Dienstag, April 23, 2024

»Freiheit ist nicht umsonst«: Extrembergsteiger im ZackZack-Interview

Extrembergsteiger und Philosoph im ZackZack-Interview

Der Extrembergsteiger Robert Renzler erzählt im ZackZack-Interview, was ihn die Berge gelehrt haben, von seinem Zugang zum Leben, seinen Gedanken zur Demokratie in Zeiten der Digitalisierung und über das Spannungsverhältnis zwischen Risiko und Freiheit.

Wien, 31. Juli 2021 | Robert Renzler war bis vergangenen Herbst 20 Jahre lang Generalsekretär des Österreichischen Alpenvereins. Er war im Gründungskommittee der weltweiten Sportkletterbewegung, hat den Sportkletter-Weltcup entscheidend gestaltet und Sportklettern zu einer olympischen Disziplin gemacht. Für seine Leidenschaft, das Extrembergsteigen, brach er damals sein fast fertiges Philosophie- und Griechisch/Latein-Studium ab und folgte dem Ruf der Berge. Der Extrembergsteiger spricht im ZackZack-Interview mit Larissa Breitenegger über seine Passion, über das echte Leben, über zentrale Werte einer Demokratie, über Freiheit und Risiko, über Wahrheit und Rechtschaffenheit und was ihn das Bergsteigen darüber gelehrt hat.

ZackZack: Sie sind passionierter und extremer Bergsteiger, waren 20 Jahre lang Generalsekretär des Alpenvereins und haben den Alpinismus wie wir ihn heute kennen wesentlich geprägt. Welche Veränderungen haben Sie beispielsweise mitgestaltet, worauf sind Sie stolz?

Robert Renzler: Ich war im Gründungskommittee des Kletter-Weltcups: das war damals völlig neu. Wir haben damals die ersten Kletterwände gebaut und Wettbewerbe organisiert. Jetzt haben wir gerade Olympia – und das war letztlich auch unser Ziel, dass der Sport olympisch wird. Wenn man die Sportkletterbewegung von der Pieke auf entscheidend mitgestalten und bewegen kann, das ist im Rückblick schon etwas, wo wir sehr stolz drauf sind. Dass es jetzt Olympia gibt oder mehr Leute in die Berge gehen – das ist nicht nur positiv besetzt, das sehe ich auch kritisch. Aber insgesamt war die Sportkletterbewegung eine Befreiung des Bergsteigens – vor allem für die Jugend.

ZZ: Eine Befreiung – oder eine Erschließung eigentlich?

RR: Reinhard Fahl war ein bekannter deutscher Bergsteiger und Fotograf, der sagte: Mit dem Sportklettern ist die Angst abgestürzt. Weil man Sicherungen gesetzt hat, Bohrhaken, man hat die Klettergärten geschaffen. Das Klettern ist viel sicherer geworden. Insofern war es eine Befreiung von der Angst im Sportklettern. Während umgekehrt ja die Angst im Klettern wiederum ein ganz wichtiges Element ist im großen Wände Bergsteigen. Das Risiko ist ja auch was sehr Positives: Der Umgang mit Risiko, der Umgang mit der eigenen Angst, der kann ja auch letztlich sehr befreiend sein.

ZZ: Sie haben für Ihre Leidenschaft zum Bergsteigen auch Ihr Studium an den Nagel gehängt, was in der Außenwahrnehmung mit einem gewissen Risiko verbunden ist. Welche Bedeutung hat für Sie dieses Spannungsfeld zwischen Risiko und Angst?

RR: Ich bin immer noch ein klassischer und leidenschaftlicher Bergsteiger. Zum Bergsteigen gehört die Begegnung von Mensch und Berg, und in dieser Begegnung liegt der Umgang mit Risiko und der Angst vor dem Absturz: Die begleitet einen die ganze Tour, wenn man auf große Berge steigt. Das Bergsteigen ist für mich auch eine ganz wichtige Lebensschule gewesen: Man wächst mit dem Risiko und der Angst mit. Dieses Element des Risikos ist für mich immer noch ein ganz zentrales Element beim Bergsteigen: Das Erleben wird intensiviert und die Zurückgeworfenheit auf das eigene Können, auf sich allein und den Partner, das ist etwas, was man im “normalen Leben” ja nicht mehr findet.

ZZ: Das Risiko als Mittel, das einen auf sich selbst zurückwirft also?

RR: Ja, sozusagen dieses Erleben im Gefahrenraum Berg wird ja durch die Möglichkeit des Risikos, durch das Erleben von Angst, sehr intensiviert. Die Sinne sind ganz anders geschärft, wenn ich eine schwierige Tour klettere, oder einen ausgesetzten Grat gehe. Dann ist man viel mehr fokussiert, und ist gleichzeitig ganz bei sich, eben weil man so fokussiert ist.

