Samstag, April 20, 2024

20 Jahre Afghanistan – von Eugen Freund

von Eugen Freund

Eugen Freund wirft einen ausführlichen Blick in die Geschichte Afghanistans seit dem Einmarsch der Amerikaner nach den Anschlägen vom 11. September 2001.

 

Eugen Freund

Wien, 19. August 2021 | Es ist erstaunlich, wie wenig sich in Afghanistan in zehn Jahren verändert hat. Oder genauer: in den etwas mehr als zehn Jahren bis zum 15. August 2021, dem endgültigen Umsturz durch den Fall der Hauptstadt Kabuls. Dieser Zeitraum wurde nicht willkürlich gewählt: 2011 schrieb ich das Buch „Brennpunkte der Weltpolitik – wie alles mit allem zusammen hängt“ (Verlag Kremayr und Scheriau), in dem ich ein ausführliches Kapitel auch dem Staat am Hindukusch und den Taliban widmete. Einige der heutigen Mitspieler, wie etwa Taliban-Chef  Mullah Abdul Ghani Baradar, tauchen schon damals auf, Erkenntnisse, dass etwa die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte die Lösung für das Land sei, haben sich als Schimäre heraus gestellt. Vieles aus dem Buch dient auch heute zum besseren Verständnis der Lage im Land. Nachfolgend einige Auszüge:

Weil Afghanistan zu einem der korruptesten Staaten der Welt zählt, gehört die Beschaffungskriminalität zum Alltag. Allein im Jahr 2008, so geht aus einem Bericht der Vereinten Nationen hervor, sind afghanische Beamte mit mehr als eineinhalb Milliarden Euro bestochen worden. Drogen und Bestechungsgelder gehören nach Auskunft von Antonio Maria Costa, dem zuständigen UNO-Direktor, zu den beiden wichtigsten Einkommensquellen des Landes. Jeder zweite Afghane musste zumindest einmal einem Polizisten, Politiker, Richter oder Regierungsbeamten Bestechungsgeld bezahlen. Sie erwerben sich dadurch nicht vielmehr als etwas, das in jedem anderen zivilisierten Land als selbstverständlich gilt: Dokumente, Zeugnisse, Baugenehmigungen, Durchfahrten, etc. Im Schnitt wandern rund 120 Euro über oder unter dem Tisch, bei einem Pro-Kopf-Jahreseinkommen von rund 350 Euro eine beachtliche Summe.

Die USA sind sich – vielleicht unter Barack Obama mehr so als unter George Bush – bewusst, dass dieser Staat nicht wie eine normale westliche Demokratie funktioniert, oder besser: dass er als Staat gar nicht funktioniert. Mit Schuld daran sind natürlich auch die Kriege, die seit zumindest drei Jahrzehnten in diesem Land wüten. Aber die Struktur des Landes war immer schon mehr von den Stämmen geprägt, die seit tausenden Jahren dort ansässig sind.

Im Laufe der Jahrhunderte haben sich Paschtunen, Tadschiken, Hazaras und Usbeken in den verschiedenen Landesteilen fest gesetzt, die zusammengehörigen Stämme sind meist auch miteinander verwandt. Geleitet werden sie von den Stammesältesten, die dafür sorgen, dass ihre Untergebenen vor Angriffen anderer Stämme geschützt werden, dass sie materielle Unterstützung bekommen und dass diejenigen, die sich irgendwelcher Vergehen oder gar Verbrechen schuldig machen, entsprechend bestraft werden.

Sowjetische Panzer in Afghanistan, Mitte der 1980er-Jahre.

Als die Sowjetunion im Jahre 1979 in Afghanistan einmarschierte, um dort ein Regime zu stützen, das ihr freundlich gesinnt war, folgten zehn Jahre grausamer Bombardements und Zerstörung. 30.000 Siedlungen und Ortschaften wurden dem Erdboden gleich gemacht, selbst in Städten wie Kandahar, das von Alexander dem Grossen gegründet wurde, wurde ganze Bezirke in Schutt und Asche gebombt. Insgesamt sind durch sowjetische Bomben, Granaten und Sprengsätze sowie bei Feuergefechten 1,3 Millionen Afghanen ums Leben gekommen. John F. Burns, einer der erfahrensten Kriegsberichterstatter der New York Times, berichtet im Jahr 1990 von seinem Besuch in Afghanistan:

