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New Yorkerin im Interview – Coronakrise im Big Apple

Coronakrise im Big Apple

In absoluten Zahlen haben die USA die weltweit meisten Corona-Toten, New York City ist längst das Epizentrum der Pandemie. Die Stadt, die nie schläft, wirkt wie ins Wachkoma versetzt. Doch wie ist der Corona-Alltag in einer Stadt, deren Bezirke teils größer sind als Wien? ZackZack hat mit der Deutschen Marie-Luise Goldmann gesprochen.

 

New York City/Wien, 16. April 2020 |

Marie-Luise Goldmann (27) lebt seit fünf Jahren in New York City im Stadtteil Brooklyn, wo sie als Stipendiatin der New York University im Fach Deutsche Literatur forscht und lehrt. Weitere Studien- und Forschungsaufenthalte hatte sie in Berlin, München und Zürich. Die Großstadt liegt ihr, doch derzeit findet sie fast nur aus dem Fenster statt.

Foto: Hannah Cohen.

ZackZack: Hallo, Marie! Wie weit ist es zum nächsten Supermarkt? Und: gibt es dort spürbare Engpässe?

Marie-Luise Goldmann: Zum Glück ist bei mir ein großer Supermarkt direkt um die Ecke, der 24 Stunden und sieben Tage die Woche aufhat. Zu ungünstigen Uhrzeiten muss ich mich aber trotzdem anstellen, weil nur eine begrenzte Anzahl von Personen reingelassen wird. Mit Engpässen haben wir dort glücklicherweise fast nicht zu kämpfen… manchmal gibt es für ein paar Wochen kein Klopapier oder keine Seife, aber es kommt immer irgendwann alles wieder nach.

ZZ: In Österreich gibt es ja eine Maskenpflicht in Supermärkten, seit kurzer Zeit gilt diese beispielsweise auch in öffentlichen Verkehrsmitteln. Wie ist die Situation in New York City?

MLG: Eine Maskenpflicht gilt neuerdings für Orte, an denen man nicht den Mindestabstand von 6 Feet (ca. 1,8 Meter, Red.) einhalten kann. Die meisten Leute, die man auf der Straße trifft, tragen aber ohnehin Masken. Viel funktioniert hier, habe ich das Gefühl, auch ohne konkrete Verbote und Pflichten. Auch wenn Treffen mit Freundinnen erlaubt sind, macht es niemand. Vielleicht hat das mit dem instabilen Gesamtzustand der USA, etwa des Gesundheitssystems, zu tun. Wenn innerhalb des Ausnahmezustandes noch eine weitere Ausnahme eintrifft – zum Beispiel ein Autounfall – was macht man dann? Also fährt man lieber kein Auto mehr. Letzens habe ich das selbst erfahren, als ich aus Versehen in all der Panik meine Wohnung verlassen und den Schlüssel drin liegen gelassen habe. Normalerweise ist das kein großes Problem, aber in einem Ausnahmezustand, indem man nicht einmal mehr weiß, ob der Hausmeister oder der Schlüsseldienst noch arbeiten, und auch keine Cafés, geschweige denn Hotels aufhaben, kann einem da schon mulmig werden.

ZZ: Die Fotos vom ausgestorbenen Times Square und den leergefegten Riesenstraßen gehen seit Tagen um die Welt. Kaum vorstellbar, dass die knapp 8,4 Millionen New Yorkerinnen alle immer zuhause sind. Die Parks müssen doch voll sein oder sind die etwa zu?

MLG: Die großen Parks wie der Central Park oder der Prospect Park sind zwar geöffnet, aber für viele, wie auch für mich, nicht zu Fuß zu erreichen. Spiel- und Sportplätze sind überall geschlossen. Es ist wirklich überraschend, wie sehr sich alle an die Ausgangsbeschränkungen halten. Ich selbst verlasse meine Wohnung auch nur noch einmal in der Woche zum Einkaufen und auch nicht öfter für einen kurzen Spaziergang. Die meisten meiner Bekannten machen das hier so, ich kenne niemanden, der sich noch mit Leuten außerhalb der eigenen Wohngemeinschaft trifft. Von Deutschland etwa bekomme ich das ganz anders mit, da treffen sich viele im Park oder besuchen die Familie. Das wäre hier unvorstellbar. Die Straßen sind wirklich komplett ausgestorben. Auf meinen seltenen Spaziergängen passiert es manchmal, dass ich minutenlang keiner einzigen Person begegne, und wenn mir dann doch endlich mal jemand entgegenkommt, grüßt man sich – ein Phänomen, das ich sonst nur aus Kleinstädten kenne.

ZZ: New York City ist ja auch immer eine Stadt der extremen Gegensätze. Wie ist das in Deinem Bezirk, in Brooklyn? Wie ist die Stimmung auf den Straßen, wo sich normalerweise die unterschiedlichsten Leute über den Weg laufen?

