Donnerstag, März 28, 2024

Not a Bot – Sternstunden der Menschlichkeit

Sternstunden der Menschlichkeit

Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!

von Daniel Wisser

Wien, 14. August 2021 | In Brechts Dreigroschenroman steht: »Der Mensch hat die furchtbare Fähigkeit, sich gleichsam nach eigenem Belieben gefühllos zu machen, wenn er die für ihn schädlichen Folgen seiner Gefühlsseligkeit entdeckt. So kam es zum Beispiel, daß ein Mann, der einen andern Mann mit einem Armstumpf an der Straßenecke stehen sah, ihm wohl in seinem ersten Schrecken das erste Mal ein Zweipencestück zu geben bereit war, aber das zweite Mal nur mehr einen halben Penny, und sah er ihn das dritte Mal, übergab er ihn womöglich kaltblütig der Polizei.«

Hier wird genau beschrieben, wie es sich mit unserer Einstellung zu »den Flüchtlingen« verhält. 2015 wurde also »geholfen« – mit Bananen, Altkleidung und Schuhen. Das war wohl das Zweipencestück, das Brecht meinte. In der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 2021 wurden unter einer schwarz-grünen Regierung die Schülerin Tina, zwei weitere Schülerinnen und deren Familienangehörige nach Georgien und Armenien abgeschoben. Die Polizei musste eine Sitzblockade gegen die Abschiebung Demonstrierender auflösen. Diese Sitzblockade war wohl der halbe Penny. »Recht muss Recht bleiben«, hörte man dazu aus der Regierung.

Heute lese ich, die Volkspartei »halte an Abschiebungen nach Afghanistan fest«. Abschiebungen nach Afghanistan sind angesichts der politischen Lage dort Menschenrechtsverletzungen, da in Österreich die Europäische Menschenrechtskonvention gilt. Wo ist das Recht, das Recht bleiben muss? Wir sind wohl in Phase drei angelangt und übergeben die Menschen »kaltblütig der Polizei«. Wie haben die Helfer von 2015 im Jahr 2019 gewählt? ÖVP, FPÖ und Grüne halten 128 von 183 Sitzen im Nationalrat.

Entpolitisierung der sozialen Frage

Ich möchte die Hilfe des Einzelnen nicht abwerten. Die Hilfe aus Nächstenliebe hat allerdings einen Haken: Sie entbindet die Politik der Zuständigkeit und reduziert Menschlichkeit auf die ehrenamtliche Tätigkeit des Einzelnen. Der, dem geholfen wird, bekommt keine Rechte, keine strukturelle Unterstützung und er wird nicht ermächtigt, sich aus seiner Lage selbst zu befreien. Was er bekommt ist ein Almosen und man erwartet von ihm Dankbarkeit.

Die Entpolitisierung der sozialen Frage macht es möglich, dass Menschen einerseits freiwillig Flüchtlingen helfen, gleichzeitig aber rechte Parteien wählen. Sie macht es möglich, am Sonntag in der Kirche der Menschenfreund zu sein und schon zehn Minuten später nach Verlassen der Messe am Stammtisch des Gasthauses menschenfeindliche Politik zu unterstützen. Da ist sie: »die furchtbare Fähigkeit, sich nach eigenem Belieben gefühllos zu machen.«

Nicht vor meiner Haustüre

Der »erste Schrecken«, von dem Brecht spricht, war wohl 2015 der Moment, an dem Flüchtlinge an der österreichischen Grenze standen. Anstatt zu verstehen, dass Menschen seit Jahrzehnten für das Erdöl, das wir verbrauchen, sterben oder in Unterdrückung leben, dass Menschen seit Jahrzehnten mit den Waffen beschossen und getötet werden, die wir Terroristen und Unrechtsstaaten mit hohen Gewinnen verkaufen, brach eine Panik aus, deren politische Nutznießer nicht jene waren, die seit Jahrzehnten die Bekämpfung der Ursachen von Flucht fordern, sondern jene, die die Flüchtenden bekämpfen. Sie sagen dem Flüchtling: »Lass dich bitte zu Hause erschießen und steh nicht vor meiner Haustüre herum!« Wer aber von Verfolgung und Tod bedroht war, wird die Drohungen österreichischer Provinzpolitiker auch noch aushalten.

