Krisenmodus
Dank Social Distancing haben viele von uns mehr Zeit, nachzudenken. Ich auch. Deshalb gibt es jetzt regelmäßig eine Krisenkolumne. Heute: Kindheit in Zeiten der Pandemie
Wien, 25. März 2020 / Ein kollektives Aufatmen ging über den Globus, als klar wurde: Das Coronavirus ist für Kinder kaum gefährlich. Andernfalls wäre die Krise ganz anders geworden – schärfer, emotionaler, katastrophaler. Es kam anders, und unsere größte Sorge ist nun, was wir mit unseren Kindern tun sollen, wenn wir sie nicht in Schule oder Kindergarten schicken können.
Wie werden unsere Kinder erwachsen?
Wie und wozu wir unsere Kinder erziehen, definiert uns als Gesellschaft. Wir wissen das, aber jetzt, da der Nachwuchs den ganzen Tag bei uns zu Hause ist, fällt es uns erst so richtig auf. Ein guter Moment, darüber nachzudenken, ob wir eigentlich mit der Art und Weise zufrieden sind, wie unsere Kinder erwachsen werden.
Wenn Kinder das erste Mal in die Schule kommen, ist für sie nicht alles, aber schon sehr viel entschieden. Nicht Persönlichkeit, Fleiß und Lernwille, sondern das Engagement und die materiellen Möglichkeiten seiner Eltern sind die wichtigsten Faktoren für die Bildungskarriere eines Kindes.
Mit individueller Leistung hat das ebenso wenig zu tun, wie mit sozialistischem Solidaritätsdenken. In den Bildungskarrieren unserer Kinder bildet sich ein Grundproblem unserer Gesellschaft ab: Österreich ist ein Land der Erben. Das betrifft nicht nur die Frage, ob wir einmal ein Haus und Aktien erben, sondern auch das soziale, kulturelle und das Bildungskapital.
Die Kosten der Kindheit
Apropos Individualität: Die wird von unseren Schulen nicht eben gefördert. Das ist kein Fehler im System, sondern ein eingebautes und bis zu einem gewissen Grad notwendiges Element; it’s a feature, not a bug.
Ein Pressefoto aus dem Jahr 1986 trägt eine vielsagende Bildunterschrift: “Für tausende Mädchen und Buben hat am 01.09.1986 mit dem Schulbeginn der “Ernst des Lebens” begonnen. Hand in Hand und mit Schultüten “bewaffnet” scheint das schwere Los der Taferlklasserl leichter zu ertragen zu sein.” Bild: APA-Picturedesk
Schulen, wie wir sie heute kennen, entstanden in der westlichen Welt, als Staaten sich zentral organisierten. Damit das funktionieren konnte, musste der Staat die Beherrschung grundlegender Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Rechnen – bei möglichst vielen seiner Untertanen voraussetzen können. Ein gemeinsam verfügbarer Vorrat an Wissen über den Staat und die Welt schufen außerdem die Voraussetzungen dafür, dass so viele Menschen gemeinsam wirken konnten. Den Untertanenstaat haben wir inzwischen abgeschafft, die Untertanenschule aber nicht. Das Bildungssystem ist nicht kaputt. Es tut genau, wofür es eingerichtet wurde. Nur brauchen wir das gar nicht mehr.
Vom Standpunkt der Politischen Ökonomie aus betrachtet, sind Kinder eine Investition. Sie sind die zukünftigen Arbeiter und Konsumenten. Jetzt aber kosten sie erst einmal Ressourcen. Stellt man eine Kosten-Nutzen-Rechnung an, kommt man schnell zu dem Schluss: Kinder zu erziehen, ist gesamtgesellschaftlich betrachtet eine Frage der Effizienz. Es geht nicht darum, das Beste für jedes einzelne Kind zu bieten, denn das kostet zu viel Zeit und Geld pro künftigem Erwachsenen. Die Krise könnte uns helfen, diese Verwertungslogik zu durchbrechen. Wie?
Lernen lernen
Vor 20 Jahren startete der indische Bildungswissenschaftler und Informatiker Sugatra Mitra ein Experiment: In einem Slum in Neu-Delhi installierte er in einer Mauer einen Computer mit Internetzugang. Die Kinder des Slums entdeckten den Rechner und brachten sich selbst bei, ihn zu bedienen. Sobald sie verstanden hatten, wie das WWW funktioniert, begannen sie, sich je nach individuellem Interesse in verschiedensten Wissensgebieten weiterzubilden.
