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Pilz am Sonntag – Corona-Kurz: Der geblendete Blender

Corona-Kurz: Der geblendete Blender

Sebastian Kurz freute sich aufrichtig, als er Licht am Ende des Corona-Tunnels sah. Die Gefahr, so Kurz, sei fast vorbei. Als er Wochen später feststellte, dass es sich um die Scheinwerfer des entgegenkommenden Corona-Expresses handelte, war es längst zu spät. Jetzt rächt sich, dass Kurz von Statistiken ebenso wenig versteht wie von Tunnel.

 

Peter Pilz

Wien, 01. November 2020 | Angela Merkel erkennt sofort, wenn eine Gefahr für PH, für Public Health, ins Exponentielle wächst. Sebastian Kurz erkennt sofort, wenn eine Neuigkeit eine PR-Chance bietet. Beide gehören in ihren Spezialgebieten zur europäischen Spitze: Merkel für PH, Kurz für PR. Mit einem halben Jahr Verspätung stellen manche Medien jetzt erstaunt fest, dass das Corona-Virus gegen Propaganda immun ist.

Jetzt ist etwas passiert, was im türkisen Drehbuch nicht vorgesehen war: Die Regierung hat erstmals die Kontrolle über die Epidemie verloren. Die Zahlen explodieren, die ersten Dämme brechen.

Solange sie erfolgreich sind, pfeifen Politiker wie Kurz auf alle anderen. Wenn es für sie eng wird, rufen sie zum nationalen Schulterschluss. Der sieht dann so aus: Eine COVID-Verordnung wird vorbereitet. Zur Unterstützung dieses Prozesses gibt das COVID-Quartett eine Pressekonferenz. Dort kündigt es eine weitere Pressekonferenz, auf der die Verordnung vorgestellt werden soll, an. Bis dahin soll verhandelt werden.

Nachdem die Verhandlungen mit einer Boulevardzeitung abgeschlossen sind, präsentiert diese den Verordnungsentwurf exklusiv. Dem Gesundheitsminister blieb am Samstag beim nächsten Quartett-Auftritt nur noch das Aufwärmen seines eigenen Papiers.

Schlag auf Schlag

Der Damm, der eine Seuche aufhalten kann, besteht aus Menschen, die sich gemeinsam an Regeln halten. Voraussetzung dazu ist eine ebenso verständliche wie verlässliche Politik, an der sich alle orientieren können. Verlässliche Politik in Zeiten größter Unsicherheit ist immer „evidenzbasiert“. Sie beruht auf Tatsachen, auf belastbaren Zahlen, für die Werte festgelegt werden, ab denen es zu bestimmten Maßnahmen kommt. Jeder weiß, was an Einschränkungen passiert, wenn die Selbsteinschränkung versagt.

Das schafft Klarheit und Sicherheit. Jeder weiß nicht nur, was zu tun ist, sondern auch, dass es nur gemeinsam getan werden kann. Das schafft Zusammenhalt. Die Einbindung von Experten und Expertinnen, der Sozialpartner und der parlamentarischen Opposition hat damit eine Basis aus Vertrauen.

Eine PR-basierte Politik schafft das Gegenteil. Weil sie jede Chance auf Schlagzeilen nützt, geht alles Schlag auf Schlag. Die stärksten Auftritte liefern dramatische Wendungen, Tausende Tote gestern, Licht im Tunnel heute, Winterkatastrophe morgen. Daten sind nur Material für die Propaganda. Das erklärt auch, warum es Kurz nicht stört, dass seine Corona-Minister ständig unterschiedliche Zahlen verbreiten.

Die Beteiligten merken viel zu spät, dass bei jeder PR-Wende ein Stück Glaubwürdigkeit zerstört wird. Das Publikum sieht zuerst gespannt, dann gelangweilt und plötzlich verärgert zu. Die Kanzler-Erklärung muss bereits auf beiden ORF-Kanälen durchgeschaltet werden, um eine Massenflucht ins Kurz-freie Nachbarprogramm zu verhindern.

Wenn es keinen gemeinsamen Weg gibt, zieht jeder seine eigenen Schlüsse: Maskenpflicht, Maskenunsinn, Selbstisolation, Garagenparty. Der Zusammenhalt zerfällt.

Ausnahmezustand

Genau das passiert jetzt. Die Menschen fühlen sich alleingelassen und suchen ihre eigenen Wege. Die einen haben Angst, bei den anderen wächst die Wut. Die einen ziehen sich zurück, die anderen gehen auf die Straße. So entsteht ein Ausnahmezustand.

Das Corona-Quartett merkt, dass es sein Publikum verliert. Aber seine Drehbuchautoren haben kein zweites Stück vorbereitet. Also bleibt das Quartett auf Tour, da eine Verordnung, dort eine Warnung, da ein Trost und dort ein Leak und jetzt ein halber Lockdown, schlecht vorbereitet und wahrscheinlich zu spät.

Kurz verliert jetzt auch noch die Sozialpartner. Von der Tiroler Wirtschaftskammer bis zum ÖGB in Wien können die Bravsten nicht mehr mit. Zu Hause können sie ihren Unternehmern und deren Beschäftigten nicht mehr erklären, dass es unvermeidlich ist, dass die Intensivstationen überfüllt und die Hotels leer sind. Sie können nicht mehr für eine Ampel aus vier Irrlichtern werben. Sie haben genug, weil es so nicht mehr weitergeht.

Auch der Statistiker Erich Neuwirth weiß, dass gerade eine letzte Grenze überschritten wird. Er schreibt: „Ein Teil meiner Kommentare ist heute nicht mehr nur sachlich, sondern emotional gefärbt. Das hat einen Grund. Kommentarlos zuzuschauen, wie eine Gesellschaft in eine Katastrophe schlittert, nur sachlich zu kommentieren, schaffen selbst Wissenschafter_innen, die Teil dieser Gesellschaft sind, nicht.“

Kurz hat ein halbes Jahr geblendet und gepunktet. Jetzt wirkt der Blender selbst geblendet. Der Kanzler weiß nicht, wie es weitergeht. Er hat keinen Plan. Aber für eines wird er noch sorgen: Die Rechnung zahlen alle anderen.

Titelbild: APA Picturedesk

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