ZZ: Wird die Angst weniger?

RR: Mit der Routine. Je mehr und öfter man in schwierigen Wänden unterwegs ist, umso weniger wird die Angst. Aber sie ist letztlich immer da – wer keine Angst hat, wird sicher irgendwann abstürzen. Das ist so.

Felsklettern im Gebirge, das ist Himmel und Hölle zugleich. Da gehört Mut dazu, und da gehört Angst dazu. Wenn ich über einen exponierten Grat gehe – man erschrickt, man geht vorsichtig, und wenn man drüber ist, atmet man auf, atmet man durch. Und diese Gegensätze: Himmel-Hölle, Mut-Angst, Erschrecken-Aufatmen, das ist ein Teil von einem unteilbaren Ganzen. Das ist für mich auch was das Bergsteigen so besonders macht. Ohne das abwertend zu meinen, es ist nicht nur Sport – es ist einfach mehr.

ZZ: Was ist das mehr?

RR: Wenn ich unterwegs bin, setze ich ja letztlich auch mein Leben ein, wenn man es auf die Spitze gedacht sieht. Ich habe in meinem Bergsteigerleben sehr viele Freunde sterben gesehen. Ich habe eine Erstbesteigung mit sieben Gefährten gemacht, von denen leben heute noch drei. Die anderen sind am Berg gestorben. Das ist ein Teil vom Ganzen. Was oft unterstellt wird, dass Bergsteiger todessehnsüchtig sind – es ist genau das Gegenteil der Fall. Man geht eigentlich in die Berge nicht, weil man den Tod sucht, sondern weil man leben will, weil man das Leben sucht.

Damals haben wir gesagt, wir steigen aus, aus der Norm der Gesellschaft, und steigen ins wirkliche Leben ein. Das war unser Schlagwort damals, als junge Bergsteiger.

ZZ: Das wirkliche Leben ist das im Angesicht des Todes also?

RR: Ja, das klingt jetzt dramatisch, aber letztlich ist ein bewusstes Leben ein Leben, das sich bewusst ist, dass wir alle sterblich sind. Unsere Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten den Tod aus dem Leben eliminiert. Es wird anonym gestorben, das ist alles organisiert. Der Tod ist eigentlich kein Thema in der Gesellschaft, dabei sollten wir wissen, dass wir begrenzt Leben haben und alle sterben werden – und dass die Zeit kostbar ist. Aber wenn ich schaue, wie wir unser Leben aufbauen – global, wirtschaftlich, dann tun wir so, als hätten wir ewig Ressourcen und würden ewig leben. Wir haben einfach jedes Maß verloren. Die Maßlosigkeit, die Hybris, ist schon bei den alten griechischen Philosophen ein großes Thema: Wer das Maß verliert, das war eine der größten Vergehungen am Menschsein. Und mit dem sind wir jetzt konfrontiert.

ZZ: Woher nehmen Sie Ihr Maß?

RR: Einerseits, dass das Leben nicht nur Konsum ist, das nehme ich aus der Begrenztheit des Lebens: Wir können alle nix mitnehmen. Das Maß ist für mich das, was die Erde an Ressourcen zur Verfügung stellt, und wir leben ja schon seit Jahrzehnten auf Pump. Der Global Overshoot-Day ist gerade erst gewesen: wir leben das halbe Jahr von Ressourcen und Energieverbrauch auf Kosten der künftigen Generationen, oder eigentlich schon unserer Kinder. Wir tun so, als hätten wir mehrere Erden zur Verfügung. Wir in der westlichen Welt verbrauchen im Schnitt 2,5 bis drei Mal so viel Ressourcen, als uns eigentlich zustehen würde. Das war bisher nur möglich, weil die Dritte Welt entsprechend wenig verbraucht.

Robert Renzler ist einer der großen Extrembergsteiger in Österreich und war bis letzten Herbst 20 Jahre lang Generalsekretär des Österreichischen Alpenvereins. Foto: Robert Renzler

ZZ: Ihr Beitrag “Die letzte Bergfahrt” – den habe ich übrigens sehr gerne gelesen, das fand ich richtig gut – beschreibt die Tour eines Bergsteigers, der nach einem Absturz am Fels liegend eine Vision hat. Dabei zeichnen Sie die Gesellschaft zeichnen, wie sie gerade ist – so hätte ich es verstanden: ein paar Schlagworte, das Spiel mit der Angst und den Medien, es geht um die Gefährdung der Demokratie, Risiko und Freiheit, Recht und Gerechtigkeit, Verantwortung, Wahrheit und Lüge, soziale Medien – Sie haben da eigentlich alles hineingepackt.

