Freitag, April 19, 2024

Internationale Pressestimmen zu Afghanistan

Es ist das Thema, dass die internationale Presse dominiert: Die Lage Afghanistans nach der Machtübernahme durch die Taliban. Ein Überblick:

 

Wien, 17. August 2021 |

“El País” (Madrid):

“Jede politische Analyse verblasst angesichts der Lage, die sich nun für die Afghanen ergibt, die nicht in diese Flugzeuge steigen können. Insbesondere für die Frauen im Land. Dringend erforderlich sind operative und logistische Vorkehrungen für die Versorgung derjenigen, die wohl bald unter der Gewalt leiden werden, wenn die Taliban ihre Gnadenfrist beenden, in der es ihnen offenbar vorrangig darum geht, die Ordnung aufrechtzuerhalten, ohne sich zu rächen. (…) Konkrete Hilfszusagen der Europäischen Union und der USA sind dringend erforderlich. Der vollständige Abzug aus Afghanistan war ein riskantes Unterfangen, bei dem die USA ihr internationales Ansehen als militärischer Partner aufs Spiel gesetzt haben. Für die Afghanen ging es sogar um ihr Leben. Beide sind der Großzügigkeit einer Gruppe von Fanatikern ausgeliefert.”

“The Times” (London):

“Die Machtübernahme durch die Taliban wird für die afghanische Bevölkerung, insbesondere für die Frauen, Leid und Unterdrückung zur Folge haben. Sie wird einen erneuten Flüchtlingsstrom nach Pakistan und in andere Nachbarstaaten auslösen und ein Wiederaufleben des islamistischen Terrorismus nach sich ziehen, mit dem die US-geführte Intervention im Jahr 2001 ursprünglich gerechtfertigt worden war. Und sie wird das Vertrauen der freien Welt und von Dissidenten in autokratischen Staaten in die amerikanische Führung beschädigen. (…)

Joe Bidens Politik weist Kontinuitäten zu jener der Trump-Regierung auf, die im vergangenen Jahr ein Abkommen mit den Taliban ausgehandelt hat. Doch dieses Abkommen verlangte von den Taliban, sich auf Verhandlungen einzulassen, die Angriffe auf US-Truppen einzustellen und die Verbindungen zu Al-Kaida zu kappen. Biden verlangt von ihnen nichts; der Rückzug ist bedingungslos. Ein vom Weißen Haus am Sonntag veröffentlichtes Foto zeigt Biden, wie er allein dasitzt und die Berichte aus Afghanistan verfolgt. Die unterschwellige Botschaft lautet, dass nichts zwischen den Taliban und ihrem Ziel steht, einen theokratischen Staat zu errichten.”

“de Volkskrant” (Amsterdam):

“Die große Enttäuschung nach 20 Jahren westlicher Intervention besteht auch in der Erkenntnis, dass man einem konservativen und ethnisch zerstrittenen Land offensichtlich keine moderne Demokratie auferlegen kann, wenn es dazu nicht bereit ist. Das war auch die Schlussfolgerung von US-Präsident Joe Biden, dem man nun vorwirft, seine Truppen zu schnell abgezogen zu haben.

Die Frage ist, ob diese Entwicklung angesichts der schwachen Position der afghanischen Regierung und der Weigerung der Taliban, über eine Teilung der Macht zu verhandeln, nicht vorhersehbar gewesen wäre. Für die Afghanen kann man jetzt nur noch hoffen, dass die Taliban mit ihrer gemäßigteren Tonart tatsächlich internationale Anerkennung und nationale Legitimität anstreben.”

“Tages-Anzeiger” (Zürich):

“Peking ist darauf angewiesen, einen Draht zu den Machthabern in Kabul zu pflegen – egal, wer diese sind. Das Land teilt sich eine 76 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan. In der Region Xinjiang rechtfertigt es die Unterdrückung und Internierung Hunderttausender Uiguren mit dem angeblichen Kampf gegen Extremismus und Terrorismus.

Die Angst ist groß, dass religiöse Extremisten in Afghanistan eine Basis finden, deren Wut sich gegen China richtet. In Gefahr sind auch Chinas Investitionen in der Region. 60 Milliarden US-Dollar hat es in Pakistan investiert, ein wichtiges Projekt, das Peking auch einen Zugang zum Indischen Ozean sichert.”

“Neue Zürcher Zeitung”:

“Die Armee hat hingeschmissen, zur befürchteten Schlacht um Kabul ist es nicht gekommen. Man mag darüber erleichtert sein. Doch dass die Amerikaner und ihre Verbündeten Millionen von Afghanen, die nicht unter islamistischer Herrschaft leben wollen, einfach im Stich lassen – das ist eine Schande und ein globales Desaster. Niemand weiß mehr, wofür die Amerikaner einstehen. Der internationale Dschihadismus triumphiert.