MLG: New York war immer schon eine zweigeteilte Stadt, aber durch die Krise haben sich alle sozialen und ökonomischen Ungleichheiten noch einmal verstärkt. Menschen mit systemrelevanten Berufen müssen weiterhin arbeiten gehen, etwa im Supermarkt oder Krankenhaus, und sich zusätzlich jeden Tag in der Subway dem Risiko einer Infektion aussetzen, während andere arbeitslos sind und gar kein Einkommen mehr haben. Viele haben keine Krankenversicherung und wohnen mit der Großfamilie auf wenigen Quadratmetern zusammen. Die privilegierteren New Yorkerinnen und New Yorker dagegen sind schon vor Wochen raus in ihre Ferienhäuser in die Hamptons (Naherholungsgebiet auf der Insel Long Island, Red.) geflohen oder zu ihren Familien aufs Land. Diese radikale Ungleichheit spiegelt sich auch in der Verteilung der Infizierten- und Totenzahlen. Reichere Bezirke in Manhattan sind viel weniger stark von dem Virus betroffen als die Bronx oder Brooklyn. Doch die Trennung verläuft nicht nur entlang der Nachbarschaftsgrenzen, sondern betrifft auch die ethnische Zugehörigkeit. Schwarze und Hispanics weisen nicht nur in New York, sondern in den ganzen USA die größte Sterblichkeitsrate auf. In Bushwick, wo ich wohne, ist eine große Mehrheit hispanic. Viele von ihnen arbeiten in systemrelevanten Berufen, das spiegelt sich dann auch in den Infektionszahlen wider.

Gleichzeitig sind auch innerhalb Bushwicks extreme Gegensätze zu erkennen: die Gentrifizierung des ehemaligen Arbeiterviertels, das mittlerweile zum hippen, alternativen Zentrum geworden ist, macht sich auch jetzt bemerkbar. Zum Beispiel sehe ich jeden Abend von meiner Dachterrasse aus die ganzen anderen jungen Home-Office-Arbeitenden auf ihren Nachbardächern, die Yoga machen oder Bier trinken. Dort oben habe ich in den letzten Wochen so viele Leute getroffen, die seit Jahren im selben Haus wohnen wie ich, und es hat erst diese Krise gebraucht, um sich gegenseitig kennenzulernen. Das sind dann immer die wenigen erfreulichen Momente des Tages, aber diese Dächer-Welt ist natürlich eine Parallelwelt, weil nicht jede so privilegiert ist, einen Rooftop-Zugang zu haben. Diese Oben-Unten-Symbolik zeigt leider auch genau das Problem, den extremen Riss, der sich durch Bezirke wie Brooklyn, aber auch durch New York und die USA insgesamt zieht.

ZZ: Verstörende Bilder von Massengräbern auf einer Insel vor New York City machten auch in europäischen Medien die Runde. Was macht das mit einem, wenn man selbst versucht, den Alltag so gut es geht aufrechtzuerhalten?  

MLG: Es ist beinahe unmöglich, eine Routine zu etablieren, wenn man ununterbrochen die Sirenen der Notärzte hört, die mittlerweile zur vertrauten Geräuschkulisse gehören. Es ging ja auch alles so schnell: Innerhalb von wenigen Tagen musste ich mich auf das Unterrichten per Zoom umstellen, meinen Studierenden wurde von einem Tag auf den anderen mitgeteilt, dass sie möglichst innerhalb von 48 Stunden und spätestens bis zum Wochenende ihre Wohnheimzimmer räumen müssten, unter anderem, damit diese im Ernstfall den Krankenhäusern zur Verfügung gestellt werden könnten.

Viele Studierende sind dann Hals über Kopf zurück in ihre Heimatländer, nach China, Brasilien oder Rumänien geflogen, andere mussten innerhalb kürzester Zeit in New York eine neue Wohnung finden. Das war für die meisten, wie man sich vorstellen kann, psychisch sehr belastend. Jetzt sind alle auf die verschiedensten Kontinente und Zeitzonen verteilt, und auch der Sommer-Unterricht wird online stattfinden, über den Herbst lässt sich noch keine Aussage treffen. Natürlich verändert das die gesamte Universitätserfahrung für die Studierenden und auch für mich. Zum Glück sind die amerikanischen Unis im Umgang mit psychischen Belastungen auf einem ganz anderen Stand, als ich es aus Deutschland kenne, es gibt z.B. viel mehr Beratungsangebote, die auch wahrgenommen werden.

Man darf aber auch nicht vergessen, dass New Yorkerinnen und New Yorker hart im Nehmen und stolz auf ihre Widerstandsfähigkeit sind. Das merkt man auch an dem „Aufnahmetest“, den man bestehen muss, um als echte New Yorkerin zu gelten. Eine der ersten Dinge, die mir erzählt wurden, als ich hier hingezogen bin, war die Regel, dass man mindestens vier Sommer – im August ist es sehr heiß – in der Stadt überstehen müsse, ohne für ein paar Monate in die Hamptons oder nach Europa auszuweichen, um sich New Yorkerin nennen zu dürfen. Diese Barriere scheint sich jetzt verschoben zu haben. Vor kurzem habe ich einen Tweet gesehen, in dem gefragt wird, wo die ganzen Menschen jetzt sind, die sich immer für New Yorker gehalten haben, weil sie zum Beispiel schon mal in der Subway geweint haben. Der Tweet endet mit einem sarkastischen „Have fun in Ohio with your mom“. Das trifft natürlich die Mentalität auf eine witzige Art sehr gut, wo nur dazugehört, wer tough genug ist. Gleichzeitig schwingt eine harsche Kritik an denjenigen Privilegierten mit, die den Virus aus egoistischen Gründen von New York in die Suburbs getragen haben.