RR: Das ist meine Sicht der Dinge, wie sie sich entwickelt haben, und wie ich die Welt erlebe. Ich beobachte viele negative Entwicklungen beispielsweise durch die Digitalisierung, die auf der anderen Seite auch eine ungemeine Chance bietet, zum Beispiel im Angesicht des Klimawandels global zu agieren und sich zu vernetzen. Umgekehrt ist natürlich die totale Digitalisierung auch die totale Überwachung. Was uns die Geschichte mehrfach gelehrt hat: Alles, was theoretisch möglich ist, wurde auch letztlich umgesetzt, das muss uns klar sein. Ob das jetzt die Atombombe war oder der Supergau im Kernkraftwerk. So wie China jetzt angefangen hat, mittels Algorithmen ein Bestrafungs- und Belohnungssystem einzuführen, das ist weit über das, was sich George Orwell in 1984 vorgestellt hat.

ZZ: Damit einher geht auch eine massive Einschränkung der persönlichen Freiheiten, durch die Überwachung.

RR: Ja, es muss uns klar sein, solange wir in einer noch-Demokratie – für mich ist die Demokratie im Wandel zu einer postdemokratischen, das war schon vor Corona so, und Corona hat es noch zugespitzt – solange wir noch in einer funktionierenden Demokratie leben, ist das ja im Griff zu behalten. Nur die Gefahr, dass das rasch umschlägt – da ist China das große Beispiel. Dort hat das autoritäre System in Verbindung mit einem starken wirtschaftlichen Aufschwung und Konsum für breite Gesellschaftsschichten funktioniert. Da hat man gesehen, dass das, was wir als Grundrechte sehen, von der Aufklärung her und dann gipfelnd in den Menschenrechten nach dem zweiten Weltkrieg, dass das, solange die Leute genug Konsum haben, gar nicht so wichtig ist. Ich sehe da eine Gefahr, dass diese Systeme die Demokratien ablösen. Und dann ist das Element der Überwachung ein totales.

In den Autos haben wir mittlerweile verpflichtend ein GPS drin, mit der Begründung, wenn irgendwo ein Unfall ist, kann Hilfe kommen und das Auto orten. Damit kann ich sämtliche Bewegungen aufzeichnen. Genauso – die meisten haben im Handy ein GPS. Wenn ich Bargeld abschaffe, schließt sich der Kreis: Dann weiß ich, was die Leute kaufen, was sie essen, für was sie Geld ausgeben, was sie machen, wo sie sind – das ist dann eigentlich eine rundum-Überwachung.

ZZ: Einerseits, sagen Sie, stecken da große Chancen drin, was globale Vernetzung zB betrifft, andererseits was Kontrolle und Überwachung betrifft große Gefahren. Es geht bei der Digitalisierung – auch beim GPS-Beispiel – um Sicherheit, man argumentiert, dass das GPS im Auto Sicherheit bringt im Falle eines Unfalls. Ich würde gern aufs Risiko zurückkommen – Sie sagten, dass das Risiko mit der Möglichkeit des Todes einhergeht. Das Risiko ist das, was eigentlich zum Leben führt, ich sehe da dieses Spannungsfeld – Sicherheit versus Risiko bzw. Freiheit.

RR: Ja, Sicherheit ist oft ein Totschlagargument. Mit Sicherheit kann ich so ziemlich alles begründen. Das ist halt immer die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit. Benjamin Franklin, einer der Gründer der USA, sagte ja schon: Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren. Und das bringt es auf den Punkt. Wenn ich nur sicher sein will, dann habe ich auch keine Freiheit mehr. Es ist immer ein Abwiegen, wie viel Sicherheit brauche ich, und wie viel Freiheit brauche ich im Leben. Ich kann nicht beides zugleich in vollem Umfang haben, das geht nicht. Und ich muss mir im Klaren sein: Freiheit ist nicht umsonst.

ZZ: Das sind alles Begriffe, wenn ich jetzt den Bogen spanne, Freiheit – Risiko – Sicherheit – Überwachung. Sie haben es gesagt, Sie haben Entwicklungen wahrgenommen, die schon vor Corona da waren und seither zugespitzt werden. Gerade wenn es um die Begriffe Freiheit und Sicherheit geht, ist das in der aktuellen Debatte um Corona ein ganz großes Thema, auch in Ihren Beiträgen spielen Sie darauf an.

