Der VfGH gab heute bekannt, dass einige Corona-Maßnahmen der Regierung verfassungswidrig waren. Zwei Punkte stechen hierbei besonders hervor: das Betretungsverbot für öffentliche Orte und das für Geschäfte über 400 m² Verkaufsfläche. Opposition und Verfassungsexperten üben erneut Kritik.
Wien, 22. Juli 2020 | Lange wurden sie angezweifelt, jetzt wurde es bestätigt: Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) gab heute bekannt, dass einige Corona-Maßnahmen der Regierung verfassungswidrig waren und über das Ziel hinausschossen. So sei das Betretungsverbot an öffentlichen Orten und in Geschäften mit einem Verkaufsbereich von über 400 m² nicht verfassungskonform. Der VfGH kommt auf seiner Website zum Schluss:
- Das Betretungsverbot für Geschäfte mit einem Kundenbereich von mehr als 400 m² war gesetzwidrig.
- Teilweise gesetzwidrig war auch die Verordnung über das Betretungsverbot für öffentliche Orte.
Von Anfang an wurde dies von Experten und Verfassungsjuristen kritisiert. Einer davon ist Heinz Mayer, emeritierter Professor und Ex-Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Wien. Gegenüber zackzack betont er:
„Die Entscheidung des VfGH ist klar nachzuvollziehen und war vorauszusehen. Das generelle Betretungsverbot war gesetzlich nicht gedeckt und eine klare Verletzung des Gesetzes.“
Ausgangsverbot illegal
Eine der am stärksten kritisierten Verordnungen war das Betretungsverbot von öffentlichen Orten. Ein solches “allgemeines Verbot mit Erlaubnisvorbehalt” sei vom Covid-19-Gesetz nicht gedeckt, hieß es schon früh, so auch jetzt vonseiten des VfGH in seiner Erkenntnis. Denn dieses biete keine Grundlage dafür, dass Menschen “dazu verhalten werden können, an einem bestimmten Ort, insbesondere auch in ihrer Wohnung, zu verbleiben”.
Die einzige zulässige Ausnahme waren die regionalen Bewegungseinschränkungen für genau umschriebene Orte oder regional begrenzte Gebiete (wie Gemeinden). Die Verfassungsrichter haben keine Bedenken gegen den §2 des Covid-19-Gesetzes. Dieser sieht vor, dass per Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden kann, “soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist” – und Ausnahmen unter bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen vorgesehen werden können.
Opposition jubelt, Kogler verteidigt
Jörg Leichtfried (SPÖ) kritisiert das Husch-Pfusch-Gesetzgebung und fordert mehr rechtliche Prüfung:
„Die Aufhebung der zentralen Verordnungen im Zusammenhang mit den Corona-Beschränkungen durch den Verfassungsgerichtshof zeigt leider den schlampigen Umgang der Regierung mit dem Rechtsstaat.“
Auch die NEOS fühlen sich in ihrer Kritik der Corona-Verordnungen bestätigt. Niki Scherak sagt:
„Was jeder Jus-Student im ersten Semester seit Monaten wusste, haben wir jetzt endlich schwarz auf weiß: Diese Regierung hat über Monate bewusst gesetzeswidrig gehandelt.“
Von Regierungsseite war bisher wenig zu hören. Anfragen an ÖVP und Grüne blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Lediglich Vizekanzler Werner Kogler verteidigt die Coronagesetze. Die Juristen der Regierung hätten “alles nach bestem Wissen und Gewissen umgesetzt, es musste alles in kurzer Zeit geschehen”, sagte er am Mittwoch am Rande einer Pressekonferenz.
„Die Folgen der VfGH-Urteile könnten die Republik teuer zu stehen kommen“,
warnt auch Norbert Hofer von der FPÖ. All jene Inhaber von Geschäften mit einer Verkaufsfläche von 400 Quadratmetern könnten den Spruch der Höchstrichter zum Anlass nehmen, die Republik auf Schadenersatz zu klagen, sagt der FPÖ-Parteichef.
Kein Schadenersatz für Unternehmer
Dem widerspricht der Verfassungsjurist Heinz Mayer. Hier gehe es laut ihm um eine andere Entscheidung. Der VfGH hob die Verordnung deswegen auf, weil nicht direkt gegen die Gesetzeslage verstoßen wurde, sondern deshalb, weil das Ministerium die vorliegenden gesetzlichen Grundlagen nicht ausreichend geprüft und dokumentiert hat, so Mayer. Daher werde eine Klage kaum erfolgreich sein.
Wie viele Strafen auf Basis der nunmehr aufgehobenen Ausgehverordnungsteile verhängt wurden, ist nicht bekannt. In einer Anfragebeantwortung vom Juli berichtete Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) von 35.000 Anzeigen zwischen 16. März und 17. Juni. Viele Betroffene haben Einspruch eingelegt – und noch laufenden Verfahren dürfen die aufgehobenen Bestimmungen nicht mehr angewandt werden.
Zwei Landesverwaltungsgerichte, jene in Wien und Niederösterreich, hatten bereits festgestellt, dass Strafen für den Verstoß gegen die Corona-Ausgangsbeschränkungen unzulässig – weil gesetzlich nicht gedeckt – waren. Das Land Niederösterreich zahlt deshalb alle für Privatbesuche während des Lockdowns verhängten Strafen zurück. Das Wiener Verwaltungsgericht ersuchte den VfGH in einem Normprüfungsantrag, die Verordnung für rechtswidrig zu erklären. Dieser Antrag stand allerdings in dieser Session des VfGH noch nicht auf der Tagesordnung. Die Opposition hat geschlossen eine österreichweite Generalamnestie für alle Bestraften verlangt, die Regierung lehnte dies bisher ab.
(mp/apa)
Titelbild: APA Picturedesk