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Ärztekammer: “Telefonische Krankmeldung muss bleiben” – 50 Prozent weniger Krankmeldungen als im Vorjahr

50 Prozent weniger Krankmeldungen als im Vorjahr

Masken im Supermarkt, aber keine telefonsichen Krankmeldungen mehr. „Auf Druck der Wirtschaft“ (Wiener Zeitung) soll die telefonische Krankschreibung ab 1. September abgeschafft werden. Wirtschaftliche Gründe würden fehlen, so Ärztekammer und die Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Die Krankmeldungszahlen der ÖGK geben der Kritik Recht.

Wien, 23. Juli 2020 | Die Versicherten der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), der SVS (Selbstständige und Bauern) sowie der BVAEB (Versicherungsanstalt öffentlicher Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau) sollen ab 1. September wieder persönlich zum Hausarzt, um sich krankschreiben zu lassen. Das sorgt für Entsetzen bei der Ärztekammer und der Gesellschaft für Allgemeinmedizin: sie fordern eine Fortführung der Möglichkeit, sich krankschreiben zu lassen, ohne persönlich in der Ordination vorstellig zu werden. Es gäbe keine wirtschaftlichen Gründe für die Abschaffung – auch die Zahlen von Krankmeldungen geben ihnen recht: zackzack hat recherchiert, 2020 gab es um über 50 Prozent weniger Krankmeldungen während des Shutdowns im als 2019 im selben Zeitraum 2019.

Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres bezeichnete das Vorhaben der ÖGK als „unverantwortlich“: Er warnte vor einer zusätzlichen Ansteckungsgefahr, wenn wieder mehr Patienten in die Ordinationen kämen. Auch Vizepräsident Johannes Steinhart mahnt, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist:

„Wir müssen weiterhin die Patientinnen und Patienten sowie die Angestellten in unseren Ordinationen mit allen Mitteln schützen – gerade ab September beginnt die entscheidende Phase, die uns möglicherweise eine zweite Welle bringen wird.“

KW12 bis KW28: 2020 erfolgten 806.268 Krankmeldungen weniger als 2019

Zackzack hat von der ÖGK die aktuellen Zahlen zu Krankmeldungen erfahren. Wir haben sie in einer Grafik veranschaulicht. 2020 erfolgten von Kalenderwoche 12 (Der Woche, in der der Lockdown kam) bis Kalenderwoche 28 insgesamt 904.977 Krankmeldungen. Das sind um 806.268 Krankmeldungen weniger als im selben Zeitraum 2019 – oder fast 53 Prozent weniger:

Die Krankmeldungen bei der Österreichischen Gesundheitskassa von Kalenderwoche 12 bis 28 im Jahr 2019 und 2020 im Vergleich. Grafik: zackzack. Quelle: ÖGK

Auch ÄK-Vizepräsident Steinhart sagt, dass wirtschaftliche Gründe für die Abschaffung der telefonischen Krankmeldung fehlen:

„Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass die telefonische Krankschreibung keineswegs zu mehr Krankschreibungen geführt hat.“

Bis zu 70 Prozent weniger Krankmeldungen 2020

Die Krankmeldungs-Zahlen aus der ÖGK nach Kalenderwochen verglichen ergeben folgendes Bild:

Die Krankmeldungen bei der Österreichischen Gesundheitskassa von Kalenderwoche 12 bis 28 im Jahr 2019 und 2020. Grafik: zackzack. Quelle: ÖGK

In der Kalenderwoche 12, der Woche des Shutdowns, kam es zu einem kleinen Anstieg an Arbeitsunfähigkeitsmeldungen von 9,1 Prozent. In den restlichen 16 Wochen erfolgten wesentlich weniger Krankmeldungen als im Vergleichszeitraum 2019, in KW 15 kann der höchste Veränderungswert zum Vorjahr vor mit einer Differenz von 68,9 Prozent (statt 107.627 erfolgten nur 33.476 Krankschreibungen) festgestellt werden.

Die starke Reduktion der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen führt die ÖGK auf den Ausfall von planbaren Operationen, Kurzarbeit, steigende Arbeitslosigkeit, Home-Office und Betreuungsfreistellungen sowie Dienstfreistellungen für Risikogruppen zurück.