Wie geht es weiter? Die Taliban haben klargemacht, dass es eine Übergangsregierung nicht geben wird, sie erwarten die ‘komplette Machtübergabe’. (…) Am Montag hieß es, schon bald werde das ‘Islamische Emirat Afghanistan‘ wieder ausgerufen, das die Taliban während ihrer ersten Regierungszeit 1996 bis 2001 gegründet hatten. Eine Rückkehr zum Steinzeit-Islamismus ist damit nicht ausgeschlossen, ebenso wenig, dass das Land wieder zur Schutzmacht internationaler Terrorgruppen wie der Al-Kaida und dem IS wird.”

“Wall Street Journal” (New York):

“Präsident Biden erklärte der Welt am Montag, dass er seine Entscheidung, sich schnell aus Afghanistan zurückzuziehen, nicht bereue. Auch nicht die chaotische und inkompetente Art und Weise, wie der Rückzug ablief. (…) Biden weigerte sich, die Verantwortung für den verpfuschten Rückzug zu übernehmen, und gab anderen die Schuld. Er gab Donald Trumps Friedensabkommen mit den Taliban die Schuld und behauptete erneut fälschlicherweise, er sitze in der Falle. Er gab seinen drei Vorgängern die Schuld dafür, sich nicht aus Afghanistan zurückgezogen zu haben.

Er beschuldigte die Afghanen, nicht hart genug zu kämpfen, ihre Anführer, zu fliehen, und sogar die Afghanen, die uns geholfen hatten, nicht früher das Land verlassen zu haben. Die einzige Gruppe, die er auffälligerweise nicht beschuldigte, waren die Taliban, die einst Osama bin Laden beherbergten und möglicherweise seinen terroristischen Nachfolger schützen. (…)

Wir hatten gehofft, dass Herr Biden etwas Verantwortung übernehmen und erklären würde, wie er dieses Chaos beheben will. Er hat nichts von alledem getan und damit deutlich gemacht, dass er selbst der Hauptverantwortliche für diese unnötige amerikanische Kapitulation ist. Das verheißt nichts Gutes für den Rest seiner Präsidentschaft. (…) Während wir diese Zeilen schreiben, suchen die Schurken der Welt nach Möglichkeiten, ihm eine Chance zu geben, eine ähnliche Rede über andere Teile der Welt zu halten.”

“Jyllands-Posten” (Aarhus):

“Entgegen Bidens Behauptungen gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die afghanische Armee nicht bereit gewesen wäre, den Kampf gegen die Taliban aufzunehmen, wenn sie die Unterstützung – insbesondere aus der Luft – von den USA und ihren Verbündeten gehabt hätte. Es sollte keine unüberwindbare Aufgabe für Kampfsoldaten sein, die ihren Vorgesetzten vertrauen, Männer in Pickups zu besiegen. Aber wenn der afghanische Präsident Ashraf Ghani kampflos kapituliert und als einer der ersten nach Tadschikistan flüchtet, ist das nicht nur erbärmlich, sondern auch eine Folge des monumentalen Versagens von Präsident Biden.”

“De Standaard” (Brüssel):

“Die Einnahme Kabuls durch die Taliban ist eine Demütigung für US-Präsident Joe Biden, die noch lange nachwirken kann. Der Mann, der das Land erfolgreich aus der Coronakrise zu führen schien und lange erwartete gesellschaftliche Reformen in Gang setzte, steht nun im Zentrum kritischer Fragen, wie sich die USA von einer außer Kontrolle geratenen afghanischen Miliz ausspielen lassen konnten. (…)

Es wäre falsch, Biden als den einzigen Verantwortlichen darzustellen. Sein Vorgänger Donald Trump hatte den Beschluss gefasst, den Krieg in Afghanistan rasch zu beenden. Aber die Verantwortung für das Chaos, das wir in den vergangenen Tagen erlebt haben, liegt durchaus bei der heutigen amerikanischen Regierung. Für Biden ist es nun wichtiger denn je, dass seine inländischen Vorhaben erfolgreich sind. Wenn er damit punkten kann, besteht die Chance, dass die Wähler das Kapitel Kabul rasch umblättern. Die kommenden Monate dürften entscheidend sein für den Erfolg seiner Präsidentschaft.”

