Freitag, April 19, 2024

Das Ischgl-Virus. Der Alpenballermann hat ein Problem

Der Alpenballermann hat ein Problem
Dossier

Coronadrehscheibe Ischgl – Das Tourismusgebiet Paznauntal gerät nun zum zweiten Mal innerhalb von 20 Jahren in die internationalen Negativschlagzeilen. Am 23. Februar 1999 kam es zum größten Lawinenunglück in der Geschichte der Republik Österreich. 38 Menschen starben. Nun könnten es wegen des Coronavirus noch mehr werden. Hat die Region ein strukturelles Problem?

Wien, 18. März 2020 / Nach der Lawinenkatastrophe von Galtür wurde die Frage nach der juristischen Verantwortung laut. Die Staatsanwaltschaft in Innsbruck sah sich mit dem Hinweis auf eine Naturkatastrophe („höhere Gewalt“) nicht veranlasst, Ermittlungen aufzunehmen. Sie musste dann dennoch aufgrund verschiedener Anzeigen tätig werden. Den Verantwortlichen, unter ihnen der damalige Landeshauptmann Wendelin Weingartner, wurde die Gefährdung von Menschen aus wirtschaftlichen und politischen Motiven vorgeworfen. Im Februar 2001 wurden alle Verfahren eingestellt.

Keiner übernimmt Verantwortung

Nun ist die Talschaft zum zweiten Mal in den weltweiten Schlagzeilen. Diesmal ist der Auslöser eine Naturkatastrophe der ganz anderen Art. Der „Ballermann der Alpen“ wurde zum Superverteiler des Coronavirus. Die bekannten Opfer kommen aus Island, Dänemark, Norwegn, Schweden und Deutschland. Allein Norwegen zählt 451 Infizierte aus Ischgl. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand. Wieder stellt sich die Frage nach der Verantwortung. Wieder will sie niemand tragen. “Die Behörden haben alles richtig gemacht. ” Tirols Gesundheitslandesrat Bernhar Tilg (ÖVP) schien sich davon selbst durch gebetsmühlenartige Wiederholung überzeugen zu wollen. Geglaubt hat es niemand.

Warnung aus Island bewusst ignoriert?

Obwohl in Island bereits am 5. März sieben Menschen positiv getestet wurden und Ischgl zur Gefahrenzone erklärt wurde, wiegelten die Verantwortlichen ab. Man wollte die Saison wie geplant mit Ostern beenden. Dem Partywochenende stand nichts im Wege. Erst am 08. März wurde ein vermeintlicher Patient Null erkannt. Doch die Seuche dürfte schon mindestens zwei Wochen im Wintersportort gewütet haben. Noch versuchte man den Deckel drauf zu halten und erst am 09. März wurden die Après Ski-Läden geschlossen. Doch noch eine Woche lang ging der Skizirkus weiter. Sogar das Wochenende nahm man noch mit, angeblich, um eine geordnete Rückreise zu ermöglichen. Wirtschaft vor Gesundheit? Minister Rudi Anschober (Grüne) will davon nichts wissen.

Die Fakten zum Tourismusgebiet

Das Paznautal ist eine typische Tiroler Berggegend, die fast ausschließlich vom Tourismus lebt. 70% der gesamten Wertschöpfung werden in dieser Brache erzielt. Das Tal hat rund 6.800 Einwohner, 1.373 Beherbergungsbetriebe bietet seinen Gästen in 22.500 Betten Platz. Fast 2.8 Millionen Nächtigungen wurden 2018 im Paznaun verzeichnet.

Das abgelegene Tal war viele Jahrhunderte vom Inntal aus nicht erreichbar und bergbäuerlich geprägt. Die Menschen mussten ein hartes und karges Leben führen. Das änderte sich erst allmählich, als im ausgehende 19. Jahrhundert die Oberschicht den Alpinismus entdeckte. So richtig ins Geschäft kamen die Paznauner aber erst, als der Pionier und langjährige Bürgermeister von Ischgl Erwin Aloys begann, Seilbahnen zu bauen.

