Donnerstag, März 28, 2024

Türkei tritt aus Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen aus

Die Türkei ist aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen ausgetreten. Ein entsprechendes Dekret wurde in der Nacht auf Samstag veröffentlicht.

Wien/Istanbul, 20. März 2021 | Die Türkei ist aus der sogenannten Istanbul-Konvention ausgetreten, die Gewalt gegen Frauen verhindern und bekämpfen soll. Eine entsprechendes Dekret des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurde in der Nacht zu Samstag im Amtsblatt veröffentlicht. Die Entscheidung stieß auf scharfe Kritik. Erdogan hatte erst Anfang März einen “Aktionsplan für Menschenrechte” angekündigt, darunter den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen.

Austritt aus Konvention

Die Istanbul Konvention – eine internationale Vereinbarung – war 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden und sollte einen europaweiten Rechtsrahmen schaffen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. Erdogan selbst hatte die Konvention in Istanbul – dem Ort der finalen Einigung – unterschrieben, damals noch als Ministerpräsident. Später wurde sie in der Türkei zwar auch entsprechend ratifiziert, laut der Organisation “Wir werden Frauenmorde stoppen” aber nie angewendet.

In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Diskussionen über einen möglichen Austritt aus der Konvention. Sie war von einer konservativ-religiösen Plattform losgetreten worden, die unter anderem Religion, Ehre und Anstand durch das Abkommen gefährdet sah.

Gewalt gegen Frauen ist in der Türkei ein verbreitetes Problem. Nach Angaben von Frauenrechtsorganisationen wurden allein im vergangenen Jahr mindestens 300 Frauen in der Türkei von Männern ermordet. Erst kürzlich sorgte die Vergewaltigung und der Mord an einer 92-Jährigen für Empörung sowie das Video einer brutalen Tat, bei der sich ein Mann an seiner Ex-Frau verging.

Aufruf zu Protesten

Nach dem Austritt aus der Konvention riefen die Aktivistinnen von “Wir werden Frauenmorde stoppen” nun via Twitter zu Protesten auf. Die Generalsekretärin Fidan Ataselim sagte, die Regierung gefährde mit dem Austritt das Leben von Millionen Frauen. Sie forderte die Führung auf, die Entscheidung zurückzunehmen und die Konvention anzuwenden. In einem auf Twitter geteilten Video sagte sie: “Ihr könnt Millionen Frauen nicht zu Hause einsperren, ihr könnt Millionen Frauen nicht von den Straßen und Plätzen ausradieren.”

Die stellvertretende Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Gökce Gökcen, erklärte, ein Austritt bedeute, dass Frauen weiter “Bürger zweiter Klasse sind und getötet werden”. Der oppositionelle Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu schrieb auf Twitter, der Austritt aus der Konvention sei “sehr schmerzhaft”. Dies missachte den jahrelangen Kampf von Frauen.

Vizepräsident Fuat Oktay verteidigte die Entscheidung dagegen und schrieb auf Twitter, die Türkei müsse andere nicht imitieren. Die Lösung für den Schutz von Frauenrechten “liegt in unseren eigenen Bräuchen und Traditionen”.

Der Europarat sprach von “verheerenden Nachrichten”. Dieser Schritt sei ein “großer Rückschlag” für die Bemühungen, Frauen zu schützen. Er gefährde den Schutz von Frauen “in der Türkei, in ganz Europa und darüber hinaus”, hieß es in einer Erklärung.Heftig wurde auch die Art und Weise des Austritts kritisiert. Die Anwaltsvereinigung aus Istanbul etwa monierte via Twitter, der Präsident habe nicht die Befugnis, internationale Abkommen per Dekret aufzukündigen.

“Alarmierend”

Petra Bayr (SPÖ), Vorsitzende des Ausschusses für Gleichbehandlung und Antidiskriminierung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, nannte die Entscheidung des türkischen Präsidenten auch demokratiepolitisch alarmierend.

FPÖ-Chef Norbert Hofer erklärte in einer Aussendung: “Mit diesem Schritt hat der türkische Machthaber Erdogan erneut einen eindrucksvollen Beweis dafür geliefert, dass die Türkei nicht auf dem Wertefundament eines freien und aufgeklärten Europas steht.”

Zum Internationalen Frauentag hatten am 8. März in Istanbul Tausende Menschen friedlich für Gleichberechtigung und gegen Gewalt an Frauen demonstriert. Erdogan hatte an dem Tag gesagt, man wolle stärker gegen Gewalt an Frauen vorgehen und Familien, deren Fundament “Mann und Frau” seien, als Institution stärken.

(apa/ot)

Titelbild: APA Picturedesk

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10 Kommentare

  1. Europäische Doppelzüngigkeit wie immer.

    Über die Türken regt sich der Europarat auf. Wie die Deutschen und Franzosen Frauen menschenverachtend behandeln, ist aber schon OK. D und F sind ja die Guten Staaten.
    Deutschland … “Nach der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs gelten bei “Trennungstötungen” oft mildernde Umstände. Dies gilt, wenn die Trennung vom Opfer ausging und sich der Täter dessen beraubt sieht, was er nicht verlieren will.[3] Damit gibt man den Opfern teilweise die Schuld an ihrer Ermordung. Und die Besitzansprüche der Täter an “ihren” Frauen werden auch noch zu ihren Gunsten ausgelegt. Das ist unerträglich.” … https://weact.campact.de/petitions/femizide-in-deutschland-stoppen
    Frankreich … “komisches” Verständnis von “Vergewaltigung” … https://www.dw.com/de/mutma%C3%9Fliche-vergewaltigung-der-fall-julie-sorgt-in-frankreich-f%C3%BCr-entsetzen/a-56836018

  2. Gewalt ist überall. Gewalt ist immer erschreckend und dies unabhänging
    von – wie,wo,wann oder warum. Gewaltdelikte gehöhren vielmehr bestraft.
    Heute sieht es leider so aus das, Beispiel; ein Betrüger eine höherer Freiheitsstrafe
    bekommnt als einer der jemanden an der Seele, am Körper mutwill verletzt.