RR: Corona hat im Grunde nichts Neues gebracht, hat aber die Entwicklungen, die vorher da waren – was Demokratie betrifft, was Freiheit betrifft, Eigenverantwortung – hat sie sehr zugespitzt und beschleunigt. Für mich ist ein ganz zentrales Moment, warum Demokratie in den Grundfesten erschüttert wird, der Umgang mit Wahrheit und Lüge. Weil wenn ich nicht mehr weiß, oder wenn ich keinen Konsens habe – Wahrheit ist ja auch immer relativ, es gibt keine absoluten Wahrheiten – aber wenn ich keinen Konsens habe, was wahr und falsch ist, dann kann ich auch nicht entscheiden. Das ist auch bei der Freiheit so: Wenn alles geht, und es auf nichts mehr ankommt, dann ist das Beliebigkeit, aber nicht Freiheit. So ist es auch mit dem Begriff “wahr” und “falsch”. Wenn ich einfach Behauptungen in die Welt setzen kann, dann ist das dramatisch.

ZZ: Trump ist so ein Beispiel.

RR: Ja, das zieht sich ja durch die ganze Welt. Der Juncker hat bei seinem Amtsantritt als Kommissionspräsident in einem Interview ganz offen gesagt: Ein Politiker muss, wenn es hart auf hart geht, lügen. Das ist ihm ohne Kritik durchgegangen. Da wird es ganz, ganz schwierig. Das sieht man auch jetzt im Diskurs mit Corona. Ich finde entsetzlich, was Corona gemacht hat: dass es eigentlich keine Debatte mehr, keinen gesellschaftlichen Diskurs mehr gibt. Es gibt nur pro oder contra, schwarz oder weiß, und es wird nicht faktisch argumentiert. Ganz erschreckend ist das in der Wissenschaft, die eigentlich die Sparte ist, wo der Diskurs, die wissenschaftliche Auseinandersetzung ganz essenziell ist: auch dort wird in den Debatten nur noch moralisiert, aber nicht auf Grund von Fakten abgewogen, Positionen geändert und eine neue gemeinsame Position gefunden.

Der Riss, der durch die Gesellschaft geht, ist erschreckend. Ich habe mittlerweile aufgehört, in meinem Bekanntenkreis über Corona zu diskutieren. Das endet immer auf der persönlichen Ebene, – eine differenzierte Haltung zu dem Thema ist faktisch unmöglich. Entweder bist Du einer, der alle Maßnahmen unwidersprochen mitmacht, oder Du bist auf der anderen Seite gleich ein Leugner, oder ein Rechter und so weiter.

Leben ist nicht schwarz oder weiß, der Großteil vom Leben, und der Großteil der Wahrheit, ist in der Mitte. Das ist ja letztlich auch das Zeichen einer Demokratie – das macht Demokratie auch mühsam – aber es ist halt der einzig mögliche Weg: Der Kompromiss ist die Kunst der Demokratie. Das ist jetzt in Corona nochmal zutiefst erschüttert worden, auch der Umgang mit der Wahrheit. Es werden Behauptungen aufgestellt, es wird nicht mehr abgewogen, auch in der Wissenschaft hört man sich die, die andere Meinungen haben, nicht mehr an.

Die Diskussion geht dann immer auf Verantwortung und Moral gegenüber der Gesellschaft. Das ist zunächst einmal nicht die Basis, anhand der ich Entscheidungen treffe.

ZZ: Sie sagen, die Entwicklung wurde durch Corona nur zugespitzt. Was ist uns da abhanden gekommen?

RR: Das fängt an mit der Unterscheidung zwischen wahr und falsch an. Das ist eine ganz essenzielle Geschichte, dass man Sachen in die Welt setzt, und das relativ unwidersprochen machen kann. Da geben die digitalen Medien sehr viele Möglichkeiten. Sie haben den arabischen Frühling ermöglicht – jetzt lasse ich mal die Folgen und Konsequenzen beiseite – aber es war eine Riesenchance damals, die nur die digitalen Medien ermöglicht haben. Auf der anderen Seite kann jeder rund um die Uhr irgendwas behaupten und erreicht damit die ganze Welt. Das kann ein absoluter Blödsinn sein, und es könnte auch eine Heilsbotschaft sein. Das hat die Welt – und letztlich die Medien – ganz stark verändert – dass Botschaften nicht mehr gecheckt werden auf den Wahrheitsgehalt.

ZZ: Ja, und nein, weil auf der anderen Seite gibt es ja dann auch die ganzen Fakten-Checks, die Aussagen eben auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen.

