Übernimmt dennoch Koalitionsgespräche
Gestern noch vor Gericht, heute mit der Regierungsbildung beauftragt: Benjamin Netanjahu bekam vom israelischen Staatspräsidenten den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Am Montag wurde die Anklage in seinem Korruptionsprozess verlesen.
Wien, 06. April 2021 | Eigentlich wollte der israelische Langzeitpremier gar nicht erscheinen. Aber zumindest zur Eröffnungserklärung der Staatsanwaltschaft musste Benjamin Netanjahu doch anwesend sein, entschied das Gericht.
Deal mit Medieninhaber?
Die Staatsanwaltschaft wirft Netanjahu, der bis letzte Woche die vierte Wahl innerhalb von zwei Jahren gefochten hatte, Amtsmissbrauch und Korruption vor. Netanjahu habe seine Macht zu persönlichen Zwecken missbraucht, einflussreichen Medien Vorteile gewährt, unter anderem um wiedergewählt zu werden. Laut Staatsanwältin gebe es dafür viele solide Beweise. Direkt nachdem die Anklage verlesen war, verschwand der Premier aus dem Gerichtssaal.
Es folgte der erste Zeuge, da war Netanjahu schon wieder weg. Ilan Yeshua, ehemaliger CEO von Wall, einem Online-Medienportal, wurde geladen. Die Frage: Wurde er vom Inhaber der Seite, der ebenfalls angeklagt ist, angewiesen, positiv über Netanjahu zu berichten? Der Angeklagte Inhaber ist auch Unternehmer im Bereich der Telekommunikation. Für seine Geschäfte soll es von Netanjahu Wettbewerbsvorteile gegeben haben.
Yeshua schilderte, wie er Anweisungen bekam, die politischen Gegner in ein schlechtes Licht zu rücken, während über Netanjahu positiv berichtet werden sollte. Dieser bestreitet die Vorwürfe vehement, nennt das Gerichtsverfahren einen „Hexenprozess.“ In einem Statement nach seinem Auftritt sagt er:
Zur gleichen Zeit empfing Staatspräsident Reuven Rivlin Vertreter aller Parteien, um zu entscheiden, wem er mit der Regierungsbildung beauftragen würde. Am Dienstag dann die Entscheidung: Wahlsieger Netanjahu muss erneut versuchen, eine Regierung zu bilden. Er hat vier Wochen Zeit, eine Mehrheit hat er nicht.
Die politische Lage im Land ist hochinstabil, die beiden Ereignisse am Montag seien sinnbildlich dafür, dass die Aussichten immer schlechter werden, sagen viele Beobachter.
Wer die neue Regierung in Israel bildet, ist durchaus entscheidend für Netanjahu. An der Macht zu bleiben und eine rechtliche Immunität zu behalten, könnte für seine Zukunft entscheidend sein. Darauf würde er setzen, um den Gerichtsprozess zu überstehen, schreibt die „New York Times“ mit Verweis auf Analysten.
Demokratische Krise
Netanjahu und seine Anhänger würden nicht für seine Unschuld plädieren, stattdessen sei das Ziel ihrer Angriffe die Legitimität des Prozesses und des Justizsystems, meint etwa Shlomo Avineri, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Hebräischen Universität, in der „New York Times.“ Netanjahu habe natürlich das Recht, sich nicht schuldig zu bekennen, aber mit seiner Verteidigung attackiere er die Verfassung selbst. Nach vier Wahlen innerhalb von zwei Jahren und dem Prozess gegen den Langzeit-Regierungschef stehe das gesamte demokratische System auf der Anklagebank.
Aufgrund des Prozesses sei die Entscheidung sehr schwer gefallen, sagte Rivilin. Zuvor sprachen 52 Abgeordnete dem rechtskonservativen Netanjahu ihre Unterstützung aus. Oppositionschef Yair Lapid erhielt 45 Empfehlungen. Ob die Koalitionsgespräche Erfolg haben werden, ist ungewiss. Es könnte nicht die letzte Wahl in diesem Jahr gewesen sein.
(ot)
Titelbild: APA Picturedesk