  3. Die Grün*INNEN sind aber ganz begeistert vom Erdowahn…

    Sie wollen auch die Türkei in der EU sehen!!

    Was nun???

    Gemeinsame Feier in der Türkei und in Europa des 10. Jahrestags des Programms „Zivilgesellschaftlicher Dialog zwischen der EU und der Türkei” mit Unterstützung der Direktion für EU-Angelegenheiten des Außenministeriums und des Instruments für Heranführungshilfe der EU

    https://www.prnewswire.com/news-releases/gemeinsame-feier-in-der-turkei-und-in-europa-des-10-jahrestags-des-programms-zivilgesellschaftlicher-dialog-zwischen-der-eu-und-der-turkei-mit-unterstutzung-der-direktion-fur-eu-angelegenheiten-des-aussenministeriums-und-des-instruments-fur-896130345.html

  4. Hat da jemand einen tieferen Einblick? Z.B. in Bezug auf Schätzungen zur Dunkelziffer? Als ich die 300 Morde an Frauen in Ö1 gehört habe, war ich erschrocken. Und zwar deswegen, weil ich die Morde in Österreich von ca. 25/Jahr (2019 bzw. 2020; habe extra bei statistik.gv.at nachgeschaut) auf die Bevölkerung in der Türkei überschlagen habe und da auf ca. 230 (!) pro Jahr kommen würde. Nur zum Vergleich, weil ich das zufällig im Kopf habe: In Frankreich gibt’s pro Jahr etwa 100 Morde an Frauen, was hochgerechnet auf die Zahlen der Türkei um die 140 sein dürfte.

    Warum gibt’s bei uns soviel Gewalt? Morde sind ja nur die (sichtbare) Spitze eines Eisberges. Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass die Obduktionen seit Jahrzehnten massiv zurückgehen und jede*r davon ausgeht, dass viele Morde erst gar nicht entdeckt werden …

    • Ist das taktvoll wenn Herr Erdogan mit der Bekanntgabe bis nach dem Internationalen Frauentag gewartet hat?
      Ich könnte wetten, daß diese Zahlen weiter ansteigen werden und weiterhin vielleicht einmal pro Jahr thematisiert wird.
      Wenn mehr Energie in die Ausbildung von Mädchen – speziell Wissenschaft, Technik,.. fließen würde, würde man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen.

      • Ich wünsche mir viel mehr starke Frauen!

        Nein, ich glaube das ist Zufall. Aber das ist mehr eine Vermutung, weil ich mich mit den Vorkommnissen in der Türkei zu wenig beschäftigen kann. (…) Um überhaupt etwas zu den Zahlen sagen zu können, müsste man sich anschauen, WO etwas gemeldet wird. Ich glaube, dass es da zwischen Städten wie Istanbul und der Provinz extreme Unterschiede gibt. Auch weiß ich nicht, wieviele Morde es in der Türkei insgesamt gibt (um die Zahl in Relation setzen zu könne).

        Ich arbeite übrigens gerade an einem Projekt und denke darüber nach, einen Verein zu gründen, um Mädls für MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) zu begeistern. Mit dem “Raspberry Pi 4” kann man total coole Dinge machen :-). Bis hin zu kleinen Robotern und Robertas …

        • Meine Dame ist schon größer, aber der Junior beginnt gerade mit Raspberry Pi. Viel mehr Schulen sollten in diese Richtung alle Kinder und Jugendlichen ermutigen, egal ob Mädchen oder Jungs.
          Wünsche Ihnen alles Gute für dieses Projekt!!

      • Also, Fliegen sind das keine mehr, das sind mindestens Flugsaurier ;-). Wenn ich an diesen Bias in der KI denke (diese Unterwürfigkeit von Siri, Alexa & Co.), dann wird mir ganz schlecht! Auch bei Wikipedia gibt’s zuwenige Mädls. Was sicher auch dazu führt, dass der Einstieg in die MINT-Welt über Wikipedia schwierig ist, weil die sich seltener “widerfinden” werden. (Habe hier bewusst WIDER im Sinne von Spiegeln verwendet.)

        • Schlecht wird mir wenn man schaut wieviele das cool finden. Ich komme mir noch nicht so alt vor, aber mir tun die Kinder von heute unglaublich leid.
          Durch die Medien, das ständig erreichbar sein, der leichte Zugang zum Internet,… sind sie ständig Reizüberflutungen ausgesetzt.
          Das Be-Greifen kommt zu kurz.
          Natürlich lernen die Kinder heute anders, vieles ist auch besser, aber definitiv nicht alles.

          • Ja, da muss man noch viel tun! Habe gerade das Buch “Das Phantom Dyskalkulie” von Christina Buchner (2018) gelesen und bin total begeistert :-). Und zwar deswegen, weil’s dort um die Haptik geht, um das Be-Greifen von Mathematik.

            Wir als Gesellschaft stehen da vor einem gewaltigen Problem. Allerdings wird das auch bereits auf EU-Ebene (Stichwort: Weißbuch KI) diskutiert. Ich habe mich da selbst mit Rückmeldungen eingebracht. Aber wir brauchen da viel mehr Forschung (in Europa), wo auch der ethische Aspekt nicht zu kurz kommt. (…)

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