RR: Es hat alles zwei Seiten. Ich glaube auch, dass man die Gesellschaft mit dieser ganz raschen Entwicklung, was die Digitalisierung und in Folge Kommunikationsmöglichkeiten betrifft, dass wir da nicht mitgewachsen sind: Das ist für den Menschen zu rasch gekommen. Es gibt Faktenchecks, das ist die gute Seite, aber die Leute, die das in die Welt setzen, die lesen ja die Fakten nicht, das ist ja das Problem. Die Menschen – sowohl die eine, wie die andere Seite, die liest und verstärkt sich immer in ihrer Blase. Da spielen natürlich die großen Konzerne wie Google und Co eine große Rolle. Du kriegst ja nur mehr Meldungen, die Deine Blase verstärken. Einen Faktencheck kriegst Du nicht aufgezeigt, wenn der gegen Deine Interessen ist. Das ist einfach ein riesen Problem.

ZZ: Nochmal zum Thema Wahrheit – Sie haben in Ihrem Beitrag auch die vielzitierte Unschuldsvermutung kritisiert, die die Wahrheit „verwäscht“. Der Mut zur Wahrheit ist uns verlorengegangen, lese ich das richtig heraus?

RR: Nein, da spiele ich schon mehr auf den Sensationsjournalismus an, der gleich etwas rauslässt, ohne recherchiert zu haben, ob da mehr dahinter ist – danach steht dann halt unten, es gelte die Unschuldsvermutung. Wenn nach einem Jahr herauskommt, es war doch nichts, dann interessiert das halt niemanden mehr – real ist die Person trotzdem schuldig gesprochen.

Auf der anderen Seite haben wir gerade diese ständigen Angriffe von politischer Seite, von den Türkisen, auf unser Gewaltentrennungssystem. Wenn ich ständig die Judikatur angreife, dann hat das Auswirkungen auch auf den Durchschnittsbürger. Das Vertrauen leidet da ja automatisch unbewusst mit. Vorm Kurz wars der Kickl, als er sagte, das Recht müsse dem Gesetz folgen. Ich hab damals ein Vorwort geschrieben dazu: Die drei großen Player im Staat – Exekutive, Legislative und Judikative – sind ja nicht nachgeordert, sondern das ist ein Gleichgewicht. Natürlich macht das Parlament die Gesetze, die die anderen dann vollziehen, aber im Vollziehen und Interpretieren müssen die anderen wieder unabhängig sein, sonst funktioniert das Gleichgewicht nicht. Es muss auch eine Instanz geben wie den Verfassungsgerichtshof, der sagt, liebe Freunde, das Gesetz ist gegen unsere fundamentalen Grundwerte, die in der Verfassung festgeschrieben sind, daher geht das nicht. Und wenn ich da sage ich ordne die Judikative nach, dann unterlaufe ich das.

Wir haben ja endlos Beispiele in der Geschichte, wo alles nach Gesetz unter Anführungszeichen gelaufen ist, und trotzdem haben wir völlige Unrechtsstaaten gehabt. Im Kommunismus vom Stalin oder im Hitlerstaat – die haben auch immer im Namen des Volkes ihre Urteile gesprochen. Und sie haben sich die Gesetze so zurechtgemacht, dass es dem auch entspricht.

Wenn dieses Gleichgewicht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative nicht gewahrt und ständig von höchster Seite unterminiert wird, also vom Bundeskanzler, dann ist das demokratiepolitisch zutiefst bedenklich.

Wenn er eine Beschwerde macht – wie Sie und ich, wenn wir eine Hausdurchsuchung haben, die aus unserer Sicht völlig ungerechtfertigt war, dann gibt es ja Instanzen, da können wir zum VfGH gehen, das ist der Weg – aber nicht, öffentlich die grundsätzlichen Institutionen schlecht zu machen. Das unterläuft die Demokratie. Genauso wenn ich Lügen behaupte, ungestraft – auch das unterminiert die Demokratie.

Wenn jeder seine Thesen rauslässt, ohne Faktenprüfungen, die überhaupt nicht der Wahrheit entsprechen, und das ist dann gleichrangig im Netz, und der der das liest und sich dem zugewandt fühlt nimmt das dann für wahr – das unterlauft einfach unser System. Wenn Trump sagt, bei seiner Angelobung waren 100.000 Leute und in Wahrheit waren es 15.000, dann steht es halt so: Und die Republikaner haben das geglaubt, obwohl es Videos und Faktenchecks gab, dass es viel weniger waren als bei Obama. Das war völlig irrelevant.

ZZ: Da haben wir in Österreich auch genug Beispiele.

