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“Das spanische Moria” – Gespräch mit Seenotretter Ingo Werth

Gespräch mit Seenotretter Ingo Werth

Allein in diesem Jahr suchten bereits 19.000 afrikanische Bootsflüchtlinge auf den spanischen Urlaubsinseln nach Schutz und Hoffnung für ein besseres Leben. Viele riskierten dabei ihr Leben, denn die Atlantikroute zählt zu den gefährlichsten Routen nach Europa. ZackZack hat sich bei Seenotretter Ingo Werth umgehört.

Wien/Las Palmas, 2. Dezember 2020 | Auf den Kanaren soll die Reise endgültig zu Ende sein. Die Notunterkünfte auf den Atlantik-Inseln sind überfüllt, doch die spanische Regierung versperrt den 19.000 Geflüchteten, die in diesem Jahr dort angekommen sind, den Weg auf das europäische Festland. Die Regierung befürchtet, dass noch mehr Boote kommen, wenn sie nach Spanien weiterreisen dürfen.

Was ist die Ursache für den Ansturm auf die Kanaren?

Da die Mittelmeerrouten derzeit gut überwacht sind und die Corona-Pandemie die Armut in vielen westafrikanischen Ländern verschlimmert, reißt die Flüchtlingsbewegung auf die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln vor der Küste Westafrikas nicht ab. 19.000 Menschen erreichten in diesem Jahr bereits die Kanaren, das sind ganze 1.000 Prozent mehr als im Vorjahr. Dabei gehört die Flüchtlingsroute über den Atlantik zu den gefährlichsten nach Europa.

Seenotretter Ingo Werth, ehemaliger Mitbegründer der Hilfsorganisation „Sea-Watch“ und anschließend Mitbegründer der Hilfsorganisation „RESQSHIP“ arbeitet seit mehr als fünf Jahren auf dem Mittelmeer, um geflüchtete Menschen vor dem Tod zu retten.

Seenotretter Ingo Werth an Board des Rettungsschiffs. / Foto: Ingo Werth

“Der Tod gehört zum Job”

Der Hamburger ist schon lange mit der Seefahrt verbunden. Doch während der Rettungs-Missionen ist er und seine Crew umgeben vom Tod. In mittlerweile fünf Jahren bei der Seenotrettung, hat er gelernt, mit dem vielen Leid umzugehen. Er betrachtet die Umstände als integralen Bestandteil seines Jobs:

“Unser Job beinhaltet nun mal das Leid und den Tod von Menschen. Wenn man am nächsten Tag wieder rausfahren will, weil man meint, dass man es tun muss, ist es wichtig zu rationalisieren. Das gehört dazu”,

so Werth gegenüber ZackZack.

Die Situation auf den Rettungsschiffen. / Foto: Ingo Werth

Dicht aneinandergedrängt auf den Schlauchbooten. / Foto: Ingo Werth

Todeszone Atlantik

Ingo Werth sieht die ökonomische Instabilität Afrikas, die Nähe zu den kanarischen Inseln und die Perspektivlosigkeit der Menschen als eine der Hauptgründe, warum sich die Menschen auf den gefährlichen Weg über den Atlantik machen:

„Dort, wo die Menschen herkommen, gibt es so etwas wie Kurzarbeit nicht. Wenn die ihren Verkauf einen Tag nicht machen können, hat die Familie nichts mehr zu Essen. Das steigert die Perspektivlosigkeit und den Drang, woanders das Überleben für sich und vor allem ihre Kinder zu sichern.“

“Der Flüchtlingsstrom konzentriert sich immer stärker auf die Atlantikroute. Die Kanaren sind nur 100 Kilometer vom Festland Afrikas entfernt, so weit könnte man fast schauen.

Dennoch ist der Atlantik extrem gefährlich. Die Gezeiten und die Strömungen des Meeres würden meistens unterschätzt werden.

Die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen ACNUR schätzt, dass allein in diesem Jahr mindestens 600 Geflüchtete beim Versuch gestorben sind, die Kanaren und damit Europa zu erreichen. Flüchtlingsorganisationen gehen von über 3.000 aus. Die realen Zahlen kennt niemand. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stirbt auf der Atlantikroute schätzungsweise jeder 16. Geflüchtete.

Europäisches Versagen

Italien und Malta hingegen, versuchen stets den europäischen Willen, keine Geflüchteten reinzulassen, durchzusetzen. Sie halten die Schiffe fadenscheinig fest, erklärt der Seenotretter gegenüber ZackZack.

Bei der sogenannten „Port State Control“ wird bemängelt, dass zum Beispiel gerettete Menschen nicht als Passagiere zählen. Laut Gesetz stimmt das nicht. Weiterhin wurde einer Crew vorgehalten, sie hätten zu viele Rettungswesten am Board gehabt.

Seit 2014 setzt sich Ingo Werth für die Rettung von Geflüchteten ein. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Italiener noch sehr erfolgreich mit ihrer Marine Menschen gerettet. Irgendwann konnten sie das jedoch nicht mehr bezahlen, an finanziellen Mitteln fehlte es an jeder Stelle, so Werth. Hilferufe an die EU blieben dabei erfolglos:

“Es ging um eine Summe von neun Millionen Euro pro Monat. Laut der EU hätten das alle Mitgliedsstaaten zusammen nicht tragen können – was Italien zuvor allein finanziert hat.”

„Camp der Schande – oder: das zweite Moria”

Seit Wochen protestieren Bürger, Menschenrechtsorganisationen und Regionalpolitiker gegen die unmenschlichen Zustände im Aufnahmelager im Süden Gran Canarias. Vor einer Woche wurde das bereits als “Camp der Schande” bekannte Lager aufgelöst.

In Spanien ist immer häufiger von einem „zweiten Moria“ im Atlantik die Rede – in Anspielung auf die Insel Lesbos, wo seit langem tausende Migranten festsitzen. Die Regierung habe sich für das „griechische Modell“ entschieden und verwandele die Kanaren in eines der größten Flüchtlingslager Europas, kritisierte am Wochenende die konservative Zeitung „El Mundo“.

Monatelang durften keine zivilen Rettungsschiffe im Mittelmeer eingesetzt werden. Wegen bürokratischer Hürden und der Corona-Pandemie sitzen die Organisationen auf dem Trockenen. Auch Ingo Werth wartet auf seinen nächsten Einsatz.

(jz/apa)

Titelbild: APA Picturedesk

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