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Ausgangssperre abgeblasen – Serbien protestiert gegen „Diktatur“

Ausgangssperre abgeblasen

Auf den Straßen Serbiens ist ein offener Aufstand ausgebrochen. Den Menschen geht es dabei nicht vordergründig um die Corona-Ausgangssperre. Sie schreien im ganzen Land: „Nieder mit der Diktatur.“

Wien/Belgrad, 09. Juli 2020 | Zweite unruhige Nacht in Folge in Serbien: Tausende Menschen waren in der Hauptstadt Belgrad auf der Straße, es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei. Skandiert wurde „Nieder mit der Diktatur.“ In Novi Sad stellen die Demonstranten bereits Forderungen.

Vucic unter Druck

Serbiens rechtsnationaler Präsident Aleksandar Vucic, der noch vor knapp drei Wochen einen haushohen Sieg bei den Parlamentswahlen eingefahren hatte, hob die angekündigte Ausgangssperre mittlerweile wieder auf. Er behauptet, die Proteste seien „von Extremisten und ausländischen Geheimdiensten organisiert“. Vucic droht mit der Staatsgewalt. Noch vor der zweiten Protestnacht kündigte er „schnelle Prozesse“ für die Festgenommenen an.

Es gehe den Protestierenden „nicht um Corona“ sagte Präsident. Da hat der autoritäre Präsident – der in den 90er Jahren zu den Kriegstreibern zählte, aber auf europäischer Ebene mittlerweile als Parteifreund von Sebastian Kurz gilt – wohl sogar Recht.

Bewegung undurchsichtig

Das letzte nicht regierungstreue Nachrichtenportal „N1“ berichtete via Livestream die ganze Nacht. Auch gewaltsame Übergriffe auf Journalisten wurden dokumentiert. „N1“ berichtete zudem über eine Attacke auf einen Medienvertreter, auf den am Boden liegend mit Schlagstöcken weiter eingeprügelt wurde. Der Mann liegt aktuell im Krankenhaus.

“Die Revolution wird nicht im TV übertragen”, hieß es vor Jahren. In Serbien überträgt ein Sender die aktuellen Unruhen. Andere hatten gestern im Hauptabendprogamm: Fußball oder Hollywood-Klassiker.

Die Menschen sind aufgebracht. Mehrere Beobachter sprechen derzeit von einem Gerangel um Deutungshoheit innerhalb der neuen Protestbewegung. Das ganze politische Spektrum sei vertreten. Hooligantruppen und Rechtsextreme lieferten sich mit der Polizei Auseinandersetzungen. Linke Gruppen sprechen von Gewaltinszenierungen vonseiten der rechten Demonstranten, um dem Staat die Legitimation für Gewalteinsatz zu geben. Auch Büroräume der Vucic-Partei SNS wurden in mehreren Städten angegriffen – bislang ist nicht bekannt, wer dahinter steckt.

Der Politikwissenschaftler Dragan Popovic aus Belgrad kommentierte auf „N1“: „Wir erleben den Zusammenbruch der staatlichen Institutionen.“

Revolte

Den Menschen ging es, so sehen es viele Beobachter, nie um die Ausgangssperre. Ihnen gehe es vor allem um die korrupte Regierung sowie das völlig gescheiterte Seuchen-Management von Vucic. So fordern Teile der zersplitterten serbischen Opposition den Rücktritt des Corona-Krisenstabs. Stattdessen sollen Experten wie der bekannte Epidemiologe Zoran Radovanovic, den Stab leiten. Man wolle einen „entpolitisierten Krisenstab“, sagte Janko Veselinovic, Oppositioneller der Kleinpartei Pokreta za preokret („Bewegung für Veränderung“).

 

Aber auch Gruppen und Parteien, die die kürzlich geschlagene Wahl aufgrund von Manipulationsvorwürfen boykottierten, sind auf der Straße zu finden. Sie stehen links bzw. links der (spärlich vorhandenen) Mitte. Berichtet wird unterdessen auch von Festnahmen linker Aktivisten in Novi Sad. Dort wurde der Rücktritt von Vucic, aber auch vom Polizeipräsidenten gefordert.

Ausgangssperre zurückgenommen

Die Pläne für eine neue Ausgangssperre, die ab Freitag hätte gelten sollen, sind vorerst eingefroren. Laut Vucic solle aber nächste Woche erneut darüber nachgedacht werden. Die Ausgangssperre in Serbien orientiert sich am „chinesischen Modell“. Personen über 65 Jahren ist auch das Einkaufen untersagt, sie werden in Haus und Wohnung eingesperrt.

Derweil fehlt es in den Spitälern am Nötigsten: einfache Hygieneartikel wie Bettwäsche oder medizinisches Personal. Schutzausrüstung ist ohnehin kaum vorhanden, in manchen Städten sind viele Ärzte infiziert.

(ot)

 

Titelbild: APA Picturedesk

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