Freitag, April 19, 2024

Schutzlos vor dem Terror? Nach dem Allerseelen-Anschlag

Nach dem Allerseelen-Anschlag

Wie sicher ist Österreich? Peter Pilz war Mitgründer und langjähriges Mitglied des Geheimdienstausschusses des Parlaments sowie des Nationalen Sicherheitsrats, Mitglied der Bundesheer-Reformkommission, und Fraktionsführer im BVT-Untersuchungsausschuss. Für ZackZack analysiert der Herausgeber exklusiv die Sicherheitslage.

 

Wien, 04. November 2020 | Terroristen morden. Aber ihr Ziel ist nicht die Tötung von Menschen, sondern deren Folgen: Angst, Chaos, Destabilisierung. Terroristen haben ein einziges Ziel, unsere offene und freie Gesellschaft. Unsere Aufgabe ist es, uns, unseren Rechtsstaat und unsere Freiheit vor ihnen und ihren Auftraggebern zu schützen.

Aber wie gut ist der Schutz vor Tätern, die plötzlich mitten in der Stadt auftauchen und mit automatischen Waffen um sich schießen?

1. Einzeltäter

Der Einzeltäter von Allerseelen war weder ein „Schläfer“ noch ein Glaubenssoldat, der einen Auftrag ausführt. Alles spricht für eine Entwicklung, die wir von London bis Wien kennen: gut integrierte Eltern, unauffällige Jugend, plötzlicher persönlicher Bruch: Abbruch einer guten Ausbildung, Hinwendung zum radikalen Islam.

Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben eines Nachrichtendienstes, Einzeltäter dieser Art rechtzeitig zu erkennen. Aber schon zwei Tage nach dem Anschlag wackelt die Einzeltäter-These des Innenministers. Der Verdacht wächst: Der Allerseelen-Terrorist war weder Einzeltäter noch unauffällig.

Im Gegensatz zu vielen anderen war der Täter bekannt. Die “Süddeutsche Zeitung” verfolgt einen Hinweis auf einen versuchten Munitionskauf in der Slowakei: „Die slowakische Zeitung Denník N berichtet unter Berufung auf Sicherheitskreise, dass er die Patronen nicht bekam, weil er keinen Waffenschein vorweisen konnte.“ Und dann kommt der entscheidende Satz: „Die Behörden sollen demnach ihre österreichischen Amtskollegen über den Besucher und sein Kaufinteresse unterrichtet haben.“

Gestern hat die Spezialeinheit „EG Diamant“ der Züricher Kantonspolizei zwei „Kollegen“ des Wiener Attentäters verhaftet. Der „Einzeltäter“ war wahrscheinlich nur am Tatort allein.

Das BVT hat die Abwehr trotz einschlägiger Delikte des Täters, trotz dessen teilweise verbüßter Haft und trotz eines versuchten Munitionskaufs nicht geschafft. Das grenzt an ein Debakel. Jetzt schiebt der Innenminister die Verantwortung auf seine Kollegin im Justizressort.

2. Erdogan

Neben den Djihadisten gefährdet eine zweite, gut organisierte Kraft Österreich: der türkische Staatsterrorismus.

Auf dem türkischen Auge ist das BVT fast blind. Mindestens 300 MIT-Agenten bespitzeln und provozieren in Österreich. Sie sammeln Informationen über Österreicher, die bei ihrer Einreise in die Türkei schon an der Grenze verhaftet werden. Sie kontrollieren Moscheeverbände und finanzieren Erdogan-Propaganda und Provokationen mitten in Österreich. Der MIT-Resident steuert das alles gemeinsam mit dem Religions-Attachée aus der sicheren Botschaft in der Wiener Prinz Eugen-Straße.

Die Abwehr dieser Angriffe ist jedem Innenminister und seinen Diensten möglich. Nachrichtendienste in fast allen Staaten kennen die Strukturen des MIT, überwachen seine Agenten und beugen den Erdogan-Angriffen vor.

