Freitag, März 29, 2024

“A bisserl einen Schmäh muss man schon haben” – Wiener Bildungsstadtrat im ZackZack-Interview

Wiener Bildungsstadtrat im ZackZack-Interview

„Wien ist leiwand.“ Der Wiener Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ) hat sich mit ZackZack über das Ergebnis der Wien-Wahl, die Herausforderungen in der Bildungspolitik und über den ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel unterhalten.

Wien, 13. Oktober 2020 | Das Interview wurde vor der Wien-Wahl geführt und nachträglich um zwei Fragen ergänzt.

ZackZack: Herr Czernohorszky, die Wien-Wahl ist geschlagen, mit dem zu erwartenden Erfolg. Welche Koalition können Sie sich vorstellen, welche wünschen Sie sich?

Jürgen Czernohorszky: Da ist grundsätzlich vieles vorstellbar. Jetzt wird in den Sondierungsgesprächen vor allem zu klären sein, mit welcher Partei die Schnittmengen am größten sind.

ZZ: Würden Sie sich bereit erklären, im Falle einer Koalition mit den NEOS den Bildungsstadtrats-Posten zu räumen?

JC: Mit Gratis-Ganztagsschulen, einem großen Neubau-Programm mit Campus-Standorten und einer topmodernen zentralen Berufsschule, und einem zweiten Paket an Schulsanierungen haben wir in Wien Meilensteine gesetzt, die österreichweit einzigartig sind. Für diese Bildungspolitik wurden wir als Wiener SPÖ auch gewählt.

ZZ: Sie sind der erste Politiker der Wiener Stadtregierung, auf dessen Facebook-Profil ich eine Emailadresse gefunden habe. Lesen Sie Ihre Mails selbst?

JC: Ja. Wir kommunizieren auf allen Social Media-Kanälen nicht nur in eine Richtung – und meiner Meinung nach sind die auch genau dazu da: Etwas zu hören, Feedback zu kriegen. Ob es Facebook, Instagram oder TikTok ist: Wir bekommen sehr viele Rückmeldungen, auch Fragen und Kritik. Das ist im Grunde genommen das, worauf es auch ankommt in der Politik: Wenn man die Welt besser machen will, geht das kaum von einer Helikopter-Perspektive aus, man muss wissen, was es real an Herausforderungen, Problemen und Kritikpunkten gibt. Die hört man am besten, wenn man selbst ein offenes Ohr hat.

ZZ: Sie haben im Wien-Wahlkampf ein ÖVP-Blümel-Video persifliert. Die Message könnte man als „Türkis kann Wien einfach nicht“ lesen.

JC: Es gibt eine Grundbedingung für mich, um in Wien Politik zu machen. Und die ist, dass man Wien mögen muss – und die Wienerinnen und Wiener. Die Liebe dieser Stadt gegenüber und das Verständnis, was in dieser Stadt jeden Tag geschafft wird, und was diese Stadt ausmacht, vermisse ich bei der Bundeskanzlerpartei.

Was das Video betrifft: Ich finde, das hat der Finanzminister ganz allein geschafft, dass sich das Internet über ihn lustig gemacht hat. Ich hab‘ die Gelegenheit genutzt, die Botschaft zu bringen, um die es mir eigentlich geht – nämlich, dass Wien wunderbar ist.

ZZ: Eine ÖVP-Politikerin kritisierte Sie: Sie würden den ÖVP-Wahlkampf verunglimpfen.

JC: Naja, a bisserl einen Schmäh muss man schon haben.

ZZ: Bleiben wir gleich bei Blümel. Der bekannte Schriftsteller Robert Menasse hat zu Blümels Wahlkampf klare Worte gefunden, ZackZack hat sie veröffentlicht. Mit der ÖVP wäre Wien heute nicht die lebenswerteste Stadt der Welt, so Menasse. Blümels „idiotische Löschaktion“, wie Sie auf Twitter schreiben, hat Ihnen die Sprache verschlagen?

JC: Eine Grundtugend eines Politikers oder einer Politikerin ist Kritikfähigkeit. Auf der einen Seite die Fähigkeit, Kritik zu üben an Umständen, die nicht in Ordnung sind in unserer Gesellschaft, aber schon auch die Fähigkeit, mit Kritik umzugehen, die man erntet. Wenn man selbst so schlecht mit Kritik umgehen kann, dass einem nichts anderes einfällt, als sie einfach zu löschen, dann ist das meiner Meinung nach ein Armutszeugnis für jemanden, der Politik machen will, geschweige denn behauptet, Wien in irgendeiner Form nach vorne zu bringen. Wer mit Kritik nicht umgehen kann, kann nicht einmal sich selbst nach vorne bringen.

