Zwei Wiener Spitalsärzte berichten
Auch wenn die Wiener Intensivbetten nun aufgestockt werden: Die Ressourcen werden nicht reichen. Schon jetzt gebe es zu wenig freie Betten und schwere Entscheidungen, sagen Spitalsärzte.
Wien, 26. März 2021 | „Wir haben einen kleinen Puffer, aber es wird jeden Tag schwieriger“, schreibt eine Sprecherin des Gesundheitsverbunds Wien. „Gespräch mit dem Patient: ‚Wir tun alles für Sie.‘ Was gelogen ist“, schreibt ein Spitalsarzt über eine problematische Entscheidung, die er treffen musste.
Erst im Dezember lasen Prominente anonyme Berichte aus den Krankenhäusern vor, als man „nah an der Hölle“ gewesen sei. Mittlerweile ist die Zahl der Intensivpatienten in Wien höher als je zuvor. Kaum jemand äußert öffentlich Kritik, doch wir haben mit zwei Spitalsärzten gesprochen. Sie wollten anonym bleiben.
Aktueller AGES-Bericht „COVID-19 Prognose und Kapazitätsvorschau (23.3.2021).
Spitäler „am Limit“
„Unsere Intensivversorgung ist am Limit“, sagt ein junger Turnusarzt an der chirurgischen Station eines Wiener Spitals. An seinem Krankenhaus, das nicht zum Wiener Gesundheitsverbund gehört, sind vier Intensivbetten für Coronapatienten reserviert.
Aus seiner Sicht ist es fraglich, Patienten mit schweren Covid-Verläufen auf die ohnehin volle Normalstation aufzunehmen. „Dort können sie zwar beatmet werden, aber nur nicht-invasiv. Sie müssen dann meist einige Tage nach ihrer Aufnahme in ein anderes Spital überstellt werden.“
Aktueller AGES-Bericht „COVID-19 Prognose und Kapazitätsvorschau (23.3.2021).
Triage mittels Therapiezielsetzung
Zu einer Triage komme es tagtäglich, auch wenn sie nicht so genannt wird. „Das passiert mittels Therapiezielsetzung. Also mit der Entscheidung, ob ein Patient intensivmedizinisch behandelt wird oder nicht“, sagt der Jungarzt.
Diese erfolge durch die Einstufung „Höheres Care Level“ (bei gravierender Verschlechterung: Intensivstation, also Intubieren) und „Kein höheres Care Level“ (keine intensivmedizinische Behandlung, also kein Intubieren) durch den Oberarzt, der bei dieser Entscheidung auch die Belegung der Intensivbetten berücksichtigen muss.
Offizielle Vorgaben seitens des Krankenhauses gebe es nicht, wer wann priorisiert behandelt werden muss. Entscheidend sei wohl der zu erwartende Therapieerfolg, der im Ermessen des Oberarztes liegt sowie die aktuelle Bettenbelegung, sagt unser Gesprächspartner.
Verschobene Operationen
„Bei uns werden durchaus auch zeitkritische Operationen verschoben, etwa Leistenbruch (Hernien) oder Krampfadern, auch jene Eingriffe, die eine postoperative Betreuung auf der Intensivstation benötigen“, berichtet er weiter. Krebserkrankungen oder besonders schmerzhafte Erkrankungen, wie etwa der Gallenblase, würden aber ohne Covid-bedingte Verzögerung operiert werden.
Generell hätten es (fortgeschrittene) Krebspatienten besonders schwer, berichtet er aus seiner Station. Zum einen wirke bei ihnen die Impfung schlecht, wegen der Immunsuppression durch die Chemotherapie. Zum anderen hätten sie ein erhöhtes Infektionsrisiko. „Als ihr Therapieziel wird meist ‚Kein Höheres Care Level‘ definiert.“
Fehlendes Pflegepersonal
„Geräte und Platz gibt es genug, das Problem ist das fehlende Pflegepersonal“, berichtet uns ein Internist an einem großen Spital des Wiener Gesundheitsverbunds. Der Oberarzt weiß auch von Kollegen aus anderen Krankenhäusern: Normal- und Intensivstationen sind knapp vor der Kapazitätsgrenze.
Auf seiner Station landen Patienten mit Erkrankungen wie Herzinfarkt und Lungenentzündung – und natürlich Corona. „Die Rettung bringt aber nie jemanden, der sofort auf die Intensivstation muss. Typische Covid-Patienten kommen mit schwacher Sauerstoffsättigung, fiebern vor sich hin, sind matt. Erst drei, vier Tage später verschlechtert sich der Zustand bei vielen so sehr, dass sie beatmet werden müssen.“
Dann stellen sich logistische Fragen. „Wenn ich zwei freie Intensivbetten habe und vier sich verschlechternde Patienten: Wie plane ich das?“ Die Antwort in einem konkreten Fall: „Wir legen den 45-Jährigen ohne Vorerkrankungen vorsorglich auf die Intensivstation, damit er sein Bett hat, wenn er morgen oder übermorgen beatmet werden muss. Den 78-Jährigen in gutem Allgemeinzustand leider nicht“, so der Arzt.
Ein Problem sei die meist lange Behandlungsdauer auf der Intensivstation. „Wenn man weiß, dass der 78-Jährige für drei Wochen dort liegt, überlegt man dreimal. Vor allem wenn der 45-Jährige höchstwahrscheinlich auch bald das Bett brauchen wird.“
Möglichst lange nicht intubieren
Vor einem Jahr sei noch das Dogma gewesen: Möglichst rasch intubieren. Jetzt gilt das Gegenteil, möglichst lange nicht zu intubieren, sondern mit Hochfluss-Sauerstoff über Masken zu beatmen. „Das geht auch auf der Normalstation“, sagt der Internist – „unter intensiver Überwachung.“
Der Begriff „Triage“, ursprünglich aus der Kriegsmedizin und oft „fälschlich gebraucht“, habe der Diskussion geschadet: „Es kommen niemals zwei Patienten gleichzeitig und ich muss entscheiden: Der eine bekommt das Bett, der andere nicht. Die kommen hintereinander und der Erste kriegt es.“
Wenn nun ein Nicht-Covid-Patient kommt, seine Station aber voll ist, müsse er nicht „triagieren“, sondern „ein freies Bett suchen“, notfalls auf einer Überwachungsstation oder in einem Aufwachraum. Wenn gar nichts mehr frei ist, wendet er sich an die zentrale Bettenmanagement-Nummer des Wiener Gesundheitsverbunds, die „gut“ funktioniere.
„Schleichende Triage“
Nachsatz des Arztes: „Schleichende Triage ist insofern schon Realität, dass man weniger aussichtsreiche Patienten eben nicht mehr auf die Intensivstation legt, wo sie besser behandelt werden könnten, sondern auf der Normalstation belässt.“ Dort würden sie nicht so engmaschig behandelt, eben auch nicht intubiert. Was einen schlechteren Verlauf nach sich ziehen könne.
Das Personal, auch er selbst, kratze bereits an der Überlastungsgrenze, „Alle sind ein bisschen depressiv und überlastet, keiner weiß, wie es weitergeht. Keiner kann sagen, wann der Peak erreicht sein wird“, sagt der Oberarzt. „Auch wenn jetzt die Wiener Intensivbetten aufgestockt werden: Es ist klar, dass wir mit den jetzigen Ressourcen nicht auskommen werden.“
Florian Bayer
Titelbild: APA Picturedesk