Als sich vor kurzem ein Türke mit italienischen Pass dem LV Wien stellte und gestand, vom türkischen MIT mit einem Mordauftrag an der grünen Abgeordneten Berivan Aslan nach Wien geschickt worden zu sein, informierte die Spitze des BVT Medien von der ZiB1 des ORF bis zu „Heute“ und „Österreich“ falsch: Es sei alles ganz harmlos, es handle sich um einen Verrückten.

Erst Tage später kam das BVT zu einem anderen Schluss. Seitdem wird der Fall von Staatsanwalt und BVT unter Verschluss gehalten. Der MIT-Agent Feyyaz Öztürk ist in U-Haft.

Schon in seiner ersten Einvernahme durch den Verfassungsschutz erklärte Öztürk, was sein Ziel war: Chaos.

Durch die Öztürk-Aussagen sind klar: Das Netzwerk des Erdogan-Terrors reicht bis nach Wien. Es kann jederzeit zu einem Anschlag kommen. Aber der MIT-Resident bleibt ebenso unbehelligt wie sein Personal in Moscheeverbänden wie ATIB.

Der Innenminister weiß das – und tut nichts.

3. Hassmoscheen

Wien und Graz sind die österreichischen Hauptstädte der Islamisten. Dazu kommen einzelne Städte, insbesondere in Oberösterreich.

Wir wissen: Viele Islamisten sind hier geboren. Ihre Radikalisierung beginnen sie als junge Männer. Von Charlie Hebdo bis zu christlichen Gemeinden werden ihnen ihre Feindbilder in Hassmoscheen und im Internet ins Bewusstsein gebrannt.

Im Gegensatz zu den Namen Tausender Djihad-Sympathisanten sind die Namen und Standorte der rund dreißig radikalen Moscheen bekannt. Aber die Landesämter für Verfassungsschutz haben kein Personal und keine klaren Aufträge. Sie werden trotz ihrer guten Arbeit vom Innenminister im Stich gelassen. Die Hassprediger haben freie Hand und können unter den Augen des Innenministeriums für den Djihad werben.

Fast täglich pendeln Islamisten-Autos zwischen Graz und den Djihad-Dörfern in Nordwest-Bosnien. Der bosnische Geheimdienst OSA schickt dem BVT regelmäßig Fotos von Autos mit Grazer Kennzeichen. Der islamistische Grenzverkehr geht trotzdem weiter.

Manche Anschläge folgen nicht einem Befehl, sondern einem Auslöser wie den Mohammed-Karikaturen. Die Chance des Verfassungsschutzes liegt in der Radikalisierungskette davor. Aber diese Chance wird in Österreich von den Moscheen bis zu ihren Hasspredigern kaum genützt.

4. Waffen

Der Allerseelen-Attentäter feuerte mit einem Sturmgewehr. Die erste Frage lautet: Wie konnte er sich diese halbautomatische oder automatische Waffe besorgen? Aber die Frage dahinter ist viel brisanter: Seit Jahren werden Innenminister von Kickl bis Nehammer darauf hingewiesen, dass im österreichischen Waffenrecht eine Terror-Lücke klafft. Die Anträge auf Waffenbesitzkarten und Waffenpässe werden von den Waffenbehörden der Länder bis heute nicht mit den Extremismus-Datenbanken des BVT abgeglichen.

Wenn heute ein Rechtsextremist oder ein Islamist einen schlecht bezahlten Job bei einem Wachdienst annimmt, bekommt er mit der Bestätigung seines Dienstgebers ohne Problem ein Waffendokument. Damit geht er dann ganz legal einkaufen: von der Glock bis zum halbautomatischen AUG von Steyr.

Der Rechtsextremist, der vom Standard beim Wachdienst im BVT-U-Ausschuss enttarnt wurde, hatte einen Waffenpass. Niemand weiß, wie viele Islamisten österreichische Waffendokumente besitzen.