Kontakt „manchmal sogar schädlich“

Auch die Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (ÖGAM) läuft gegen die geplante Abschaffung der Möglichkeit zur Krankmeldung ohne Ordinationsbesuch Sturm. In einer Aussendung  stellt ÖGAM-Präsident Christoph Dachs klar, dass die Maßnahme aus medizinischer Sicht nicht begründbar sei. Außerdem sind auch telemedizinische Kontakte persönliche Kontakte, selbst wenn sie nicht physisch stattfinden.

„Wer krank ist, braucht den Arzt, direkt und persönlich. Mit oder ohne Pandemie. Alles andere ist inakzeptabel. Der physische Kontakt ist dagegen nicht immer nötig, und manchmal sogar schädlich.“

Auch der Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin in der Österreichischen Ärztekammer, Edgar Wutscher, findet, dass „jede Maßnahme, die verhindert, dass infizierte Menschen in die Ordinationen kommen“, genutzt werden müsse – insbesondere jene, die sich bereits ausgezeichnet bewährt hätten. Denn

 „die Infektionslage ist noch viel zu unübersichtlich, um schon jetzt Aussagen über die Situation in sechs Wochen zu treffen.“

Steinhart und Wutscher appellierten in ihrer Aussendung daher an die ÖGK, mit der Österreichischen Ärztekammer in den Dialog zu treten, „damit wir im Herbst die sichersten und geeignetsten Bedingungen sowohl für Patientinnen und Patienten, als auch für Ärztinnen und Ärzte haben“.

Telemedizin für Selbstständige, Bauern, Beamte, Eisenbahner und Bergbau

Während die Versicherten von SVS, ÖGK und BVAEB nun beim Arzt vorstellig werden müssen, um sich krankschreiben zu lassen, wird von SVS und BVAEB die Telemedizin ausgebaut. Beratungsgespräche mit dem Hausarzt sollen demnach auch ohne Aufsuchen der Ordination möglich sein. Den über sieben Millionen ÖGK-Versicherten bleibt dies vorerst verwehrt. Wie verhindert werden kann, dass mittels Telemedizin für SVS- und BVAEB-Versicherte nicht auch Krankschreibungen erfolgen – diese Frage bleibt gegenüber zackzack bisher unbeantwortet.

Hinsichtlich Krankmeldung für alle ohne Ordinationsbesuch gäbe es laut den Krankenversicherungsträgern die Möglichkeit, dass die telefonische Krankmeldung befristet wieder eingeführt werden kann, sollten sich die Zahlen der mit dem Coronavirus Infizierten wieder deutlich erhöhen. Wo genau die Grenze liegt, ab der diese deutliche Erhöhung festgestellt wird, bleibt ungewiss. Bis dahin müssen die Patienten wieder in die Ordination, denn für eine Krankmeldung sei eine ärztliche Untersuchung nötig. Laut ÖGK sei es im Regelfall “wichtig, dass die Krankmeldung persönlich erfolgt, da der Arzt bzw. die Ärztin besser einschätzen kann, ob und für wie lange jemand krankgeschrieben werden soll.”

Europa: Krankmeldung ohne Arztbesuch in vielen Ländern schon vor Corona möglich

Die ÖGAM veröffentlichte mit ihrer Aussendung auch einen Tabellen-Vergleich von insgesamt 16 Ländern, fast alle davon in Europa. Daraus geht hervor, dass in einigen Ländern (Dänemark, Niederlande, Polen, Portugal) bereits vor Corona kein Präsenzkontakt mit dem krankschreibenden Arzt notwendig war. Seit Corona haben Deutschland, Estland, Lettland, Litauen, Mazedonien, die Slowakei oder Slowenien die Krankmeldung ohne Präsenzkontakt eingeführt. Noch mehr Infos und Länder im Vergleich finden Sie hier:

Nach rechts weiterklicken für Ansicht aller Tabellen. Quelle: Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin

(lb)

Update 24. Juli 2020, 10:30 Uhr: Der Artikel wurde um die Stellungnahme der ÖGK ergänzt. 

Titelbild: APA Picturedesk

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