“Nesawissimaja Gaseta” (Moskau):

“Der afghanische Präsident Ashraf Ghani hat die Unterstützung großer ausländischer Staaten weitgehend verloren. Es ist unklar, wie sich die Beziehungen zwischen diesen Ländern und den Taliban entwickeln werden. Es wird vermutet, dass die Radikalen eine stillschweigende Zustimmung aus China erhalten haben, die bald öffentlich und ausgesprochen werden könnte. Angeblich ist China bereit, eine solche Herrschaft in Afghanistan im Gegenzug für die Nichteinmischung in interne chinesische Angelegenheiten zu unterstützen. Mit anderen Worten: Peking setzt darauf, dass Afghanistan keine uigurischen Separatisten beherbergt.

Nichteinmischung ist ein wichtiges Thema, das immer dann zur Sprache kommt, wenn von Afghanistan die Rede ist. Kann man wirklich ignorieren oder stillschweigend akzeptieren, was in einem anderen Land geschieht, wenn dort radikale Islamisten an die Macht kommen? Natürlich gibt es den Grundsatz der Souveränität. Jede Nation wählt ihren eigenen Weg. Die Taliban hätten die Kontrolle über Afghanistan nicht erlangt, wenn sie nicht die Unterstützung der Bevölkerung gehabt hätten. Jahrelang haben andere Regierungen es nicht geschafft, die Afghanen davon zu überzeugen, dass Radikalismus bösartig ist.”

“Pravo” (Prag):

“Statt auf politische Berater zu hören, hätte man jeden beliebigen US- oder NATO-Soldaten fragen können. Vom Offizier bis zum General wussten alle, dass die afghanischen Regierungskräfte weder fähig noch bereit sind, den Taliban entgegenzutreten. Das Problem lag nicht in der Qualität der Ausrüstung oder der Ausbildung. Es ging ums Prinzip: Nur wenige junge afghanische Männer waren bereit, gegen das eigene Volk zu kämpfen, um eine Ordnung zu errichten, die ihnen selbst fremd war – noch dazu unter der Aufsicht ungläubiger Ausländer.”

“Magyar Nemzet” (Budapest):

“Aus der Endlosschleife des Internets dringen die Worte (des US-Präsidenten) Joe Bidens vom letzten Juli an unser Ohr: Nein, es stimmt nicht, dass die afghanische Regierung zusammenbrechen wird; nein, es stimmt nicht, dass die Machtübernahme der Taliban unvermeidlich ist. (…) Dieser alte Mann im Ausgedinge hatte keine Ahnung, was ihn und die Welt in Afghanistan erwarten würde. (…) Das hässliche Desaster erinnert an das Fiasko von Vietnam und die 1975 in Saigon abhebenden letzten amerikanischen Helikopter. Es wird an Biden kleben bleiben wie Kot am Schuh, wie Watergate an Nixon, wie die pikanten Geheimnisse des Oval Office an Bill Clinton.”

“Corriere della Sera” (Mailand):

“Biden war allergisch gegen eine Aufschiebung des Pentagons und war dennoch davon überzeugt, dass der Rückzug geordnet erfolgen könnte. Stattdessen nahm das Schreckgespenst von Saigon 46 Jahre später erneut Gestalt an: ein Versagen von Politik, Militär und US-Geheimdiensten mit Analysten. Letztere unterteilen sich jetzt in diejenigen, die die Risiken einer Rückkehr des radikalen jihadistischen Terrorismus als ernster einschätzen, der ein Gebiet zurückerobert hat, in dem ein islamisches Emirat geschaffen werden soll, und diejenigen, die den Verlust der Glaubwürdigkeit der USA und des Westens für schwerwiegender halten.

Es öffnet sich eine Leere, die der Iran, Russland und China ausnutzen können. Peking sieht im chaotischen Rückzug dieser Stunden eine Bestätigung seiner These: der unvermeidliche amerikanische Niedergang, ein Zustand, der auch das chinesische Regime dazu anstiften könnte, gefährliche Abenteuer zu wagen. Vielleicht auf anderen Schauplätzen wie Taiwan.”

“Dziennik Gazeta Prawna” (Warschau):

Afghanistan ist ein weiteres schlechtes Signal für die Verbündeten der USA auf der ganzen Welt. Nicht nur für Länder in der Krise, sondern auch für Länder an der Ostflanke der NATO (Polen und Rumänien) und in Südostasien (Taiwan und die Philippinen). Unter dem früheren US-Präsidenten Donald Trump zogen die Amerikaner ohne Konsultationen mit ihren Bündnispartnern ihre Hilfe für die in Syrien kämpfenden Kurden ab. Den Irak überließen sie der Gnade der schiitischen Milizen.