Der Innenminister kennt das Problem – und tut nichts.

5. Geld

Im BVT weiß man: Das Geld für den Djihad kommt aus Saudi-Arabien und den Emiraten, das Geld für den Erdogan-Terror kommt aus Ankara. Erdogan-Vertrauten kommen mit Geldkoffern nach Wien. Österreichische Banken schleusen Saudi- und Emiratsgelder in das europäische Bankensystem ein.

Der Finanzminister kann das wissen – aber will er?

6. BVT – Hilflos

Am Tag nach dem Allerseelenanschlag macht sich der Innenminister wichtig. Aber er lenkt von einem entscheidenden Umstand ab: Es gibt ein Referat, das für die Abwehr des Allerseelenanschlags zuständig wäre: das Extremismusreferat des BVT. Genau dieses Referat hat die ÖVP gemeinsam mit der FPÖ im Jahr 2019 gezielt beschädigt. Karl Nehammer war als ihr Sicherheitssprecher dafür verantwortlich. Bis heute haben sich BVT und Extremismusreferat von den politischen Übergriffen durch die beiden Parteien nicht erholt.

Nur wenige wissen, wie schlecht das BVT und damit unser Verfassungsschutz auf die islamistische Gefahr vorbereitet ist. Jahrelang hat die Fixierung auf Linksextremisten und Tierschützer die Sicht auf die zwei derzeit gefährlichsten Gruppen verstellt: auf bewaffnete Rechtsextremisten und auf terrorbereite Islamisten.

Aber für die ÖVP zählt im Innenministerium vom Bundeskriminalamt bis zum BVT nicht die Sicherheit Österreichs, sondern die Sicherheit der ÖVP.

7. Misstrauische Freunde: CIA, BND,…

In der Vergangenheit hat sich das BVT international einen schlechten Ruf erworben. Der österreichische Dienst gilt als undicht gegenüber den russischen Diensten von FSB bis SWR. Von Washington bis London und von Berlin bis Paris herrscht besondere Vorsicht bei der Datenweitergabe an „die Österreicher“. Nur bei akuten Terrorwarnungen und bei der gezielten Suche nach terroristischen Netzwerken funktioniert die Zusammenarbeit.

Die „befreundeten“ Dienste wissen auch, dass das BVT parteipolitisch umkämpft ist. Über ein Jahrzehnt galt es als Geheimdienst der ÖVP. Herbert Kickl versuchte als Innenminister, das BVT handstreichartig für die FPÖ zu übernehmen. Jetzt sitzt die ÖVP wieder fest im Sattel. Seit seiner Gründung war das BVT kein einziges Mal das, was es sein sollte: ein ziviler Nachrichtendienst, der nur für die Republik Österreich arbeitet. Auch das verstärkt das internationale Misstrauen.

8. Polizei

Die gute Nachricht kommt zum Schluss: Wenn es zum Anschlag kommt, reagiert die österreichische Polizei von den Beamten, die gerade auf Streife sind, bis zu den Sondereinheiten meist vorbildlich.

Auch beim Allerseeleneinsatz hat die Polizei gezeigt, dass sich die Stadt auf sie verlassen kann – und wie wichtig es ist, dass Wien gut ausgebildete und ausreichend bewaffnete Beamte hat.

9. Und?

Seit vielen Jahren steht eine Reform des Verfassungsschutzes an. Wer sie ernst meint, müsste:

  • den Nachrichtendienst von Kriminalpolizei für politische Delikte und Spionageabwehr trennen;
  • ihn aus dem Innenministerium ins Bundeskanzleramt verlegen;
  • eine wirksame parlamentarische Kontrolle einrichten
  • und jeden politischen Einfluss – auch eines Ministers – verhindern.

Das geht. Aber nicht mit Karl Nehammer und der ÖVP. Früher oder später wird es daher eine Entscheidung geben müssen: zwischen Sicherheit und ÖVP.

(pp)

Titelbild: ZackZack/MP

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