„Als ich durchs Land reiste, wurde ich mit einer Zerstörung konfrontiert, die alles übertraf, was ich in anderen Kriegen miterlebt hatte. In Darwaza-i-Mashad, einem Bezirk der 2500 Jahre alten Stadt Herat, lag jedes Haus in Trümmern. In den Strassen, die voll von Leben erfüllt waren, als Alexander drei Jahrzehnte vor der Geburt Christi mit seinen Soldaten durchzog, war nichts zu sehen als Trümmer, die mit Unkraut überzogen waren. Ein russischer Übersetzer, der während der sowjetischen Besatzung im Land gearbeitet hatte, begann zu weinen, als er die Zerstörung betrachtete: ‚Sehen Sie, was wir angerichtet haben“, sagte er, ‚Mein Gott, wie wird man uns vergeben können?’“

Mit amerikanischer Unterstützung – aber auch mit Hilfe von China, dem Iran und Saudi Arabien – wurden die Sowjets aus dem Land gejagt. Die USA, die vor allem während der Reagan-Regierung höchst interessiert daran waren, der Sowjetunion eine Niederlage zu bereiten, versorgten die Rebellen mit Waffen, darunter so tödlichen Geschossen wie die Stinger-Raketen, mit denen ein einzelner Kämpfer von seiner Schulter aus sowjetische Kampfflugzeuge und Hubschrauber abschießen konnte. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade auch jene Mudschaheddin, aus denen später die Taliban hervorgingen, zu den besonders bevorzugten Günstlingen der USA gehörten.

Doch mit dem erzwungenen Rückzug der Sowjets war der Krieg in Afghanistan nicht zu Ende. Die Regierung von Mohammed Nadschibullah in Kabul stand zwar mit dem Rücken zur Wand, gab aber nicht auf. Kabul, Kandahar, Herat und andere größere Städte wurden von den Rebellen angegriffen, blieben jedoch in der Hand der Regierungstruppen. Nach und nach wurden die Risse zwischen den einzelnen ethnischen, religiösen und politischen Gruppen des Landes immer tiefer. Das führte dazu, dass einige Stämme den Kampf gegen die Regierung aufgaben, andere begannen sich gegeneinander umzubringen. Besonders blutig verliefen dabei die Kämpfe zwischen der Islamischen Partei des Gulbuddin Hekmatjar (der in der aktuellen Auseinandersetzung, also 20 Jahre danach, neuerlich eine entscheidende Rolle spielen sollte) und Burnahuddin Rabbanis Islamischer Gesellschaft. Andere Stammesführer sahen wiederum im Handel mit Opium eine viel sicherere Einnahmequelle und sorgten so mit dem Anbau von Mohn, dass Afghanistan rasch zu zum zweitwichtigsten Drogen-Lieferanten nach dem berühmt-berüchtigten „Goldenen Dreieck“ von Burma, Thailand und Laos wurde.

1994 erschienen die Taliban erstmals als bedeutende Macht auf der politischen Bühne Afghanistans. Sie waren ursprünglich sunnitische Studenten, die in Pakistan ausgebildet wurden. Aus jener Zeit stammt auch die enge Bindung des pakistanischen Geheimdienstes (ISI) mit den Taliban – eine ihrer ersten Aufgaben bestand darin, einen afghanischen Konvoi zu schützen. Sie bekamen immer mehr Zuspruch, vor allem aber militärische Unterstützung, die schließlich dazu führte, dass sie praktisch die gesamte Macht in Afghanistan an sich rissen, zum Teil mit Gewalt, zum Teil aber auch durch Verbindungen mit anderen ethischen Gruppen. Präsident Nadjibullah bekam den Hass und die Gewalt der Taliban am eigenen Leib zu spüren: er wurde gefangen genommen, gefoltert und dann auf offener Straße in Kabul gehängt.

Die Jagd nach Osama bin laden war der wichtigste Grund für die USA, Krieg in Afghanistan zu führen.