RR: Ja, zum Beispiel sagte Kurz beim ersten Lockdown, als fraglich war, ob die Maßnahmen vorm Verfassungsgerichtshof standhalten – es sei ihm egal, weil bis das beim VfGH durchjudiziert sei, wäre der Lockdown eh schon wieder aufgehoben. Das kann ein Kanzler oder Bundespräsident niemals bringen, dass er sagt, ich handle bewusst gegen die Verfassung, weil bis das ausjudiziert ist, ist es eh schon lange wieder hinfällig. So wird die Demokratie ständig unterlaufen: von denen, die darauf vereidigt sind.

ZZ: Das führt uns zum Thema Verantwortung – sie müssen dann die Verantwortung nicht mehr tragen für ihr Handeln oder etwaige Unwahrheiten, die sie verbreitet haben. Bzw. werden nicht zur Verantwortung gezogen.

RR: Es passiert ihnen auch nichts. Es hat Zeiten gegeben, die ich noch erlebt habe, wenn da ein Politiker bei einer schwerwiegenden Lüge ertappt worden ist, hat er zurücktreten müssen.

Ich sage, kranken tut die Demokratie eigentlich letztlich am aufgeklärten mündigen Bürger. Der war die Voraussetzung dafür, dass überhaupt demokratische Systeme geschaffen worden sind, und den die Aufklärung propagiert hat: Die Vernunft als Basis für alles weitere. Wenn ich mir anschaue, wer heute noch – das Engagement der Bevölkerung, für Sachen einzustehen, sich zu artikulieren und auch dazu zu stehen – nach außen hin, das ist heute verschwindend.

Ich habe in den letzten Jahrzehnten einige Umweltgeschichten durchgefochten, letztlich ist es eine Handvoll Leute. Momentan – ich bin für die Gemeinde Grieß am Brenner Transitsprecher in Sachen Brennerautobahn, ASFINAG und so weiter – und es ist so, dass eine Handvoll Leute tut was, und der Rest schaut zu. Wenn ich heute eine Blockade mache – ich weiß noch, 1996 waren über 10.000 Menschen auf der Autobahn. 2004 waren es noch ein paar Hundert. Auf der anderen Seite, die Leute haben in der Globalisierung und Vernetzung zunehmend das Gefühl, dass sie hilflos sind. Wenn ich mit ihnen rede, sagen viele – habt’s schon Recht, gebt’s nur Gas. Aber im Grunde resignieren sie. Weil sie sagen, es hilft eh nix. Grieß wird nicht europäische Verkehrspolitik machen, sagen die Gebildeten.

Aber die großen gesellschaftlichen Veränderungen müssen durchs Volk getragen werden. Und das Volk ist sehr eingelullt. Vielleicht auch, weil man es nicht mehr schafft, sich in der Vielfalt der Medien und Themen eine Meinung zu bilden, was wirklich wichtig und was weniger wichtig ist.

Wir haben in Tirol jetzt seit Wochen die Debatte um den Wolf – das ist das Hauptthema hier. Und daneben, das Thema Transit, das ja für jeden einzelnen und fürs Klima eine viel größere Auswirkung hat, das ist ein völliges Nebenthema im Vergleich zum Wolf. Wir haben in Tirol vielleicht zehn Wölfe, das ist kein Vergleich zu den großen Problemen, die wir haben, zum Beispiel Klimawandel. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in Tirol einem Wolf begegne, ist nahezu Null, der Wolf hat mehr Angst vor uns, als wir vor ihm. Da wird aber jetzt ganz bewusst mit Rotkäppchen und dem Wolf gespielt, die Kinder werden ins Rennen geführt und so weiter. Wie auch beim Thema Corona wird hier viel mit Angst gespielt – und Angst macht ein Volk gefügig.

ZZ: Auf die Angst wollte ich auch noch einmal zu sprechen kommen. Sie haben angesprochen, dass die beim Bergsteigen ein treuer Begleiter ist.

RR: Ja insofern auch wertvoll, weil ich mit Angst umgehen kann. Wenn mir ein Politiker Angst machen will, nachher hab ich einfach einen ganz anderen Zugang dazu, oder auch zu Risiko. Ob das Corona oder etwas anderes ist – ich mache mir zuerst ein Bild und dann entscheide ich, muss ich groß Angst haben oder nicht? Und ich habe für mich entschieden, dass ich beispielsweise was Corona betrifft keine große Angst haben muss, weil ich mich in vielen Bereichen informiert habe. Gestern erst habe ich mir einen Beitrag von ServusTV angeschaut, “Corona – die Suche nach der Wahrheit” – eine Doku, das ist die eine Seite, die haben ausschließlich Beiträge von einer Seite, aber ich kann mir da ein Bild machen. Da brauche ich kein Mediziner sein: ich weiß, wie ich Sachen einzuordnen habe. Die Mehrheit der Leute, auch die mit denen ich lebe und verkehre, die haben einfach panische Angst gehabt. Und gegen Angst kann man nichts machen. Angst ist irrational. Wenn ich Angst habe, habe ich Angst, die kann ich nicht wegdiskutieren. Und dafür ist Bergsteigen eine gute Schule, das zu analysieren und umzugehen mit Risiko und mit Angst.

