Freitag, April 19, 2024

Kleinwalsertal: Wir Medien haben versagt

Kleinwalsertal:

Das Bad in der Menge, das Sebastian Kurz gestern im Kleinwalsertal nahm, zeigt leider auch ein systemisches Medienversagen auf. Die ÖVP baut zum potenziellen PR-Fiasko ihre eigene Realität, unter tatkräftiger Mithilfe der Leitmedien des Landes.

Wien, 14. Mai 2020 | Was wirklich geschah: Obwohl Veranstaltungen mit mehr als 10 Teilnehmern verboten sind, und zu anderen Personen ein Meter Abstand gehalten werden muss, schlenderte Kurz bei seinem Besuch im Kleinwalsertal Schulter an Schulter mit dem Vorarlberger Landeshauptmann durch die jubelnde Menge, machte Selfies, scherzte über die Abstandsregeln und hielt sogar noch eine Rede auf der extra vorbereiteten Bühne.

Sebastian Kurz im Kleinwalsertal from Redaktion-ZackZack on Vimeo.

Die APA stellte die Geschehnisse so dar: „Angesichts einiger Kritik auf Twitter und einer von NEOS angekündigten Anzeige zum Besuch von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Kleinwalsertal hat das Bundeskanzleramt den Appell erneuert, den Sicherheitsabstand einzuhalten. Obwohl man sich in der Organisation im Vorfeld und beim Besuch direkt darum bemüht habe, sei von Bewohnern und Medienvertretern “teilweise der Mindestabstand leider nicht eingehalten” worden.“

Auf orf.at hieß es: Obwohl man sich in der Organisation im Vorfeld und beim Besuch direkt darum bemüht habe, sei von Bewohnern und Medienvertretern „teilweise der Mindestabstand leider nicht eingehalten“ worden.

Und im Ö1-Morgenjournal war zu hören: „Wie das halt so ist, wenn der Bundeskanzler das Land bereist: Die Menschen wollen ihn sehen, und zwar möglichst aus der Nähe. Und wie das halt so ist, wenn viele Menschen dasselbe wollen am selben Ort, dann funktioniert das mit den vom Bundeskanzler propagierten Abstandsregeln alles mehr schlecht als recht.“

Die großen Tagszeitungen – Krone, Presse, Kurier, oe24 und Standard – übernahmen teilweise die APA-Meldung. Sie alle illustrierten ihre Artikel mit diesem “Servicebild” direkt aus dem Kanzleramt:

Bild: APA-Picturedesk, Dragan Tatic

Liebe Kolleg*innen, wir haben ein ernstes Problem. Es heißt Scheinobjektivität.

Bis vor nicht allzu langer Zeit galt im Journalismus das Prinzip der Neutralität. Alle Sichtweisen auf ein bestimmtes Ereignis sollten gleichermaßen dargestellt werden. Journalisten sollten nicht beurteilen, welche plausibler sei, sondern nur berichten: A sagt dieses, B sagt jenes. In den USA nennt man diese Form des Journalismus „he said-she said-Journalism“.

Seit Jahrzehnten wird diese Praxis von Medienwissenschaftlern wie Noam Chomsky, Jay Rosen oder Ivor Gaber als nur scheinbare Objektivität kritisiert. Warum? Weil dadurch Unwahrheiten und Lügen dieselbe Bedeutung bekommen wie Fakten.

Fakten oder Neutralität? Beides geht nicht immer

Ziel des Journalismus ist Faktenfindung. Schon in den 90er Jahren strich deshalb die älteste und wichtigste Journalistenvereinigung der USA, die Society of Professional Journalists, das Prinzip der „Objektivität“ aus ihrem Ethikcode. Objektivität im Journalismus ist nicht mit den Prinzipien wahrheitsgemäßer Berichterstattung und faktengetreuer Information vereinbar.

Wichtige Zeitungen wie die NYT oder die Washington Post gingen nach der Wahl Donald Trumps davon ab, die Lügen des Präsidenten neutral darzustellen. Ihnen war klar geworden, dass man Unwahrheiten als solche bezeichnen muss, wenn man über Fakten informieren will, anstatt Spins aus der Parteizentralen zu verbreiten.

Scheinobjektivität als falsches Qualitätsmerkmal

Am österreichischen Journalismus ist diese Entwicklung bisher spurlos vorüber gegangen. Hier gilt Scheinobjektivität immer noch Qualitätsmerkmal. In Zeiten, wo alleine das Kanzleramt mehr Medienmitarbeiter beschäftigt als eine durchschnittliche Zeitungsredaktion, geht das nicht an. Wenn ein Kanzlersprecher sagt, der Menschenauflauf im Kleinwalsertal wäre nicht geplant gewesen, obwohl für Kurz eine Bühne aufgebaut wurde, dann lügt dieser Sprecher.

Indem wir Journalisten im Bemühen um Objektivität diese Lüge wiederholen, ohne sich als solche zu bezeichnen, tragen wir nichts zur Wahrheitsfindung bei. Im Gegenteil – wir verschleiern die Fakten. Das ist nicht ethisch. Das ist auch kein guter Journalismus.

Statt neutral zu sein, sollten wir berichten, was wir für wahr halten, weil wir es nach bestem Wissen und Gewissen geprüft haben. Wir bei ZackZack finden, dass es der Wahrheit gelegentlich guttut, die Fakten rhetorisch zuzuspitzen, Lügen auch durch Polemik zu entlarven. Diese Stilmittel sind nicht für jeden etwas. Aber das Grundprinzip dahinter sollte es sein. Wir Journalisten sind den Fakten verpflichtet, nicht der Neutralität.

Thomas Walach

Titelbild: APA-Picturedesk

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