Jeder Österreicher, der in derselben Lage ist wie ein Flüchtling, dessen Familie von Tod, Krieg, Ausbeutung und Armut bedroht ist, würde handeln wie dieser Flüchtling. Er würde der Bedrohung entgehen wollen und alles tun, damit seine Kindern in einer besseren Umgebung groß werden können. Die Politik der regierenden Populisten richtet sich gegen Flüchtlinge. Sie sind die Ärmsten und Wehrlosesten und vor allem: Sie dürfen ohnehin nicht wählen. Was aber wird getan um Fluchtursachen zu bekämpfen, um die tägliche Zahl der Flüchtenden zu reduzieren? Nichts. Im Gegenteil: das Elend wird täglich vermehrt.

Pullover zurückbringen

75 Prozent aller Österreichischen Erdölimporte kommen aus Ländern mit autoritären Regimen und prekärer Menschenrechtslage. Die Konsumenten von Erdöl und Erdgas, und damit auch von Plastik, stützen also Unrechtsregierungen und tragen dazu bei, dass Menschen flüchten oder auswandern. Man kann diese Tatsache mit genaueren Zahlen und Statistiken belegen. Die Frage aber bleibt: Wann wird endlich gegengesteuert? Wann hören wir auf, mit diesem Staaten Handel zu betreiben, anstatt die oppositionellen Kräfte in diesen Ländern zu stärken und demokratische Verhältnisse zu forcieren?

Von den Regierungsparteien kommt dazu nichts, ganz im Gegenteil: Das Unterstützen von Diktatoren scheint gerade en vogue zu sein. Die »Hilfe des Einzelnen« erscheint in diesem Zusammenhang als Bigotterie. Es ist grotesk, dem Flüchtling aus Bangladesch den Pullover, den seine Kinder dort unter Sklavenbedingungen hergestellt haben, in gebrauchtem Zustand ins Flüchtlingsheim zu bringen und dafür auch noch seinen Dank zu erwarten.

Das Wertvolle ist der Bodensatz

Eine Politik der Menschlichkeit kann wie alle neuen demokratischen Bewegungen ihrer Ausgang nur außerhalb des Parlaments nehmen. Und sie wird sich auf die hartnäckigste Kraft des Menschen stützen müssen: die Weigerung. Erst wenn eine bestimmte Anzahl von Menschen, den Konsum bestimmter Waren verweigern wird, kann diese Bewegung eine Größe annehmen, die sich irgendwann politisch niederschlägt. Zuerst aber ist die Rebellion notwendig und sie muss damit einhergehen, Sozialpolitik und Almosen scharf zu trennen. Hans Pestalozzi schrieb: »In hierarchischen Strukturen kommt das Gute nie von oben. Obenauf schwimmt der Abschaum. Das Wertvolle ist der Bodensatz. Zu erkennen, welche Typen sich anmaßen, Macht über uns auszuüben, ist der erste Schritt zur Rebellion.«

Eine Sternstunde ist schnell vorbei. 2015 ist vorbei. Heute ruft eine Regierungspartei dazu auf, Geflüchteten geltendes Recht zu verwehren. Wo bleibt der Widerstand? Wo sind die Helfer von 2015? Die Menschlichkeit von 2015 war und bleibt ein Feigenblatt, das die Hässlichkeit und Rechtswidrigkeit der längst rechtsextrem und populistisch gewordenen schwarz-grünen Politik nicht verdecken kann.

Titelbild: APA Picturedesk

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26 Kommentare

  1. Lieber Herr Wisser, ihre Glosse ist immer wieder eine willkommene Erweiterung der sozialen und politischen Sichtweise für einen politisch interessierten Normalbürger wie ich es bin. Bitte weiter so.

