Freitag, April 19, 2024

Nach Brandrede: Philip Kucher (SPÖ) im großen ZackZack-Interview – “Ein Wahnsinn, was Kurz und Blümel da aufgeführt haben”

“Ein Wahnsinn, was Kurz und Blümel da aufgeführt haben”

Der SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher hat mit seiner Brandrede über die ÖVP-Champagnerpartys das Netz begeistert. ZackZack hat mit dem Abgeordneten gesprochen. Ein Interview über Blümels Krisenmanagement, drei überforderte Hobby-Epidemiologen und was er an Kurz so richtig schäbig findet.

Wien, 28. Mai 2020|

ZackZack: Seit zweieinhalb Monaten sind nun die Maßnahmen gegen das Coronavirus in unterschiedlicher Intensität in Kraft. Man sieht bei Ihnen: Sie sind ein Mensch, der immer im direkten Kontakt mit den Leuten ist. Wie ist diese Zeit für Sie als Politiker?

Philip Kucher: Ich habe versucht trotzdem den Kontakt mit den Leuten zu behalten mittels Videokonferenzen, Telefonaten und E-Mails. Mir war es wichtig, weiterhin das „G’spür“ zu behalten für die Stimmungen und Sorgen der Menschen, zu wissen, wie es ihnen wirklich geht. Die Coronakrise war so ein Beispiel, was die Entscheidungen im Parlament im Leben der Leute auslösen können. Bundespolitik ist nicht etwas, das weit weg ist, da geht es um das tägliche Leben von den Menschen. Um das konkret zu machen: Wenn du Schicksale hörst von Leuten und du merkst es ist der Bundesregierung egal. Wenn dir Künstler erzählen, dass es Familienväter gibt, die sich von ihren eigenen Eltern Geld ausborgen müssen, weil sie nicht mal mehr Geld für Lebensmittel für ihre Kinder haben. Ältere Menschen, die in Pflegeheimen einfach weggesperrt werden, oder wenn es Leute gibt, die tagelang auf ein Testergebnis warten müssen und dich am Sonntag verzweifelt anrufen: ‘Ich weiß seit elf Tagen nicht, ob ich positiv oder negativ bin’. Das sind dann Schicksale von Menschen, wo du einfach merkst: Alles, was wir hier im Parlament diskutieren, hat direkte Auswirkungen auf die Menschen.

ZackZack: Hat sich diese Gesundheitskrise mittlerweile in eine soziale Krise verwandelt?

Philip Kucher: Also wenn man sich die Zahlen anschaut und merkt, dass zwei Millionen Menschen in der Luft hängen und nicht wissen, wie es weitergeht, dann ist das eine ganz schwierige soziale Situation für die Menschen. Viele Maßnahmen wurden teilweise zu spät getroffen. Kollege Matznetter hat den Vergleich gebracht: “Das ist wie mit einer Blume: wenn man sie regelmäßig gießt, kann sie wachsen – wenn die Blume bereits vertrocknet ist, dann bringt es nichts mehr, im Nachhinein zu gießen”.

Ich finde es einen Wahnsinn, was Kurz und Blümel aufgeführt haben. Man redet von Milliardenbeträgen und sagt ‘Geld spielt keine Rolle’. Aber in Wahrheit kommt bei den Leuten, die wirklich verzweifelt sind, nichts an. Es ist zu spät, es ist zu wenig, es ist zu bürokratisch. Wenn die Wirtschaftskammer und der Wirtschaftsbund jemals wieder von Bürokratie sprechen sollten, nehmen die sich in der Frage selbst nicht mehr ernst.

ZackZack: Jetzt sind Sie kein Abgeordneter, der sich ein Blatt vor den Mund nimmt. Bei ihren Reden im Nationalrat kann es auch manchmal sehr emotional werden, etwa bei Ihrer ÖVP-Champagnerparty-Rede. Sind Sie die Antithese zu den NLP-gecoachten ÖVP-Ministern?

Philip Kucher: Wir können im Parlament noch stundenlang über Themen diskutieren und philosophieren – wenn in der Lebensrealität beim Menschen etwas anderes ankommt, wenn es Probleme gibt, wenn kein Verständnis da ist von der Politik, dann sind das Parallelwelten, die kann man in der Politik nicht wollen. Blümel und Kurz können hunderttausend Mal versprechen, wie super ihr Krisenmanagement ist. Wenn du jeden Tag Menschen am Telefon hast oder Leute, die dir verzweifelt schreiben, dann weißt du, dass es anders ist, und du die Stimme für diese Leute bist. Das gibt auch Kraft, denn du kämpfst für Leute, die es wirklich gibt.

Kuchers Brandrede über ÖVP-Champagnerpartys zum Nachsehen

ZackZack: Sie sind Vizepräsident der österreichisch-italienischen Gesellschaft. Lässt der Vorschlag von Sebastian Kurz und seiner „geizigen Vier” Italien im Stich?