In unserer Region haben die USA den Streit um die (deutsch-russische Pipeline) Nord Stream 2 kampflos aufgegeben. Kein bedeutender Politiker der USA wird kommende Woche nach Kiew reisen, um an der Feier zur 30-jährigen Unabhängigkeit der Ukraine teilzunehmen. Um Russland nicht zu ärgern. Ein ähnliches Desinteresse herrscht auch im Verhältnis zu Belarus. Donald Trump hatte den Rückzug Amerikas begonnen. Joe Biden verkündete: ‘America ist zurück’. Aber momentan sieht es mehr nach Rückzug aus als nach einer Rückkehr ins Spiel.”

“Duma” (Sofia):

“Die Ereignisse in Kabul, die wir bald auch im Irak, in Kurdistan und anderswo sehen werden, wo man den amerikanischen Versprechungen Vertrauen schenkt, sind ein Zeugnis für die Überspannung der Kräfte eines Imperiums, das unter seiner eigenen Last recht wenig Luft bekommt. Amerika kann nicht mehr gleich stark und gleich glänzend überall und gleichzeitig sein. Es hat zu viele Fronten, zu viele Feinde, zu viele Probleme daheim und in der Welt, die der Weltpolizist wirksam und erfolgreich bewältigen könnte.”

(apa/bf)

Titelbild: APA Picturedesk

Benedikt Faast
Benedikt Faast
Redakteur für Innenpolitik. Verfolgt so gut wie jedes Interview in der österreichischen Politlandschaft.
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7 Kommentare

  1. Für die Frauen und Mädchen in Afghanistan heisst es nun, nach Jahren von Hoffnungsschimmern, quasi “Back to black”.

  2. Seltsam, dass der Name Obama nirgends auftaucht. Vor 10 Jahren (2011) wollte er 34 000 Soldaten aus Afghanistan abziehen. Ob er es getan hat, weiß ich nicht. 10 Jahre später zieht Biden alle Soldaten ab. Das Datum fällt mir auf. Will man einen anderen Gesprächsstoff in den Medien als die Debatte um die wahren Hintergründe von 9/11? Zuerst 10, dann 20 Jahre danach?

    Madame Nhu (Vietnam) : Wer die Amerikaner als Alliierte hat, braucht keine Feinde.

  3. Danke @ZackZack dass ihr versucht objektiv zu berichten was einem neutralen Land würdig ist und nicht wie die ÖVP (und andere) völlig haltungs- und charakterlos der US Propaganda verfallen.

    Die Nordatlantische Terrororganisation führt Krieg und die vertriebenen Menschen flüchten nach Europa, nicht in die USA. 🤡

    Schön brav zum McDonalds gehen und die Pappm halten, damit Uncle Sam nicht auch noch auf die Idee kommt in Österreich einzumaschieren.

    • Und wenns’t das nicht tust, dann wirst du ins Mittelater gebombt (Libyen)

      • Zuerst sanktioniert und dann bombadiert, seit dem Zerfall Jugoslawiens hat sich genau nichts verändert. Die Amis führen Krieg und unterstützen “moderate Rebellen” während die im Widerstand als “TerroristInnen” bezeichnet werden. Menschen flüchten nach (Nordwest)europa, wo durch Unterstützung regierungsnaher Medien die Gefahr des “politischen Islam” in die Köpfe der einheimischen Bevölkerung gepflanzt wird. Sehen Sie sich einmal die aktuelle Propagandainitiative der USA auf Twitter usw. an, es werden nicht die Taliban kritisiert sondern der Islam per se. Gleichzeitig sind sie aber engstens mit den Saudis verbandelt, die als Brutstätte des Wahhabismus gelten.

        Langsam scheint es als kommen die vier apokalyptischen Reiter näher:
        USA (Imperialismus), Saudi Arabien (Wahhabismus), Israel (Zionismus) und China (Faschismus)

        Rette sich wer kann…

        Ach ja, für das türkise Protokoll, hier handelt es sich wie immer um Satire.

        • Ehemaliger afghanischer Gouverneur: “Die amerikanische Freundschaft ist nie eine Freundschaft”
          (…) gestürzt habe, um das Land dann quasi dem islamischen Staat zu überlassen. Auch in Syrien und Libyen zeige sich ein ähnliches Vorgehen der USA, so Haiwad. Die USA seien nur so lange ein Verbündeter und Freund, wie es ihren eigenen Interessen diene. Die Ereignisse in Afghanistan seien im Hinblick auf die US-amerikanische Politik eine gute Lektion für alle Politiker in der Welt.(…)
          Quelle: RT DE

          • Die haben die Kurden auch verraten und sie an die türkische Armee zum Sterben ausgeliefert. Den Amis kann man nicht vertrauen, sie beweisen es immer und immer wieder.

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