgendwann entscheiden: will er weiterhin die professionelle Krisenkommunikation durch Seitenhiebe auf andere Staaten untergraben, oder setzt er auf durchweg seriöse Krisenpolitik? Beides zusammen wird nur bedingt funktionieren.

Belehrungen an die Adresse europäischer Partner sind fehl am Platze, lieber sollte man sich überlegen, wie man die Zusammenarbeit in Europa konkret verbessern könnte. Diese Pandemie wird ja morgen nicht vorbei sein. Nicht in Italien, nicht in Österreich, nicht in den USA. Wir sollten uns auch die Frage stellen, was die Ursachen der sozialen Krise infolge der Gesundheitskrise sind. Das Aushungern des Gesundheitssystems, das Sparen an gesellschaftlichen Schaltstellen aufgrund neoliberaler Ideologie, all das fliegt uns um die Ohren. Das muss aber nicht sein. Spanien macht es mit der Verstaatlichung des Gesundheitswesens vor, andere sollten nachziehen. Die Krise ist die Chance für richtiges Handeln über Grenzen hinweg. Nutzen wir sie. Sonst schlägt bald wieder die Stunde der Untoten im Weißen Haus, in Rio oder sonst wo.

Benjamin Weiser

Titelbild: APA Picturedesk

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