Philip Kucher: Ich bin Kärntner, mit Italien verbindet mich sehr viel: es gibt familiäre, persönliche bzw. freundschaftliche Bande nach Italien. Da geht es nicht nur um einen der größten Handelspartner Österreichs, sondern wirklich um Mitmenschen, die es in der Coronakrise dramatisch getroffen hat. Die Frage ist, lassen wir unseren Nachbarn jetzt im Stich oder helfen wir unserem Nachbarn.

Was ich so schäbig finde: Sebastian Kurz weiß ja selbst, dass sein Vorschlag europaweit nichts bringen würde, dass uns das nicht einen Schritt weiterbringt in der Bewältigung der Krise. Er macht das deswegen, weil er ein Ablenkungsmanöver für sein Abenteuer im Kleinwalsertal braucht.

ZackZack: Kommen wir nach Österreich: Die Zahlen in Österreich sind momentan vergleichsweise gut. Jedoch sieht die ÖVP in Wien einen neuen Corona-Hotspot. Ist das ernste Sorge der ÖVP um Wien oder schon Wien-Wahlkampf?

Philip Kucher: Ich glaube das ist reiner Wien-Wahlkampf! Ich finde es schlimm, dass Karl Nehammer bis jetzt zu feige ist, mit Gesundheitsstadtrat Hacker ein persönliches Gespräch zu führen. Wir haben derzeit andere Sorgen. Ich finde es schade, dass sich Karl Nehammer da so instrumentalisiert. Es hat jahrelang Wolfgang Sobotka diese Rolle als Innenminister übernehmen müssen. Das ist das alte System von Sebastian Kurz! Kurz hat Sobotka damals gebeten, von der Regierung aus Druck zu machen und Unfrieden zu stiften in der Regierung, um den Boden aufzubereiten für Sebastian Kurz. Jetzt geht das Spiel mit Karl Nehammer in Wien wieder los. In Summe ist das durchschaubar.

ZackZack: Kommen wir zu etwas, wo die ÖVP sich deutlich ruhiger verhält und Sie gemeinsam mit SPÖ-Tirol-Chef Georg Dornauer zu den lautesten Stimmen gehören. Haben die Behörden dort „alles richtig gemacht“?

Philip Kucher: Die Aufklärung ist kein Selbstzweck, das ist eine Verantwortung gegenüber Menschen, die schwer erkrankt oder verstorben sind. Wir müssen alles dafür tun, dass sich die Causa Ischgl nie wieder wiederholen wird. Warum haben die so ordentlich gepfuscht? Was hat dazu geführt? War da einigen das Geld wichtiger als Menschenleben? Da sind diese drei völlig überforderten Hobby-Epidemiologen: Platter, Tilg und Hörl.

Warum Kurz und Anschober zugeschaut haben? Das werden wir auch noch aufklären müssen. Ich kann nicht drei völlig überforderte Personen herumpfuschen lassen und auf gut Glück hoffen, dass alles in Ordnung ist.

Spannend war am Beginn, dass Kurz und Platter sich ausgerichtet haben, welche Super-Krisenmanager sie nicht sind – und je mehr man dann gemerkt hat, dass da einiges nicht in Ordnung ist, hat man begonnen, das Thema von sich  wegzuschieben: Kaum gibt’s Gegenwind, schiebt man das Thema von sich weg. Das ist Sebastian Kurz, wie er leibt und lebt: Immer wenn’s brenzlig wird, ist er nicht verantwortlich und zu feig, dass er sich selbst entschuldigt.

“War da einigen das Geld wichtiger als Menschenleben? Da sind diese drei völlig überforderten Hobby-Epidemiologen: Platter, Tilg und Hörl.”

ZackZack: Wir stehen bei nun fast 90 Pressekonferenzen der Regierung seit Corona-Beginn. Sie haben des Öfteren kritisiert, dass keine Experten bei Pressekonferenzen teilgenommen haben. Was halten Sie von den Regierungspressekonferenzen?

Philip Kucher: Am Anfang hat Sebastian Kurz gesagt – anders als Deutschland etwa – man braucht keine Experten. Da ist Sebastian Kurz der Chef-Epidemiologe Österreichs gewesen. Das macht alles Sebastian Kurz selbst und erklärt Österreich die Welt. Man muss auch sagen, da hat er Weltklasse-PR gemacht. Was man dann gemerkt hat: sobald es Probleme gab, ist er auf Tauchstation gegangen. Ich erinnere mich an den Bereich der Risikopatienten. Da ist er vor die Kameras getreten und hat eine Lösung versprochen. Peinlich genug, dass Menschen dann wochenlang verunsichert waren und Angehörige von Risikopatienten bis heute keine Lösung haben. Immer, wenn es haarig geworden ist, da hat sich Sebastian Kurz versteckt, dann war nur mehr der Minister Anschober verantwortlich.

ZackZack: Heißes Thema ist derzeit die Budgetdebatte. Finanzminister Blümel legte kein aktuelles Budget vor. In Deutschland gibt es das hingegen. Wieso schafft das Blümel nicht?

