Das ist ein Unterüberschrift
“Über 200 Autonome”, hätten am Wiener Karlsplatz die Polizei angegriffen, sagt Polizeipräsident Pürstl – zahlreiche Medien gaben das ungeprüft weiter. Dabei kann die Polizei für die Behauptung ihres Chefs keine Beweise nennen.
Wien, 07. Juni 2021 | Mit ABBA aus der Pandemie: Tausende Jugendliche feierten Freitag Nacht am Wiener Karlsplatz im Freien. Sie tranken, hielten sich nicht an die Coronaregeln und sangen lautstark “Dancing Queen”. So ging es bis etwa ein Uhr nachts.
Kurz darauf stürmten Polizisten in schwerer Einsatzausrüstung den Platz. Glasflaschen und Böller flogen. Wie konnte ein friedliches Fest urplötzlich in eine Straßenschlacht ausarten? Wiens Polizeipräsident Gerhard Pürstl erklärte, “200 Autonome” hätten die Polizei attackiert. Zahlreiche Medien brachten Pürstls Behauptung ungeprüft. Doch: Sie ist wohl frei erfunden. Die Polizei bleibt Beweise schuldig.
Feiernde Jugendliche kurz vor der Räumung. Menschen kletterten auf die Engelsstatuen im Hintergrund – für die Polizei ein Grund für die Räumung des Platzes.
“Ganz Wien hasst die Polizei”
Auf Videos und Fotos vom Einsatz sind keine Personen zu sehen, die anhand ihrer Kleidung als “Autonome” erkennbar wären. Auf ZackZack-Nachfrage, welche und wie viele “Autonome” die Polizei identitfiziert habe, konnte diese keine Angaben machen – offiziell “aus datenschutzrechtlichen Gründen.” Die Polizei rechtfertigt ihren Einsatz mit der “Stimmung gegen die Polizei”. Die sei an Gesängen der Jugendlichen (“Ganz Wien hasst die Polizei”) erkennbar gewesen.
Man könne allerdings bestätigen, dass sich “polizeilich bekannte autonome Personen unter die Feiernden gemischt” hätten. Auch Innenminister Karl Nehammer hatte sich bereits so geäußert und behauptet, Angriffe auf Polizisten hätten gezeigt, dass “Aktivisten aus dem linksextremen Bereich” als “Drahtzieher” der Party fungierten. Wer diese Aktivisten seien und was Nehammer unter dem “linksextremen Bereich” versteht, konnte der Innenminsiter nicht sagen.
Einziger Hinweis auf “Autonome” scheinen Tweets von Angehörigen eines linken Journalistenkollektivs – des Presseservice Wien – zu sein, die vor Ort ihre Eindrücke beschrieben. Darüber hinaus konnte die Polizei auf ZackZack-Nachfrage keine Belege für die Behauptungen von Innenminister und Polizeipräsident nennen.
Deeskalation per Lautsprecherwagen
Augenzeugen schilderten den Hergang der Räumung so, dass zuerst Polizisten in Einsatzausrüstung angriffen, um den Platz zu räumen und eingie aus der Menge mit Flaschenwürfen reagierten. Nehammer und Pürstl hatten es so dargestellt, als wäre der Polizeieinsatz die Folge von Angriffen auf Polizeibeamte gewesen. Auch dafür gibt es keine Hinweise, eine entsprechende Nachfrage ließ die Polizei unbeantwortet.
Haben Beamte versucht, zu deeskalieren und das Gespräch mit den feiernden Jugendlichen gesucht, bevor sie den Platz stürmten? Die Wiener Landespolizeidirektion sagt ja und verweist auf den Einsatz eines “taktischen Kommunikationsfahrzeugs”. Dabei handelt es sich um einen Lautsprecherwagen, mit dem die Polizei die Räumung des Platzes erklärte. “Es kam bereits zu Sachbeschädigungen”, sagte die Landespolizeidirektion als Begründung durch.
Als offenbar einzige “Deeskalationsmaßnahme” ließ die Polizei einen Lautsprecherwagen durch die Menge fahren.
Welche Sachen konkret beschädigt wurden, sagt die Polizei nicht. Sie gibt lediglich an, dass Jugendliche Statuen erklettert hätten. Als weiteren Grund für die Räumung des Parks nannte die Wiener Polizei gegenüber ZackZack die Lärmbelästigung, die von den Feiernden ausgegenagen sei. Im Rahmen des Einsatzes wurden nach Polizeiangaben vier Kennzeichen von Einsatzfahrzeugen gestohlen. Acht Polizisten seien verletzt worden.
In Folge des Einsatzes hatte die Wiener Landespolizeidirektion am Samstag ein Platzverbot für den Bereich Resselpark verhängt, weil dort Gefahr für Leib und Leben bestünde. Die Maßnahme wurde unter anderem von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig als überschießend kritisiert. Unter Eindruck des öffentlichen Protests wurde das Platzverbot bereits 13 Stunden später wieder aufgehoben. Auch an den Zugängen zum Donaukanal hatte die Polizei am Samstagabend Sperren errichtet.
Konflikte auch in München
Die Jugendlichen feierten im Freien, weil Nachtclubs von den breiten Öffnungsmaßnahmen nicht erfasst sind. Auch in München kommt es deshalb zu Konflikten zwischen jungen Menschen und der Polizei, wie die “Süddeutsche Zeitung” berichtete. Besonders im Englischen Garten, einem beliebten Treffpunkt für Jugendliche, geht die Polizei gegen Leute vor, die sich nicht an Coronaregeln halten. Wer sich nicht ausweisen kann oder will, wird festgenommen.
Mitte Mai war es im Englischen Garten wegen eines mutmaßlichen sexuellen Übergriffs zu einer Massenschlägerei gekommen, die Polizei griff ein, Beamte wurden verletzt. Obwohl die Münchner Polizei meist weniger martialisch einschreitet als ihre Wiener Kollegen im Resselpark, und mehrheitlich das Gespräch mit den Jugendlichen sucht, wurden die Einsätze gegen junge Menschen in Deutschland scharf kritisiert.
(tw)
Titelbild/Bilder: APA Picturedesk