ZZ: Sie haben gesagt, Sie haben aufgehört, mit Menschen in Ihrem Umfeld über Corona zu reden?

RR: Ja, weil das immer auf sehr emotionaler Ebene endet, wo die Rationalität ausgeschalten wird, auf beiden Seiten. Die Gesellschaft ist auf zwei Seiten aufgeheizt. Auf der einen Seite sind die rund dreißig Prozent Leute, die sozusagen eine maßnahmenkritische Meinung haben. Ich kenne keinen der sagt Corona gibt es nicht, aber die sagen, die Maßnahmen sind überzogen, die Impfung ist nicht ausgereift und birgt noch Unwägbarkeiten, und deswegen sind sie kritisch. Die anderen sind traumatisiert durch diese Maßnahmen, die jetzt über eineinhalb Jahre gegangen sind. Das sind Maßnahmen – ich bin 65 Jahre alt, und habe in meinem ganzen Leben keinen Lockdown erlebt. Es sind ja in Wirklichkeit Ausgangssperren gewesen, das gab es meines Wissens nach das letzte Mal im zweiten Weltkrieg. Wenn man dann solche Maßnahmen und Begleitmaßnahmen über 1,5 Jahre hinter sich hat, erfolgt natürlich eine gewisse Traumatisierung und man will das loswerden um jeden Preis. Und jeder, der da im Weg steht, ist dann ein massiver Gegner.

Dass sich dann am Thema Corona die Lager so unversöhnlich verschärfen, weil es unser aller tägliches Leben, das Gehen ins Gasthaus und so weiter betrifft, das ist verständlich.

ZZ: Ich möchte gerne noch einmal auf die Vision in Ihrem Artikel, zurückkommen – die ist zunächst einmal recht düster.

RR: Ich bin von meinem Grundsatz her ein sehr positiv eingestellter Mensch. Ich sehe es halt so. Wenn ich heute die Fakten zusammenzähle, wenn ich schau, wo wir mit dem Klima stehen, wenn ich schau, wo wir mit dem Artensterben, mit dem Ressourcenverbrauch stehen, und wohin die Tendenzen jetzt wieder gehen: Wachstum, Wachstum, Wachstum – dann hat sich nichts geändert, wir werden uns wieder überbieten in den Wachstumsziffern. Dann bleibt wenig, und wenn man schaut, wie sich die demokratischen Verhältnisse und die Demokratien in ihren Strukturen verändern, dann ist es schwierig, dem positive Aspekte abzugewinnen. Das sind Fakten, die kann man nicht schönreden.

Aktuell ist ein heißes Thema der Bodenverbrauch: Da habe ich schon vor 20 Jahren mit dem WWF Pressekonferenzen zu dem Thema gemacht. Das läuft jetzt 20 Jahre, und nichts ändert sich. Dann kommen ein paar Artikel, wir betonieren alles zu und so weiter, ein kurzer Aufschrei – und morgen geht’s gleich weiter wie vorher, die Raten sind in den letzten sechs Jahren sogar immer weiter nach oben gegangen. Wo bleibt da der Glaube an die Vernunft? Letztlich versuchen wir auch beim Klimawandel, immer nur die Symptome zu bekämpfen, aber nie die Systeme.

ZZ: Das kritisieren immer mehr Leute auch wenn es um erneuerbare Energien usw. geht: es fehlt die Systemfrage, der Ansatz an der Wurzel.

RR: Ich bekämpfe jetzt den Klimawandel, indem ich Elektro- oder Wasserstoffmobilität zur Verfügung stelle. Brauche aber deswegen gleich viele Ressourcen, habe genau das gleiche Problem mit der Entsorgung der Batterien, muss das Auto genau gleich bauen wie bisher, das ist ja nicht CO2-frei gebaut, die Leute rechnen immer, wenn das Auto dasteht, und ich fahre, dann bin ich klimaneutral. Aber alles was vorher und nachher ist, wird ausgeblendet. Die Antwort kann nur ein gewisser freudvoller Verzicht bei uns in der westlichen Welt sein. Ohne dem wird es nicht gehen – dass wir einfach mit ein bisschen weniger zufrieden sind, und ein bisschen weniger kreuz und quer durch die Gegend fahren, den Verkehr auf den öffentlichen Verkehr umrüsten, das wird anders nicht gehen.