Die Taliban errichteten, was im Nachhinein als ein „Schreckensregime“ bezeichnet wurde. Alles was nur den Anschein von westlicher Dekadenz bildete, wurde verboten, vor allem Frauen und Mädchen litten unter der puritanischen Gesetzgebung. Sie durften keine Schule mehr besuchen und mussten in der Öffentlichkeit mit Vollschleier auftreten. Selbst vor Folterungen und öffentlichen Hinrichtungen von Frauen schreckten die Taliban nicht zurück. Auf jene Zeit geht auch deren Allianz mit der Terrorgruppe Al Kaida unter Osama Bin Laden zurück.  Diese Verbindung wiederum führte indirekt zu ihrem Niedergang: nach dem Anschlag vom 11. September 2001 forderten die USA die sofortige Auslieferung von Bin Laden durch die Taliban. Sie weigerten sich jedoch, dem Verlangen der Amerikaner nachzugeben.  Gleichzeitig führte auch die Nordallianz, eine Vereinigung von Anti-Paschtun-Kräften aus Tadschiken und Usbeken, einen Feldzug gegen die  Taliban. Mit Unterstützung der USA, die gemeinsam mit der NATO nach den Terroranschlägen Afghanistan den Krieg erklärt hatten, wurden die Taliban schließlich von der Macht vertrieben. Die meisten flohen nach Pakistan, wo sie weiterhin durch den Geheimdienst unterstützt wurden oder zogen sich in die gebirgige Region des Grenzgebietes zurück. Trotz des nun schon neun Jahre dauernden Konflikts mit der Supermacht USA nahm der Einfluss der Taliban in den Jahren 2009 und 2010 wieder zu.

Eine zentrale These jener Zeit war, dass es die frühere amerikanische Regierung verabsäumt hatte, genug Truppen nach Afghanistan zu schicken. Anstatt einen unnötigen Krieg gegen den Irak zu führen, so argumentierte Barack Obama, wäre es richtiger gewesen, dort massiv aufzutreten, wo der Terror seinen Ausgang gefunden hatte.

Sieben Jahre nach Beginn des Afghanistan-Feldzuges musste sich Obama, mittlerweile zum Präsidenten gewählt, der Angelegenheit nun selbst intensiv annehmen.

Anfang 2009 ließ er erstmals das Truppenkontingent aufstocken. Schon waren erste kritische Stimmen zu hören, die von einer „Vietnamisierung“ des Afghanistan-Konfliktes sprachen. Ähnlich wie in den 1970er Jahren wurde die Befürchtung geäußert, die USA würden sich immer mehr in einem Krieg engagieren, der nicht zu gewinnen war und nur immer größere Verluste in den eigenen Reihen fordern würde. Aber Obama ließ sich davon nicht beirren.

Präsident Obama hält eine Rede vor US-Truppen. Er hat gerade die Mitglieder jener Einheit ausgezeichnet, die Osama bin laden tötete.

Im März 2010 hielt er eine Rede, in der er sich ausführlich mit dem Vorgehen in Afghanistan und, damit verbunden, in Pakistan beschäftigte. Ihm war es dabei auch wichtig, die Frage zu beantworten, die sich viele Amerikaner stellten: Warum sind die USA in Afghanistan engagiert? Warum kämpfen amerikanische Soldaten nach so viel Jahren immer noch in diesem Land? Und er lieferte auch gleich die Antworten nach: „Wir haben ein klares Ziel vor Augen: die Terrororganisation Al Kaida muss gesprengt, unbrauchbar und zerstört werden. Und sie darf sich nicht wieder in Pakistan oder in Afghanistan festsetzen. Dieses Ziel muss erreicht werden. Das ist eine Angelegenheit, die gerechter nicht sein kann.“ Obama kam auch auf die veränderte Strategie zu sprechen, die er nun anzuwenden vorhatte: „Wir werden verstärkt afghanische Sicherheitskräfte ausbilden, so dass sie in Hinkunft selbst für die Sicherheit ihres Landes sorgen können.  Nur auf diese Art und Weise werden wir in der Lage sein, unsere Truppen wieder nach Hause zu bringen.“ (Diese Fehleinschätzung, die jetzt zum „unerklärlich raschen“ Fall der Hauptstadt geführt hatte, hatte also schon einen frühen Ursprung. Anm. d. Autors)

Zuvor müsse sich freilich auf der Ebene der Rechtsordnung und der Zivilgesellschaft noch viel tun, sagte Obama. (Wobei aus heutiger Sicht in Afghanistan wohl nicht so bald eine „Zivilgesellschaft“ im westlichen, demokratischen Sinn zu erwarten ist…) Und kündigte an, auch das Kontingent der zivilen Berater stark zu erhöhen. „Wir brauchen Agraringenieure, Lehrer, Baufachleute und Rechtsanwälte. Nur auf diese Weise können wir den Afghanen helfen, eine wirtschaftliche Grundlage aufzubauen, die sich nicht auf illegale Drogen stützt… Wenn wir nicht in ihre Zukunft investieren, werden unsere Bemühungen scheitern.“

Einige Monate danach überraschte Barack Obama seine Kritiker mit der Ankündigung, noch weitere 30.000 Soldaten in das Kampfgebiet zu entsenden, zusätzliche 10.000 sollten von den europäischen Verbündeten bereitgestellt werden.