Der “Hole in the Wall-Computer”. Bild: upcycleeducation.com
Kinder eignen sich die Welt an, ohne dass Erwachsene sie dazu drängen müssen. Das ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Die Schule des 21. Jahrhunderts sollte Kinder beim Erfahren der Welt unterstützen. Stattdessen ist sie Schule damit beschäftigt, Kinder zu disziplinieren und zu sozialisieren. Lehrerinnen und Lehrer beklagen seit Jahren, dass ihr Alltag hauptsächlich aus Erziehung statt aus Bildung besteht. Doch auf einmal ist alles anders.
Staatsversagen als Ansporn
Von Behörden und Ministerium in der Krise allein gelassen, beginnen Lehrer und ihre Schüler, digitale Kompetenzen zu nutzen und zu improvisieren. Auf einmal entstehen Freiheiten, die es im regulären Schulbetrieb nicht gibt. Die zentrale Bildungsbürokratie ist überfordert, also lässt sie die Zügel los. Die rigiden Vorschriften der Zentralmatura können problemlos gebogen werden, wie es scheint. Es ist eine Form von Staatsversagen, aber eine, die uns zeigt, wie es künftig besser geht. Alle scheinen bemüht, jedem Einzelnen das Bestmögliche zu bieten. Vieles, was sich jetzt entwickelt, sollten wir beibehalten.
Kinder sind Bürger der Gegenwart
Die Erziehung nach der Krise muss sich zur Aufgabe machen, Kinder als Individuen und nicht als gleichzumachende Abweichungen zu verstehen. Das sollten sich gerade jene hinter die Ohren schreiben, die glauben, durch Nivellierung soziale Gerechtigkeit erzielen zu können, denn: „Menschen passen in kein Modell“ (Gregor Gysi), „das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen“ (Karl Marx).
Mit Laissez-faire hat das nichts zu tun. Die Sorge um unsere Kinder und damit um unsere Gesellschaft zeigt sich auch darin, dass wir Kinder zu Erwachsenen mit klarem moralischem Kompass und sozial verträglichem Verhalten erziehen. Wir dürfen dabei bloß nicht vergessen: Kinder sind keine Bewohner der Zukunft, wie wir Erwachsene mit der Frage „Was willst du einmal werden?“ gerne unterstellen. Kinder sind Bewohner derselben Gegenwart wie wir; unsere Kinder sind nicht erst künftig Bürger und Individuen, sondern schon jetzt.
Thomas Walach
Titelbild: APA Picturedesk
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Seit 1. April diesen Jahres läuft die 9-monatige Überleitungsperiode der Kassenfusion. Unter dem Motto „Aus 21 mach 5“ soll bis 1.1.2020 eine tiefgreifende Umgestaltung in der Landschaft der österreichischen Sozialversicherungsträger vorgenommen werden. Diese stellt sich bei genauer Betrachtung als Machtverschiebungsaktion zu Lasten der ArbeitnehmerInnen heraus.
Wien 24.06.2019 / Obwohl in der neuen Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) kein einziger Selbstständiger versichert ist, erhält die Arbeitgeberseite in den Gremien der ÖGK 50% der Mandate. Da es auch ÖVP-nahe Arbeitnehmervertreter gibt, ist hier eine schwarze Mehrheit gesichert – diese kam vor 2 Wochen erstmals zum Zug, als mit einer knappen Mehrheit die neue 4-köpfige Management-Spitze der neuen ÖGK bestellt wurde: drei ÖVPler und ein SPÖler. Bei der ÖGK werden über 7 Millionen Österreicherinnen und Österreicher versichert sein.
Im neuen Dachverband werden 60% von Arbeitgeberseite besetzt. Beim Dachverband liegen wichtige Kompetenzen: hier kann zum Beispiel die Einführung von Selbstbehalten beschlossen werden. Entscheiden werden darüber künftig die Arbeitgeber.
Rechnungshof äußerte vernichtende Kritik
Die tatsächlichen Kosten der Reform wurden von Regierungsseite bisher nicht veröffentlicht. Der Rechnungshof bezeichnete das Reformvorhaben als intransparentes Spiel mit Zahlen: Die Grundlagen sind nicht nachvollziehbar und zu erwartende Mehrkosten wurden und werden verschwiegen.
Mit der Anrechnung der Fusionskosten ab 1. April 2019 werden die seit Monaten zuvor laufenden Aktivitäten zur Vorbereitung der Fusion getilgt.
(fr)
Titelbild: APA Picturedesk