ZZ: Die Wiener lieben Wien – und verbinden damit auch die SPÖ, wie die Wien-Wahl am Sonntag erneut bestätigte. Im Vergleich zur Wahl 2015 gab es ein Plus von mindestens zwei bis drei Prozentpunkten. Gemeinhin gilt: Wer will, dass Wien so bleibt wie es ist, wählt rot. Wie beschreiben Sie Wien?

JC: Die kürzere Antwort: Wien ist leiwand. Die längere: Das hat sehr viel damit zu tun, dass wir in dieser Stadt versuchen, es gemeinsam anzugehen. Dass wir nicht in Kauf nehmen – und das seit Jahrzehnten – dass diese Stadt zerfällt. Dass wir versuchen, dem Anspruch gerecht zu werden, Wien zu einem guten Ort zum Leben für alle Wienerinnen und Wiener zu machen.

Das ist natürlich der schwerere Weg – weil das bedeutet, dass es konkrete Maßnahmen gibt für leistbares Wohnen in einer Stadt, die wächst, und in der sich viele Leute keine Eigentumswohnung leisten können. Es braucht konkrete Investitionen in eine Bildungslandschaft, die ermöglicht, dass Kinder gefördert werden, wo das das Elternhaus nicht mitbringt – das tun wir gerade ganz aktuell mit der Ganztagsschule an 70 Standorten.

Kurz gesagt, es geht immer darum, das Leben besser zu machen und mehr Möglichkeiten zu schaffen für Menschen, die das nicht in die Wiege gelegt bekommen. Das macht Wien aus – und Wien macht sicherlich auch aus, dass wir uns mit Schmäh, Witz und Granteln und vor allem mit viel Kreativität und Arbeit an Herausforderungen machen.

ZZ: Das Wahlergebnis gibt der SPÖ die Bestätigung: Weiter so. Aber nicht alles in Wien ist leiwand. Insbesondere in Ihrer Zuständigkeit als Bildungs-Stadtrat liegen die Schulen für sechs- bis 14-Jährige. Eine Bestandsaufnahme?

JC: Ich bin mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die die Möglichkeiten von österreichischen oder in Wien lebenden Kindern ungleich verteilen, unzufrieden.

Bildungspolitik kann man aus zwei Gründen machen: wenn man findet, dass Bildung eine Gunst ist, die dem Kind gewährt wird, das sich wohlverhält oder aus dem richtigen Elternhaus kommt, ist es entscheidend, die richtigen auszulesen und ihnen Chancen zu geben. Wenn man aber wie ich findet, dass Bildung etwas ist, auf das alle Kinder das gleiche Recht haben, dann bedeutet das, dass man irrsinnig viel Arbeit und Hirnschmalz hineinstecken muss, Kinder und Jugendliche besonders zu fördern, die diese Unterstützung nicht von zu Hause mitbekommen haben.

Hand aufs Herz – da ist irrsinnig viel Luft nach oben in einem Land wie Österreich, wo Bildung nach wie vor vererbt wird. Wir bemühen uns mit allem, was wir tun, genau diesen Gap im Blick zu haben. Zehn Jahre nach dem Gratis-Kindergarten die Gratis-Ganztagsschule zu schaffen und sie so auszubauen, dass jedes Kind den Zugang dazu hat, ist ein Meilenstein. Auch gratis Nachhilfe haben wir in den letzten Jahren auf- und ausgebaut.

Meine Meinung ist, dass es besser wäre – so wie vieles in Österreich, aber vor allem in der Bildungspolitik – wenn es gelänge, die Partnerinnen und Partner für diese Vorhaben auch auf Bundesebene zu finden. Suchen tu‘ ich sie, bis jetzt ist es nicht gelungen. Im Gegenteil: es ist leider gerade dort, wo es um besondere Förderung geht, in den letzten Jahren irrsinnig viel abgebaut worden. Ich möchte ein Beispiel bringen: Im Schuljahr 16/17 gab’s für Wien 364 Pädagoginnen und Pädagogen für die Sprachförderung. Im jetzigen Stellenplan des Bundes sind es 135. Das ist ein Drittel: Anstatt dass man gemeinsam Anstrengungen unternimmt, um den Missstand der Bildungsvererbung zu durchbrechen, gibt es eine Blockadehaltung auf Bundesebene. Das finde ich schade.

ZZ: Lehrer beklagen, dass Personalstellen gekürzt werden – ein Beispiel: Eine Wiener Schule hat 2,5 Lehrstellen weniger als im Vorjahr, während die Klassen ohnehin aus allen Nähten platzen. Die Wiener SPÖ setzt auf hunderte „neue Bildungsräume“, die gebaut werden. Wenn ich es zugespitzt formuliere: Quantität statt Qualität?