Mitte März 2010 berichteten US-Medien über eine neue Strategie der Amerikaner: sie würden entgegen ihrer bisherigen Haltung Mohn-Felder nicht mehr zerstören und so den Bauern ihre wichtigste Einnahmequelle wegnehmen. Vor allem im Süden des Landes macht der Mohnanbau den USA große Sorge. Aber seit die Obama Administration im Amt ist, wird dieses Problem von verschiedenen Seiten angegangen: einerseits werden die Felder weiterhin zerstört, anderseits gibt es auch finanzielle Unterstützung für jene Bauern, die sich auf andere Saaten umstellen. Was aber die jetzige Politik von früher unterscheidet ist, dass man nun nicht mehr die Bauern bestraft, sondern jene Händler, die mit dem Opium große Geschäfte machen.

Das klingt in der Theorie einigermaßen einleuchtend, in der Praxis gehen aber amerikanische Soldaten einen anderen Weg. In der Umgebung der Stadt Marja, die von NATO-Truppen im Frühjahr den Taliban entrissen wurde, werden die Mohnfelder völlig in Ruhe gelassen. „Wir werden doch nicht die Lebensgrundlage der Leute zerstören, die wir für uns gewinnen wollen,“ zitiert die New York Times den Kommandanten Jeffrey Eggers. Und so sieht man in dieser Gegend US-Soldaten neben den Mohnfeldern auf Patrouille. Was freilich in amerikanischen Medien kaum Beachtung findet, ist die Tatsache, dass gerade auch die in Afghanistan im Einsatz befindlichen Soldaten zu regelmäßigen Konsumenten von Rauschgift gehören – sie kaufen den Stoff um viel Geld von genau den Dealern ab, die sie eigentlich festnehmen wollen. Rund 300 Millionen Dollar nehmen die Taliban jährlich aus dem Drogenhandel ein.

Die USA und ihre Verbündeten erleiden hohe Verluste durch Sprengstoffattentate.

Die Stadt Marja war nicht nur ein Testgebiet für den Mohnanbau, sondern hier wurde auch eine neue Strategie erprobt. Weil die Zentralregierung kaum Ansehen und daher auch kaum über Einfluss genießt (vor allem was Polizei und Justizverwaltung betrifft), wollte man in Marja ein Exempel statuieren: die Stadt sollte nicht so wie bisher nur von feindlichen Kräften geräumt werden, die dann nur warten, bis die Soldaten abgezogen sind, um wieder ihr Terrorregime aufzunehmen, sondern neben den NATO-Truppen sollte ein großes afghanisches Truppenkontingent für so etwas wie Recht und Ordnung sorgen, auf längere Sicht. Amerikanische Marinesoldaten, die in der Stadt patrouillieren, gaben pro Woche hunderttausende Dollar aus, um jene Bürger zu gewinnen, deren Häuser beschädigt wurden oder denen man Arbeit anbietet, damit sie sich nicht von den Taliban verführen lassen. Doch die Taliban sind überall – und verwenden ihre eigenen Methoden, wenn sie erfahren, dass jemand mit den Amerikanern kollaboriert. Peitschenhiebe als Strafe sind noch relativ harmlos, andere werden entführt, gefoltert und dann ermordet – und werden so zu Warnsignalen für alle, die ähnliches vorhaben oder schon unternahmen. (…)

Für Afghanistan-Kenner gibt es nur einen Ausweg aus dem Dilemma, in dem das Land steckt: die Einbeziehung der Taliban in einen Friedensplan. Die meisten führenden Politiker sprechen freilich nur  über  die Taliban, nicht  mit  ihnen. Eine Ausnahme war Kai Eide, der norwegische UNO-Vertreter in Kabul. Er offenbarte gegenüber der BBC, dass er schon mehrfach mit ranghohen Funktionären der Taliban Gespräche geführt habe. Seit dem Frühjahr 2009 habe es immer wieder Treffen mit führenden Taliban gegeben, berichtet Eide, während des US-Präsidentschaftswahlkampfes gab es eine Pause, danach hätten die Aktivitäten wieder zugenommen. Im Frühjahr 2010 seien die Kontakte aber ziemlich plötzlich abgebrochen.

