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Der stille Niedergang der Christlichsozialen – Analyse

Analyse

Seit 2017 ist Sebastian Kurz Kanzler. Doch zu welchem Preis? Während Ex-Parteichef Mitterlehner von Machtergreifung sprach, sah Kurz-Förderer Spindelegger den Wechsel von Schwarz zu Türkis als Rettung der nun „Neuen Volkspartei“. Doch es geht um mehr als um einen Richtungsstreit. Eine Analyse über die Identität einer politischen Strömung, deren Existenz gefährdet ist.

Aktualisiert am 13.04.2020

Wien, 12. April 2020 |

Welche Traditionen sind schützenswert, welche nicht? In Zeiten der Globalisierung ist das eine der wichtigsten Fragen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Eine politische Strömung wie die Christdemokratie, die sich vor allem auch auf das Bewahren von Traditionen beruft, muss im jeweiligen Moment stets erklären können, warum das gut sein soll.

Die große Inhaltsleere der Kurz-Partei

Aktuell gibt es in Europa wohl keine Partei dieser Prägung, die so mächtig und zugleich ideologisch derart verunsichert ist, wie die türkise Kurz-Partei.

Erhard Busek, Ex-Parteichef der alten ÖVP, brachte dies in überaus ehrlicher Weise zum Ausdruck: Parteifreund Sebastian Kurz habe von vielen Dingen einfach keine Ahnung. Inhalte? Fehlanzeige. Wofür er steht, könne der Kanzler laut Parteilöwe Busek nicht beantworten. Er, Sebastian Kurz, so Busek, wisse über dieses Problem Bescheid und hätte schon 12 Sitzungen dazu abgehalten.

Christlichsozialer Kampf gegen eine elitäre Gesellschaft

Die Probleme beginnen schon bei den Begriffen. Was ist Christdemokratie, was ist Konservatismus? Der Konservatismus, wie Liberalismus, Sozialismus oder Nationalismus eine der großen politischen Ideologien, war immer dünner an Ideen und daher auch flexibler als seine Konkurrenten. Seine Flexibilität führte ihn zu Macht und Zuspruch, aber auch zur Ermächtigung des Nationalsozialismus.

Die sogenannte Christdemokratie versuchte deshalb in den Nachkriegsjahren, konservative mit christlichsozialen und liberalen Ideen zu vereinen. Machtpragmatisch war das ein noch größerer Vorteil, auch wenn das Verhältnis der einzelnen Strömungen innerhalb von Parteien wie CDU oder ÖVP immer wieder neu ausgehandelt werden musste. Der christlichsoziale Flügel stand dabei vor allem im Spannungsverhältnis mit den elitären Auswüchsen einer entfesselten Marktwirtschaft der Stärkeren und einem quasi-göttlichen Vorrecht adliger Privilegierter gegenüber Schwächeren.

Die Betonung von Werten wie Solidarität und Gemeinwohl war daher Kern christlichsozialer Politik. Im ÖVP-Parteiprogramm von 2015 steht:

“Der Wert der Solidarität fußt auf dem Wissen um unsere gegenseitige Abhängigkeit als Menschen und findet im christlichen Grundsatz der Nächstenliebe seinen besonderen Ausdruck.”

Bei seinem Papst-Besuch wich Kurz ausnahmsweise von der gewohnten, selbsbewussten Bildsprache ab: statt Welterklärer-Gesten konzentriert sich die Inszenierung hier auf fast schon kindliche Begeisterung. Doch hinter der Fassade steckt nicht viel Christlichsoziales. Foto: APA.

Nehmen statt Geben

Die Wichtigkeit dieser Werte war trotz Bürgerkriegsvergangenheit immer auch verbindendes Element zwischen ÖVP und SPÖ. Die zwei Parteien, die die Republik am meisten prägten, haben jedoch seit der Kurz-Übernahme ein so schlechtes Verhältnis wie lange nicht. Das liegt auch daran, dass die christlichsozialen Werte in der Politik des amtierenden Bundeskanzlers in Wahrheit keine Rolle spielen.