Der große Visionär

Erwin Aloys, Jahrgang 1910, war nicht nur einer der ersten Skilehrer im Ort – Skidoktor wurde er genannt – sondern auch ein großer Visionär. Als Hüttenwirt der Heidelberger Hütte lernte er nicht nur die Silvretta kennen, sondern entwickelte schon früh seinen Traum von einem Winter- und Sommertourimus, der den Menschen im Tal Arbeit und Wohlstand bringen sollte. Nach dem Krieg verdingte er sich zeitweise als Schmuggler für Zigaretten und Zucker aus der Schweiz nach Österreich. Schon damals bewahrten ihn seine skifahrerischen Künste vor dem Zugriff durch die Behörden. Als er einmal doch in die Fänge der “Finanzer” geriet, erklärte er den verdutzen Beamten, dass es Seilbahnen auf die Berger rings herum brauche, damit die einfachen Leute Arbeit hätten und nicht mehr schmuggeln müssten.

Die Seilbahn als Gamechanger

1963 war es dann soweit. Gegen viele Widerstände, vor allem in Tirol und letztlich mit der Unterstützung aus Wien konnte er zusammen mit seinen Mitgesellschaftern der Silvrettabergbahn AG die damals längste Drahtseilbahn Österreichs in Betrieb nehmen. 1972 folgte die erste Einseilumlaufbahn Österreichs und dann ging es Schlag auf Schlag mit dem Ausbau des Skigebietes weiter. Praktisch jedes Jahr kamen Neuerschließungen hinzu. Heute beträgt die Kapazität 93.000 Personen pro Stunde. Das Skifahren auf der Idaple ist längst zur Nebensache geworden. Der ehemalige Hüttenzauber und Einkehrschwung ist dem Phänomen Party-Bum-Bum mit all seinen Auswüchsen fast vollständig gewichen.

Aus dem Bergdorf Ischgl wurde das Hoteldorf Ischgl mit alleine mehr als 1,5 Millionen Nächtigung pro Jahr. Dem stehen gerade einmal 1.617 ganzjährige Bewohner Ischgls entgegen. Vom harten bäuerlichen Leben ist nichts mehr übrig geblieben. Aus Ischgl ist der Ballermann der Alpen geworden.

Maximaler Profit

“Mit den Alpen muss noch viel mehr passieren. Die Alpen sind ein großer Entertainmentpark. Nichts anderes. Wir verkaufen jetzt schon etwas Anderes als Natur pur. Wir leben vom Massentourismus, die Menschen brauchen außergewöhnliche Unterhaltung, da muss weiter daran gearbeitet werden.”

Das sagt Ortskaiser Aloys über das Tourismuskonzept der Region zum Imster Bezirkblatt. Und es funktioniert. Ischgl, das ist seit Jahren auch ein Hotspot für Prominente: Bill Clinton oder Paris Hilton, Lenny Kravitz, die Killers oder Eros Ramazotti – alle waren sie da. Das Ischgler Saisonende hat ein Großevent zu sein. Die Alpen als Entertainmentkulisse. Es gilt, den maximalen Profit herauszuholen.

“Ich denke schon, Ischgl hat sich sehr gut als Marke entwickelt und muss sich dementsprechend treu bleiben. Wir haben unser Image, Entertainment ist unser großes Thema. Auch in Zukunft müssen wir den Effekt ganz extrem ausprägen. Trotzdem sind wir mit Ischgl und der Umwelt gut umgegangen, 95 Prozent sind in Ruhe gelassen worden, der Rest wird aber intensiv genutzt.” 

Der Klimawandel kümmert den Tourismus im Patznauntal wenig:

“Wir haben in Ischgl 1200 Schneekanonen, das interessiert uns nicht. Wir müssen unserer Hausaufgaben machen, für eine perfekte Saison muss man Schnee produzieren. Die Natur darf in unserem Business überhaupt keine Rolle spielen. Wir müssen durch die Technik die Angebote halten. Energie ist genug vorhanden, um die innovativsten Ideen umzusetzen.”