Philip Kucher: Bei Blümel merkt man – und das finde ich ja fast tragisch – dass er in dieser Situation schwerstens überfordert ist. Es tut mir selbst weh, ich würde mir auch in dieser Krise wünschen, dass wir einen Finanzminister hätten, der den Laden im Griff hat. Er ist sicherlich nicht der Steuermann aus dem Finanzbereich in dieser Krisensituation, den wir brauchen würden.

Es gibt so viele kleine Unternehmen aus unterschiedlichsten Bereichen, die nicht wissen, wie es weiter geht. Jetzt bräuchten wir einen Finanzminister, der den großen Versprechungen „Wir lassen niemanden zurück“ auch Taten folgen lässt. Aber es gibt jetzt weder für den Bereich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, noch für kleine Unternehmen Perspektiven. In diesem Teil des Krisenmanagements sind Kurz und Blümel bisher leider völlig gescheitert.

ZackZack: Nachdem die Opposition anfangs die Regierungsmaßnahmen unterstützt hat, wird die Kritik immer lauter. Was ist ihr größter Kritikpunkt am Vorgehen der Regierung?

Philip Kucher: Mein größter Kritikpunkt ist, dass man die eigene PR irgendwann geglaubt hat, und davon ausgegangen ist, dass man wirklich so Weltklasse ist, wie man sich inszeniert hat. Dass man selbst gesagt hat, wir brauchen keine Berater mehr, die uns unterstützen, wir sind selbst die Super-Experten quer durch alle Bereiche: Allen voran Chef-Virologe Sebastian Kurz, der ohne Experten alles selbst in die Hand nahm.

“Mein größter Kritikpunkt ist, dass man die eigene PR irgendwann geglaubt hat, und davon ausgegangen ist, dass man wirklich so Weltklasse ist, wie man sich inszeniert hat.”

Dann hat es unterschiedlichste Expertenbeiräte gegeben: Im Gesundheitsministerium, im Innenministerium, im Bundeskanzleramt, und dann hat man begonnen, die Menschen zu belügen! Ich erinnere nur, da sind ja auch Dokumente aufgetaucht, wo es geheißen hat, dass Sebastian Kurz gesagt hat, man muss den Menschen einreden, dass die eigene Oma, Opa oder Eltern vielleicht sterben werden. Das sind Dinge, die sich irgendwann rächen. Wenn die Politik beginnt, die Unwahrheit zu sagen, wenn man ganz bewusst mit Ängsten spielt, gerät man irgendwann an einen Punkt, wo die Bevölkerung nicht mehr weiß: sagen sie jetzt die Wahrheit, sagen sie nicht die Wahrheit, ist das wieder nur eine Überspitzung? Das kostet natürlich ganz stark an Vertrauen.

ZackZack: Hätte die Regierung nicht auf den Faktor Angst setzen sollen, um ihre Maßnahmen durchzusetzen?

Philip Kucher: Die schwarze Pädagogik funktioniert in der Kindererziehung nicht, und ich glaube auch nicht im Umgang mit Erwachsenen und der Bevölkerung. Alle Experten bestätigen jetzt auch, dass man in Krisensituationen offen und ehrlich kommunizieren muss.

Ein zweiter Kritikpunkt ist die wirtschaftliche Unterstützung, da passiert wirklich wenig. Ich glaube, dass Sebastian Kurz und seine JVP-Truppe die Lebenswelten dieser Menschen einfach nicht verstehen. Die wissen nicht, was es heißt, wenn die Menschen plötzlich keinen Job mehr haben. Es ist eben nicht so, wenn jemand arbeitslos wird, dass die alle ihre Wertpapierfonds auf der Bank haben, oder Sparbuch oder Einkünfte aus Immobilien. Anders kann man das auch nicht erklären, dass man Sekt und Champagner billiger machen muss. Das zeigt, wie weit sie weg sind. Sie wissen und spüren gar nicht, dass Österreich dann stark ist, wenn es allen Menschen gut geht.

ZackZack: In den Vertrauensumfragen fällt Sebastian Kurz dramatisch. Wieso kann das die SPÖ bis jetzt nicht ausnützen? In den Umfragen legt man kaum zu.

Philip Kucher: Ich tue mir schwer, jetzt parteitaktisch zu denken. Ich bin überzeugt, wenn wir unseren Job als SPÖ richtig machen und in der Opposition Stimme sind für die Menschen, denen es jetzt nicht gut geht, zahlt sich das aus. Wir kämpfen dafür, dass die breite Masse der Bevölkerung jetzt nicht Schaden trägt und dass wir gemeinsam aus dieser Krise herauskommen und niemanden zurücklassen. Wenn wir das ordentlich machen, dann wird das Vertrauen der Bevölkerung zurückkommen. Wenn wir jetzt anfangen, parteitaktisch zu diskutieren, werden wir sicher nicht vom Fleck kommen.

ZackZack: Vielen Dank für das Gespräch!

Philip Kucher (38) ist SPÖ-Gesundheitssprecher und seit 2013 im Nationalrat vertreten. Der Klagenfurter war zuvor Bereichssprecher für Digitalisierung, Forschung und Innovation. Kucher ist zudem stellvertretender Klubobmann der SPÖ.

Das Gespräch führte Benedikt Faast.

Titelbild: Martin Pichler

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