Die türkise Politik ist geprägt von teils abfälliger Rhetorik gegenüber Schwächeren und einer Politik der „Ertüchtigung“. In diesem Wort steckt immer auch eine große Portion Vorwurf sowie Drohung. Einerseits der Vorwurf, zu wenig zu arbeiten, zu spät aufzustehen, zu wenig konform zu sein; andererseits die Drohung, dafür sanktioniert zu werden. Zum Zustand der „Neuen Volkspartei“ hat der ehemalige Generaldirektor der ÖVP-nahen Raiffeisenbank, Christian Konrad, eine klare Meinung:

“Die Frage, die mir öfter gestellt wird: Ist das noch eine christlich-soziale Partei? Ich sehe das nicht so. Es gibt zwar nach Langem wieder einen Kanzler, der in seinem Büro ein Kreuz hängen hat. Die Politik zwingt ihn offenbar dazu, in Fragen der Humanität anders zu sein.”

Damit ist er einer von wenigen ÖVP-Granden, die sich trauen, kritisch über Kurz zu reden. Reinhold Mitterlehner, ebenfalls Ex-Parteichef und von Kurz wenig freundlich „beerbt“, ist auch so einer. Kurz sei zynisch, intrigant und ein „Rechtspopulist“. Unter ihm sei Österreich auf dem Weg zu einer autoritären Demokratie.

Narzissmus und Angst

Nehmen statt Geben steht demnach im Mittelpunkt der Kurz-Politik. Auch abseits der knallharten Flüchtlingspolitik ist seine bisherige Amtszeit geprägt von sozialpolitischen Demütigungen, Kürzungen von Mitteln im Sozialbereich und Zuckerln für Großkonzerne.

Doch hat dies wohl weniger mit konservativ-marktliberalen Überzeugungen zu tun, als mit Gefälligkeiten gegenüber Gönnern – und mit dem Hang zu Narzissmus und Macht. Helmut Brandstätter, Ex-Chef des „Kurier“ und jetziger NEOS-Mandatar, beschreibt dies wenig freundlich in seinem Buch „Kurz & Kickl – ihr Spiel mit Macht und Angst“ so:

„Kurz braucht ein Umfeld, in dem man ihn schätzt und mag. Wenn das nicht der Fall ist, will er dahinterkommen, was denn getan werden könne, um gemocht zu werden. Ich kann es bis heute nicht glauben, wie wichtig es diesem raffinierten und in der Öffentlichkeit stets kontrolliert auftretenden Politiker ist, dass man ‘ihn mag’. Anderen erzählte er, dass er sich schwer damit tut, dass ‘man ihn hasse’ (…) und dass er keine Hemmungen hat, sich einzumischen, wo man ihn lässt. Den Hinweis, dass er ja Journalisten habe, die sehr positiv über ihn schrieben, quittierte er mit einem trockenen: ‘Ja, aber die rufe ich auch an und sage ihnen, es könnte noch besser gehen.'”

Der Preis der Macht

Es scheint, als würden Machtdurst und Narzissmus die Leerstelle füllen, die der Stille Niedergang der christlichsozialen Strömung in der ÖVP hinterlässt. Auch in Deutschland steckt die regierende CDU mitten in einer Identitätskrise. Der deutsche CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn, der gerade wegen der Pandemie dauerpräsent ist und sich für die Nachfolge von Merkel in Stellung bringt, meint: „Mit der Bergpredigt kann man kein Land regieren.“ Das ist wohl richtig. Nur, kann man es ohne Inhalte, ohne Überzeugungen, ohne Kompass? Man kann, Kurz zeigt es ja.

Doch irgendwann wird seine Zeit vorbei sein und dann steht die Volkspartei vor einem Problem: kein Messias, keine Inhalte, keine Grundlagen für verantwortungsvolle Politik. Dass SPÖ und Grüne dies spürbar ausnützen könnten, ist derzeit fraglich. Zu weit nach rechts ist der politische Mainstream mittlerweile gerückt. Die FPÖ ist zäh und wartet derweil wie der kreisende Adler auf seine ahnungslose Beute. Geschichte wiederholt sich nicht, Fehler aber schon.

Benjamin Weiser

Titelbild: APA Picturedesk

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