Eide führte das auf den Umstand zurück, dass ranghohe Taliban in Pakistan festgenommen oder durch gezielte Bombardements von ferngesteuerten US-Drohnen umgebracht worden seien. Eine solche Verhaftung, die zu den von Kai Eide erwähnten Abbruch der Verhandlungen geführt haben könnten, erfolgte im Februar 2010. In einer gemeinsamen Aktion des pakistanischen und amerikanischen Geheimdienstes wurde Mullah Abdul Ghani Baradar in Karachi festgenommen. (Sein Stehvermögen lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass er genau jener Mann ist, der derzeit als der mächtigste Führer des Landes betrachtet wird. Anm. d. Autors). Er gilt als der höchstrangige Taliban und soll, was seinen Einfluss betrifft, gleich nach Mullah Muhammed Omar kommen, dem Gründer der Taliban und – zumindest bis zum 11. September 2001 – engen Vertrauten Osama bin Ladens. Baradar soll nicht nur die militärischen Belange der Taliban geleitet haben, er soll auch Vorsitzender des Führungsrates gewesen sein, der sich nach der pakistanischen Stadt Quetta „Quetta Shura“ nannte.

Noch im Juli 2009 hatte Baradar für das amerikanische Nachrichtenmagazin „Newsweek“ auf einige Fragen schriftliche Antworten gegeben. Damals, noch vor der dramatischen Aufstockung durch NATO-Truppen in Afghanistan, sagte Mullah Abdul Ghani Baradar, die schon erfolgte Entsendung von zusätzlichen Soldaten habe keinen Einfluss auf die Mujaheddin gehabt. Seiner Ansicht nach seien die Amerikaner ohnehin demoralisiert und würden nicht wissen, wie sie weiter machen sollten. „Die Taliban möchten den Amerikanern möglichst große Verluste zukommen lassen und das ist nur dann möglich, wenn sie auch in großer Zahl hier anwesend sind und ihre befestigten Anlagen verlassen.“ (Newsweek 3. August 2009). Nun befindet ich Baradar selbst in einer befestigten Anlage, Afghanistan verlangte kurz nach seiner Verhaftung die Auslieferung des Gefangenen von Pakistan. Das wird freilich nur mit Zustimmung der USA passieren, die selbst großes Interesse haben, alles aus Baradar herauszupressen, was für ihre Kriegsführung von Bedeutung sein könnte. Allein im Jahr 2009 gab es im Schnitt 1200 Angriffe durch die Taliban oder mit ihnen befreundete Rebellen. Gegenüber dem Jahr davor bedeutete das eine Steigerung von 65 Prozent. Viele dieser Attacken wurden mit so genannten IEDs durchgeführt, den selbst gebastelten, primitiven Sprengkörpern, die irgendwo am Straßenrand eingegraben und dann gezündet werden, wenn Koalitionstruppen vorbeifahren. Dadurch hat sich auch die Zahl der getöteten NATO-Soldaten stark erhöht. 2008 waren es noch 295, 2009 bereits 520 und im ersten Quartal von 2010 betrug diese Zahl 140.

Mitglieder der Taliban-Führung bei einer Friedenskonferenz in Doha.

Doch die Taliban sind in Afghanistan auch politisch gefestigt. In 33 von 34 Provinzen stellen sie so genannte Schattengouverneure, deren Aufgabe darin besteht, die Versorgung der Rebellen mit den Notwendigkeiten sicher zu stellen und gleichzeitig die Initiativen der staatlichen Behörden zu unterbinden.

Die Regierung in Washington verfolgt schon seit längerem die These, die Taliban könnten nur dann eingebunden werden, wenn es vorher gelingt, sie entsprechend zurückzuschlagen. General Stanley McChrystal, der Oberkommandierende der NATO-Truppen in Afghanistan, besitzt angeblich einen Geldkoffer mit rund eineinhalb Milliarden Dollar, die er unter jenen Taliban verteilen würde, die die Waffen niederlegen. Doch bisher ist der Koffer noch kaum leichter geworden.