  2. Warum müssen wir verzichten. Warum werden die Konzerne nicht gezwungen ordentliche Löhne zu bezahlen und den Diebstahl der Rohstoffe zu beenden. Dafür müsste bei uns das Endprodukt nicht einmal wesentlich teurer werden. Nur die Gewinne und Dividenden der Konzerne würden sich enorm verringern. Dies hätte zur Folge, dass sich in den Drittländern eine funktionierende Marktwirtschaft aufbauen könnte mit der wiederum der Handel von Wirtschaftsgütern besser gelingen würde. Dazu noch ein Waffenexportverbot welches viele dieser Konflikte rasch beenden würde. Allerdings würde dieses wieder vor allem westliche Konzerne treffen. Also lässt die Politik die Finger von solchen Maßnahmen. Der Konsument könnte mit seinem Konsumverhalten etwas bewirken ist der größte Schmäh aller Zeiten. Siege CO2. Solange riesige Container Schiffe mit Heizöl fahren ist es nicht mal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein wenn wir uns eAitos kaufen, die durch den Abbau von Rohstoffen in Afrika die Kinderarbeit förder

  3. Wie viel der Herr Wisser wohl von seinem mageren Millionenshow-Gewinn(ich hatte die Frage, an der er gescheitert ist, gewusst – ohne eine Sekunde nachdenken zu müssen) wohl für die “Flüchtlinge”(oder solche, die gern so bezeichnet werden) gespendet?

    Auch ein Zweipencestück?

  4. Danke für die sehr treffende Feststellung von Pestalozzi. Werde diese weisen Worte weitergeben – bei jeder sich bietenden Gelegenheit – an jung und alt 💪

  5. “Wann hören wir auf, mit diesen Staaten Handel zu betreiben, anstatt die oppositionellen Kräfte in diesen Ländern zu stärken und demokratische Verhältnisse zu forcieren?”

    Wann hören wir auf, mit Staaten Handel zu treiben, die völkerrechtswidrige Kriege führen, Aufständische bewaffnen und Terror-Gefängnisse unterhalten?

    Das mit den Sanktionen ist eine zwiespältige Sache. Wir, die Guten dürfen über andere richten und Sanktionen einführen? Wie sieht es da mit GB und Julian Assange aus? Wie mit Malta und der Verwicklung eines demokratischen Staates mit dem Mord an Daphne Caruana Galizia? Gab es da Sanktionen?

    • …. solange Waffen ein solches “Ansehen” haben, die Produktion und der Handel damit, enorme Gewinne versprechen, wird sich unsere Welt nicht ändern. Angst regiert die Menschen, Angst bewaffnet sie, Angst wird permanent geschürt und verbreitet, Angst macht aus Ideoten, gefährliche Ideoten.
      Waffen bewirken das die Menschen der halben Welt nicht mehr in Frieden leben können, Waffen die wir liefern….

    • Ich bin bei Ihnen. Aber zum 2. Absatz: Da würde sogar der innerösterreichische Handel zusammenbrechen.

  6. Nicht alle haben es sich so einfach gemacht mit den flüchtlingen im jahr 2015.
    Was meine freunde und mich betrifft, so würden wir uns genieren, altes glumpert bei den flüchtlingen zu entsorgen.
    Es gab möglichkeiten zu sinnvoller hilfe.
    Enttäuscht haben mich schon damals grüne politiker, zb vassilakou. Die grünen sind halt leider nur quatscher.
    Empörend mikl leitner.
    Einzig der spätere bk kern hat managementqualitäten bewiesen.
    Im gegensatz zum bastel, der es wagte, sich über den späteren bk lustig zu machen.
    In wirklichkeit kann und konnte er ihm niemals das wasser reichen. Und wird es auch nie können

  7. So etwas wie eine Grüne Flüchtlingspolitik gibt es nicht. Die Grünen haben keine Macht da irgendetwas zu bewegen. De facto haben wir eine Türkis/Blaue Flüchtlingspolitik obwohl die Blauen gar nicht in der Regierung sind denn Türkis übernimmt ihren Part. Und diese Politik kommt gut an, da bin ich mir sicher. Die jahrzehntelange Hetze gegen Menschen aus anderen Ländern trägt Früchte und ist tief in den ÖsterreicherInnen verwurzelt. Der Schmäh mit der “vor Ort Hilfe” funktioniert genau so gut wie das Verteilen von Hilfsgütern an österreichischen Bahnhöfen. Und auf irgendwelche Produkte verzichten zu Gunsten einer menschlicheren Welt? Die Menschen sind ja nicht einmal bereit auf etwas zu verzichten um das Klima menschenfreundlich zu erhalten nicht einmal wenn sie selber darunter leiden.