ZZ: Kommen wir zur Politik. Aktuell ist es wohl noch leichter als sonst, Donald Trump zu kritisieren. Die Art, wie er mit der Pandemie umgeht, wirkt verstörend. Doch gibt es jemanden, die oder der sich besonders als Gegenpart hervortut?

MLG: Von den meisten meiner New Yorker Bekannten wurde eigentlich ausschließlich Bernie Sanders als ernstzunehmender Gegenpart zu Trump gesehen. Nach dessen Austritt aus dem Wahlkampf vor einer Woche haben einige auf Facebook verkündet, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden nicht zu unterstützen, sondern das Kreuz lieber gar nicht oder bei einer Drittpartei zu setzen. Ansonsten haben in New York Mayor Bill de Blasio (Bürgermeister der demokratischen Partei, Red.) und besonders Gouvernor Andrew M. Cuomo (ebenfalls Demokraten, Red.), der regelmäßig Pressekonferenzen über die neusten Entwicklungen hält, größere Beliebtheit erfahren. Cuomo wird besonders für seine vernünftige, ernste und offene Art der Kommunikation gelobt, die im großen Kontrast zu Trumps Reden steht. Cuomo hat von Anfang an den Ernst der Lage betont, während Trump das Virus noch verharmlost hat.

ZZ: Werden diese Stimmen überhaupt wahrgenommen angesichts der Dauermedienpräsenz des Präsidenten? In Österreich kam die Opposition ganze zwei Mal in den letzten sieben Tagen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu Wort.

MLG: Cuomo hat sich in den letzten Tagen dezidiert gegen Trump gestellt und dessen zur Schau gestellter Entscheidungsallmacht vehement widersprochen. Es wird also viel Hoffnung in ihn und in die Macht gesetzt, die er und andere Gouverneure zum Glück weiterhin haben werden.

ZZ: Gibt es etwas, was Dir Hoffnung macht? Wie hältst Du dich auf Trab? Bei all den negativen Meldungen und den postapokalyptischen Szenarien aus Filmen, die oft auch in Deiner Stadt spielen, kann man ja leicht durchdrehen.

MLG: New York war immer schon Schauplatz der großen Hoffnung, der Ankunft und Verheißung eines neuen Lebens. Gleichzeitig haben sich schon die größten Tragödien und die mit ihnen verbundenen Enttäuschungen vor der Kulisse dieser Stadt abgespielt, denken wir etwa an 9/11 oder Hurricane Sandy.

Allerdings verlangt die gegenwärtige Situation viel mehr Passivität, die Gefahr ist viel unsichtbarer als alles, was wir aus dem Kino kennen. Es gibt keine Affen-Invasion, keine Sintflut, und auch der Kopf der Freiheitsstatue wird nicht dramatisch neben uns einschlagen wie in dem Monsterfilm „Cloverfield“. Die heutige Pandemie hat wenig theatralisches Potential. Dabei wäre es ja schön, wenn man wenigstens sagen könnte, dass die Stadt, die nie schläft, sich nun endlich erholen könne und zur Ruhe komme, aber leider ist das Gegenteil der Fall. Die ständige Alarmbereitschaft und im Stundentakt neu eintreffende Meldungen entziehen den Leuten jede Energie.

Interessanterweise bietet die Novelle – die literarische Gattung, über die ich seit zwei Jahren forsche – ein gutes Beispiel dafür, wie Krisen literarisch produktiv gemacht werden können. Die Novelle hat sich konkret als gemeinschaftsstiftender Ablenkungsversuch etabliert, dessen Funktion das Erzählen gegen die Katastrophe, beispielsweise in Boccaccios „Decamerone“ gegen die Pest, war. Ich bin gespannt auf die Corona-Fiktion der Zukunft.

Was die allgemeinere gesellschaftliche Perspektive angeht, scheint es Hoffnung zu machen, dass wir gegenwärtig sehen können, welches ungeheure Ausmaß an ökonomischen Einbußen wir zu tragen bereit sind, um das moralisch Richtige zu tun. Hoffentlich können wir uns auch angesichts anderer Krisen, die auf uns zukommen werden, allen voran der Klimawandel und die Umweltzerstörung, einschränken und Werte wie Solidarität und Gemeinschaftssinn hochhalten.

ZackZack: Vielen Dank für das Gespräch!

 

Das Gespräch führte Benjamin Weiser

 

Titelbild: ZackZack. Foto: Jonathan Shugarman.

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