„Wir müssen die Al-Kaida auslöschen, aber was die Taliban betrifft, genügt es, ihre Möglichkeiten entsprechend einzuschränken.“ Robert Gates, der amerikanische Verteidigungsminister, versuchte im Oktober 2009 den anderen Kollegen und seinem Präsidenten klarzumachen, wie er sich den weiteren Fortgang in Afghanistan und in Pakistan vorstelle. Am Ende dieses Prozesses, so schloss Gates, werde es an den Afghanen selbst liegen, ob sie „die Gegebenheiten schaffen können, die verhindern, dass die Taliban an die Macht zurückkehren.“

Ob das alles nun nach seinem Plan verläuft, ist allerdings fraglich. Zu widersprüchlich sind Handlungen und Verhandlungen der unterschiedlichen Kriegsteilnehmer. Die USA, oder präziser ausgedrückt: die NATO-Truppen töten mit ihren ferngesteuerten Drohnen Taliban-Führer im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, in der Zwischenzeit führen hochrangige Militärs direkte Gespräche mit Taliban-Funktionären.  Präsident Hamid Karzai hatte schon zu Beginn des Jahres 2010 der BBC von seinem Wunsch berichtet, die Taliban mit Geld und Arbeitsplätzen von ihrem Untergrundkampf wegzulocken. Nur wenige Wochen zuvor hatte Barack Obama in ein ähnliches Horn geblasen. Vor den Kadetten der amerikanischen Elite-Militär-Schule West Point bot Obama jenen Taliban eine offene Türe an, „die der Gewalt abschwören und die Menschenrechte ihrer Mitbürger respektieren.“ Ahmend Rashid, ein pakistanischer Spezialist in Sachen Taliban, berichtete im Februar 2010 von einem Gespräch, das er mit dem Oberbefehlshaber der NATO-Streikräfte in Afghanistan führte, in dem dieser das Problem folgendermaßen beschrieb: „ Die Wiedereingliederung der Taliban in die Gesellschaft bietet eine gute Gelegenheit, den Aufstand in Afghanistan zu verringern.“ Rashid zitiert auch den amerikanischen Sondergesandten Richard Holbrooke, der davon ausginge, dass etwa 70 Prozent der Taliban aus irgendwelchen lokalen Gründen, oder auch für Geld kämpfen und weniger, weil sie sich ideologisch dazu verpflichtet fühlen würden. Diese Gruppe könne nach Ansicht Holbrookes „entschärft“ und auf die Seite des Westens gezogen werden.

Dennoch wurden zumindest bis dahin Anstrengungen unternommen, die Taliban in Zukunft in irgendeiner Form in der afghanischen Regierung mit einzubinden. Mullah Omar, der Führer der Taliban, ließ Ende 2009 schon mit einer Erklärung aufhorchen, die mehr nach einem international geschulten Diplomaten als nach einem Rebellenchef klang: „Das Islamische Emirat von Afghanistan plant konstruktive Maßnahmen zu setzen, um dann mit allen Ländern auf der Basis einer guten zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung zusammen zu arbeiten.“ Diese freundschaftlichen – oder jedenfalls wenig feindseligen – Töne gehen auf Geheim-Verhandlungen zurück, die das ganze Jahr 2009 mit Unterstützung Saudi-Arabien geführt wurden. Viel kam dabei nicht heraus, aber die indirekten Kontakte mit Amerikanern und Briten wurden auch dazu genützt, den Taliban klarzumachen, dass sie nur dann mit Schonung rechnen könnten, wenn sie Mitglieder der Terrororganisation Al-Kaida nicht länger unterstützen würden. Dazu wären sie bereit, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die NATO einen Zeitplan für den Abzug ihrer Truppen bekannt gebe. (….)

Gespräche unter Einbeziehung der Taliban sind kein Tabu mehr, immer mehr zeichnet sich ab, dass in einer künftigen Regierung die Taliban auch eine bedeutende Rolle spielen werden – auch wenn nach außen hin so getan wird, als ob man sich mit diesem Feind nie an einen gemeinsamen Tisch setzen würde.