  8. “Wann hören wir auf, mit diesen Staaten Handel zu betreiben, anstatt die oppositionellen Kräfte in diesen Ländern zu stärken und demokratische Verhältnisse zu forcieren?”

    Wann hat der Westen je von Saudi-Arabien demokratische Verhältnisse gefordert oder gar forciert? Es ist mir noch nicht einmal aufgefallen, dass man von einem “Regime” Saudi-Arabien gesprochen hat. Auch nicht von einem Machthaber, sondern von einem König. Wir gehen sehr speziell mit Bezeichnungen um.

    Wir werden erst dann aufhören, mit diesen Ländern Handel zu treiben, wenn wir deren Rohstoffe nicht benötigen. Das wird noch sehr lange dauern. Bis dahin wird Russland, weil es böse ist, mit Sanktionen belegt, aber Saudi-Arabien nicht. Die Oligarchie USA darf auch nicht beleidigt werden. Menschenrechte hin, Menschenrechte her.

      • Richtig, aber von Weißrussland beziehen wir kein Öl und kein Gas – zumindest soviel ich weiß. Kali-Produkte gehen eher nach China.

      • “Heute ruft eine Regierungspartei dazu auf, Geflüchteten geltendes Recht zu verwehren” … oops, hab’ wohl “Gesunden” gelesen …

  9. Ihr Artikel gefällt mir, Herr Wisser. Ein paar Anmerkungen seien gestattet: Die individuelle Hilfe aus Nächstenliebe hat keine Haken, sie entbindet die Politik von gar nichts. Allerhöchstens tut sie das in der Wahrnehmung von Politikern. Und nicht nur die Konsument*innen von Erdöl und Erdölprodukten stützen Unrechtsregimes, sondern auch die Konsument*innen von Lithium (Elektroautos) und Materialien für die alternativen Energieerzeuger. Auch die Konsument*innen von Handys und Computern. Also wir alle, ich und Sie eingeschlossen.

    • In C-Zeiten ist Solidarität nicht horizontal und respektiert die andere Person nicht. Sie wird im Gegenteil als Unterwerfung unter ein diktatorisches, verfassungswidriges Regime verstanden.

      • 👍 Weil den Leuten eingeredet wird das sei Solidarität. Hatten wir schon mal so etwas. Kommt aus dieser Zeit nicht das Wort “Volksschädling” für Leute die sich angeblich nicht solidarisch verhalten?

        • Genau und bei “staatsfeindlich” (Ulrike Schiesser, Psychoanalytikerin, Psychotherapeutin und „Sekten-Expertin“, da auch in der Bundesstelle für Sektenfragen beschäftigt.) sind wir bereits angelangt.

          • Dieses Psychogequatsche nervt mich ohnehin schon die ganze Zeit. Die Leute in eine Schublade zu stecken und einen Zettel daran zu hängen ist übel. Zu Beginn der Pandemie als die Leute ihre Hamsterkäufe tätigten, hat doch glatt ein Psychologe behauptet die Leute würden eben versuchen mit einem Glas Sugo ein Stückchen Normalität aufrecht zu erhalten. So ein Unsinn. Keiner wusste damals um was es sich genau handelt und man konnte jederzeit in Quarantäne landen. Was ist da so absonderlich daran, sich Vorräte anzulegen? Und das sich Leute (besonders wenn sie nicht zur Risikogruppe gehören) nicht mit einer neuen Impfstofftechnologie impfen lassen wollen. Was ist daran absonderlich? Oder das die Leute nicht mitmachen wollen, wenn man ihnen die Existenzgrundlage nimmt indem man ihnen den Betrieb zusperrt und sie dann mit ein par Cent als Entschädigung abspeist, was soll daran so absonderlich sein? Absonderlich ist in meinen Augen die Auslegung dieser Psychoklemptner..

          • Es gibt sehr gute ‘Psychoklemptner’, es gibt auch sehr gute Ärzte, aber die werden nicht mehr gehört.

          • U. Schiesser braucht wohl dringend ein paar Supervisionsstunden. Oder mal ein wenig die Meinung der Wissenschaft (nicht der Auftragswissenschaft) studieren, statt gegen die Menschen zu hetzen. Was diese Person von sich gibt, ist demokratiefeindlich.

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