JC: Ich teile die Kritik an der Ressourcenknappheit für Großstadtschulen, nur ist der Adressat der falsche. Es gibt durch den Bund eine Ressourcenzuteilung für die Länder auf Basis des Finanzausgleichs. Da gibt es einen strukturellen Fehler in der Zuteilung, der dazu führt, dass Großstadtschulen in der Zuteilung schlechter gestellt werden. Das Gegenteil müsste der Fall sein, denn dort sind die Herausforderungen größer. Diese Kritik üben Expertinnen und Experten seit Jahren: Es ist widersinnig, dass nicht die Kenngröße dafür, wie viele Lehrerinnen und Lehrer, wie viel Förderpersonal, wie viel Ressourcen an einem Standort die Herausforderungen am Standort sind, sondern ein Schüler-Lehrer-Schlüssel, der vom Bund vorgegeben wird.

Die Stadt Wien muss mit den Ressourcen, die vom Bund zur Verfügung gestellt werden, haushalten. Aber davon gibt es zu wenig. Das hat aber nichts mit unseren Schulbauten zu tun. Unsere Aufgabe als Gemeinde ist, Schulraum zu schaffen für die Kinder, die in der Gemeinde leben.

ZZ: Finanzausgleich schön und gut, aber wo man Mittel einsetzt, ist immer noch eine politische Entscheidung…

JC: Es sind Lehrer und Lehrerinnen, Pädagoginnen und Pädagogen, die vom Bund zur Verfügung gestellt werden – die werden verteilt. Der Schlüssel, den wir in Wien anwenden, ist der gleiche wie in den letzten Jahren. Schlicht und einfach, weil man auf Grund des Mangels in den Großstadtschulen nicht aus dem Vollen schöpfen kann. Was wir in Wien gemacht haben ist, dass wir zusätzlich als Stadt Pädagognnen und Pädagogen aufgestellt haben – wie wir es bei der Förderung 2.0 getan haben, mit 200 zusätzlichen.

ZZ: Bleiben wir bei den Jugendlichen. Sie sind nicht nur für Bildung, sondern auch für Jugend in Wien zuständig. Sie sind Jahrgang 1977 und mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Sie schreiben in einem Posting auf Instagram, dass Sie Ihren Werdegang nicht nur der Geduld und Liebe Ihrer Mutter, sondern auch dem politischen Willen unter Kreisky damals verdanken. Wie geht es Kindern und Jugendlichen unter dem derzeitigen politischen Willen, was hat sich seit Kreisky Ihrer Meinung nach verändert?

JC: Ich als Kind einer alleinerziehenden Mutter, die Springerin in einem Kindergarten war, habe Chancen vorgefunden. Die Tatsache, dass ich hier sitze, lernen und studieren konnte, hat weniger mit meinem Hirn zu tun, sondern mehr mit meinen Chancen und Möglichkeiten, die ich vorgefunden habe. Und die sind das Ergebnis politischer Entscheidungen. Kreisky hat mit der Gratis-Schulbuchaktion, mit der Abschaffung der Studiengebühren und vielen anderen Dingen dazu einen klaren politischen Willen umgesetzt. Und der Wille war, Kindern wie mir Möglichkeiten zu geben.

Ich bezweifle, dass der jetzige Bundeskanzler den gleichen politischen Willen hat. Und das ist zugleich meine Sorge, weil die Kinder, die jetzt in Österreich aufwachsen, in Wien in den Kindergarten gehen, da ist die Frage, ob sie alle Möglichkeiten im Leben vorfinden, ist abhängig vom politischen Willen der Entscheidungsträger. Eine Verknappung von Studienplätzen, eine Verstärkung von Auslese in den Volksschulen, eine Verunmöglichung vom Ausbau von Ganztagsschulen österreichweit, alles das sind Maßnahmen auf Bundesebene, die tendenziell Möglichkeiten kleiner machen, als sie zu geben. Das ist meine Sorge, und auch mein Kritikpunkt. Zugleich ist es genau das, wofür es fortschrittliche Politik braucht – um das zu ändern, und ich sehe es als meine Aufgabe, dazu beizutragen.

Meine Aufgabe sehe ich außerdem darin, dass wir den massiven Ausbau der Ganztagsschulen auf den Boden bringen: Das sind zehn Standorte pro Jahr. Natürlich geht’s mir auch ganz besonders um die Unterstützung der Pädagoginnen und Pädagogen, und ich wünsche mir, dass wir von Wien aus mehr erreichen und vielleicht auch den Schulterschluss, der das eine oder andere Mal in Zusammenhang mit Corona geschafft haben, auch für die Unterstützung von Pädagoginnen und Pädagogen hinkriegen.

ZZ: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Larissa Breitenegger

Fotos: ZackZack/MP

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