Ich sage, es wird wie immer sein: Die Veränderungen kommen dann, wenn sie wahrscheinlich nicht mehr konfliktfrei sind. Wir werden die Migration erleben, wir werden die Leute, die durch den Klimawandel ihr Essen verlieren – da geht es wirklich ums Essen und Überleben – die werden wir nicht aufhalten können auf Dauer. Und wenn wir sie aufhalten, dann werden wir an den Grenzen Krieg führen müssen. Und das ist die große Gefahr bei dem Ganzen, dass wir so lange weitermachen, bis sich das Gemisch in gewaltsamen Konflikten auflöst.

ZZ: Zum Schluss würde ich gerne noch zur Verantwortung kommen, mit der Sie in Ihrer Letzten Bergfahrt ja auch schließen, da kommt dann schon das Positive heraus – „die Menschen erhoben sich und begannen stumm und unerbittlich, ihre Verantwortung gegenüber sich und der Welt zu übernehmen, indem sie ihre gekrümmten Rücken geradestreckten und ihre Augen und Ohren öffneten um zu sehen, was wahr ist“

RR: Genau, da sind wir wieder beim Thema Wahrheit. Letztlich – solange ich demokratische Systeme habe – liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen, und die Möglichkeiten haben wir immer noch, dass wir die Verantwortung für uns und für die nächste Generation und letztlich auch für die Welt, in dem Bereich wo wir wirksam werden können, wahrnehmen. Und es braucht, das ist schlecht und genauso gut, es braucht für die positiven großen Änderungen in der Gesellschaft nicht mehr als 15 Prozent, die aktiv werden, die können den Rest bewegen – das zeigt die Geschichte, und umgekehrt war es halt leider auch so, dass 15 Prozent die Geschichte ins Negative gedreht haben.

ZZ: Danke für das Gespräch!

Titelbild: Robert Renzler

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6 Kommentare

  1. Zum “freudvollen Verzicht” gäbe es dann doch eine Frage, wie kommt man, mit all seiner, eher wenig umweltfreundlich hergestellten Kletter-Ausrüstung zu so manchem Berg an der chinesischen Grenze? Mit dem Fahrrad? Und wer bestimmt eigentlich, worauf man freudvoll zu verzichten hat, der große Bruder bzw. die große Schwester?

  2. Zum letzten Absatz.
    Genau so ist es.
    15% Fanatiker lenken die restlichen 85%.

  3. Menschen wie Robert Renzler, die im wirklichen Leben stehen, sollten viel öfter mit ihrer Stimme an die Öffentlichkeit treten. Die haben wirklich was zu sagen, im Gegensatz zu den vielen anderen, die ständig zu lesen oder hören sind. Danke Robert Renzler für Ihre berührenden, ehrlichen Worte.

  4. Hab das Buch “Zeit zu Leben” von Reinhard Karl gelesen.
    War eine gute Inspiration für meinem Lebensweg.

  5. Interessantes Interview.

    Ich persönlich habe nichts gegen freudvollen Verzicht, aber ist dieser in Kombination mit Individualismus mE nur die halbe Miete, letztlich wieder nur Symptombehandlung.

    Nicht “der” Westen hat, verbraucht und wächst zuviel, sondern zuerst einmal das Kapital.

    PS: So hat Renzlers mE unausgegorene Sicht vielleicht auch folgende Unstimmigkeit oder zumindest unscharfe Ausführungen mitbedingt: Einmal ist es ihm verständlich, dass die Kritischen wegen des Lockdowns hitzig wurden, weil das “unser aller” “tägliches” Leben “Urlaub usw.” betraf, dann wieder meint er, dass es (Klimawandel-Stopp) nur gehen wird, wenn “wir” weniger kreuz und quer durch die Gegend fahren.

  6. Danke Robert Renzler und danke ZackZack.

    Freiheit ist nicht umsonst, auch die Freiheit und Neutralität unseres Landes und seiner Bevölkerung wurde erkämpft und ausverhandelt. Deswegen ist es schwer nachvollziehbar aus welchen Gründen es anscheinend immer noch vielen komplett wurscht ist, wer unsere verfassungsmäßig zustehenden Freiheiten einschränkt und die staatsvertragliche Neutralität mit Füßen tritt.

    Wenn es nach mir ginge, könnten die in ihr Geilomobil steigen und sich vertschüssen.

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