Ohne Politik geht nichts

Doch der selbsternannte Alpenkaiser wäre nichts, hielte nicht die Politik ihre schützende Hand über die Region. Das Land Tirol erwirtschaftet mit seinen Besuchern 4,5 Milliarden Euro jährlich. Nicht umsonst steht die Tiroler Politik stramm auf der Seite der gefeierten Touristiker – und das betrifft nicht nur das Paznaun. 2019 verzeichnete fast 50 Millionen Nächtigungen. 12,5 Millionen Ankünfte, so rechnet der Fachmann. 332.000 Betten stehen den Besuchern zur Verfügung. Nicht umsonst sprechen Kritiker davon, dass Tirol vollständig dem Massentourismus geopfert wurde. Schon heute zählt der Alpenraum 158 Mio. Skifahrer, knapp 50% des Aufkommens weltweit. Doch es scheint immer grenzenlos weiterzugehen. Umweltzerstörerische Projekte wie jenes vom Zusammenschluss der Skigebiete von Pitztal und Ötztal bleiben auf der Tagesordnung .

„Was wäre denn der Bezirk Landeck, wenn wir nicht so großartige Skigebiete hätten wie Ischgl. Wir hätten Probleme, was Jobs betrifft und gerade durch diese Seilbahnunternehmen wie hier in Ischgl, haben wir in Baugewerbe, im Baunebengewerbe Arbeit.“

Dieses Statement stammt von Landeshauptmann Günter Platter anlässlich des Saisonabschlusses 2010/11 auf der Idalp in Ischgl.

Ein kleines Virus macht große Probleme

Und nun holt ihn die Gegenwart ein. Der Tourismus trägt nicht zu 5% der Klimaerwärmung bei, keine Entwicklung zerstört weltweit nachhaltiger und schneller Strukturen und Landschaften. Die Zerstörung der Natur scheint von vielen Touristen toleriert zu werden. Wenn jedoch Reisende selbst betroffen sind, dann gelten andere Maßstäbe. Das weiß auch Günter Platter: nicht umsonst hat er seinen Gesundheitslandesrat Tilg nun nach vorne geschickt, um selbst aus der Schusslinie zu kommen. Doch diesmal liegt der Fall anders als in Galtür vor 20 Jahren. Jetzt geht es nicht mehr nur um höhere Gewalt. Jetzt werfen die internationale Presse und viele erkrankte Ischgl-Urlauber den Verantwortlichen die Gefährdung von Menschen aus wirtschaftlichen und politischen Motiven vor.

Der Preis könnte sehr hoch sein

Tirol wird dafür vermutlich einen sehr hohen Preis bezahlen. Nicht nur, dass die Saison vorzeitig zu Ende ist – die Sturheit, mit der die Warnung der isländischen Behörden in den Wind geschlagen wurde, hat die Marke Tirol nun nachhaltig in den wichtigsten Tourismusmärken Europas beschädigt, völlig egal ob später Gerichte Urteile fällen oder nicht. Der Konsument hat sein Urteil schon gesprochen. 10% weniger Urlauber bedeuten 500 Millionen weniger Wertschöpfung in Tirol. Die heurige Saison auch im Sommer wird wohl gelaufen sein.  Tourismusbetrieb sind häufig unterkapitalisiert, leben vom Cashflow. Es wird wohl zu einem wirtschaftlichen Kahlschlag in machen Tourismushochburgen kommen.

Es gibt auch positive Beispiel abseits von Tirol

Das es auch anders geht, dass Veranstalter ihre Verantwortung gegenüber ihrem Publikum wahrnehmen, das zeigt das Beispiel des abgesagten Radiologenkongress in Wien. 25.000 Teilnehmer hätten kommen sollen. Doch die Verantwortlichen haben sich dafür entschieden, die Veranstaltung gegen den Willen der Politik abzusagen.

Tirol in der Saison danach

Eines ist schon jetzt klar. Nach der Corona-Katastrophe von Ischgl wird Tirol ein anderes Land sein. Ob der Alpenballeramann dem Coronavirus zum Opfer fällt? Ein Umdenken ist angesagt. Das dürfte Günter Platter schon heute dämmern. Die Marke Tirol kann man nicht im Stil von Andreas Hofer, mit Message-Control und Deckel-drauf, quasi mit Mistgabeln und Hacken, verteidigen. Verantwortliches Handeln sieht auf jeden Fall anders aus, ausser die Zielsetzung heißt Profitmaximierung.

(sm)

Titelbild: APA Picturedesk

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