Das ist nun nicht mehr notwendig. Die Taliban haben sich – ohne auf Widerstand zu stoßen – geholt, was sie seit fünfunddreißig Jahren haben wollten – ganz Afghanistan. Viel wird nun spekuliert, ob die Männer, die sich jetzt an die Macht geputscht haben, toleranter, gar demokratischer, oder wenigstens pragmatischer auftreten werden, als jene Taliban, die das Land zwischen 1995 und 2001 in Angst und Schrecken versetzt hatten. Als Journalist habe ich darauf keine Antwort – auch wenn es viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die nach einem Blick in die Glaskugel schon wissen, wo es lang gehen wird. Das einzige, das im Zusammenhang mit Afghanistan einen gewissen Wahrheitsgehalt hat, ist dies: die Geschichte des Landes – weder die der letzten Jahrzehnte, noch die der vergangenen Jahrhunderte – gibt wenig Anlass für Optimismus.

Bilder: APA Picturedesk

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22 Kommentare

  1. Ich lese gerade
    Salman Hussain (2012) Looking for ‘tribals’ without politics, ‘warlords’ without
    history: the drug economy, development and political power in Afghanistan, Identities, 19:3,
    249-267, DOI: 10.1080/1070289X.2012.699877
    sehr informativ.

  2. Afghanistan ist seit Jahrzehnten ein Narko-Staat der von Unterbrechungen durch Großinvasoren stammesterritorial regiert wurde.
    Afghanistan ist der größte Marihuanaproduzent der Welt.
    Wer sind die Abnehmer?
    Wie verlaufen die Vertriebswege?
    Wie finanzieren sich heute (und nicht nur in diktatorischen Staaten) Armeen und Nachrichtendienste?
    Seltsam, daß in Printmedien für den “Pöbel” solche Themen und Fragestellungen nicht aufgeworfen werden.
    Bei der Bewertung komplizierter Sachverhalte hilft vielleicht der alte juristische Grundsatz-cui bono?

  3. Ich lese über den Weltpolizisten und selbsternannten Demokratiehersteller schon seit knapp 50 Jahren.
    Egal ob Vietnam, Irak oder Afghanistan, überall hat er nicht nur den Krieg verloren, sondern auch seine Verbündeten in Stich gelassen.
    Sein Trümmerfeld und das der NATO, darf die restliche Welt, sprich der Steuerzahler aufräumen.

  4. “…nach dem Anschlag vom 11. September 2001 forderten die USA die sofortige Auslieferung von Bin Laden durch die Taliban. Sie weigerten sich jedoch, dem Verlangen der Amerikaner nachzugeben.”

    Das stimmt so nicht ganz. Die Taliban wären bereit gewesen, Bin Laden auszuliefern, wenn die USA Beweise für die Schuld von Bin Laden gehabt hätten. Das hatten sie aber nicht. Bush genügte es, um die Schuld Bin Ladens zu wissen. Genauso wie später im Irak es genügte, von den Massenvernichtungswaffen zu wissen, obwohl sie nicht vorhanden waren.

      • Bin Laden war einst ein von den USA bewaffneter und “gesponserter” Terrorist.

        Wenn der Anschlag 9/11 tatsächlich auf Bin Laden zurückginge, dann hätte er sich damit gebrüstet, denn für ihn wäre es ein grandioser Anschlag gewesen. Er hat es aber abgestritten.
        Das ist meine Meinung.
        Ziemlich unmittelbar nach dem Anschlag war für Bush klar, wer der Täter war. So schnell hatte er Beweise? Am 11. Sept. war der Anschlag, am 7. Oktober begann der Angriff auf Afghanistan. So schnell kann man einen Krieg vorbereiten? Oder war das schon viel früher geplant?
        Wieso greift man Afghanistan an, wenn Bin Laden Saudi war und etliche der angeblichen Attentäter auch? Hätte sich Bin Laden in Österreich versteckt, wäre dann Österreich angegriffen worden?

        Mir ist in diesem Zusammenhang sehr viel nicht verständlich. Den Aussagen der USA traue ich nicht. Zu viele Kriege haben sie mittels Lügen vom Zaun gebrochen.

        • Welche Interessen hat oder hatte die USA die letzten Jahrzehnte in Afghanistan? Ich meine außer einen unliebsamen weil selbst erschaffenen Terroristen oder die Russen los zu werden. Wirtschaftliche Interessen sind es wohl kaum außer das Opium. Und strategische sehe ich auch nicht wirklich.

          • Afghanistans Bodenschätze reichen von Kohle, Labis Lazuli, Erdöl bis zu Kupfer und Eisenerze. Auch Lithium, Gold, Niob, Kobalt, Molybdän, sowie Asbest und seltene Erden zählen zu den Rohstoffen in den Lagerstätten des Landes.

            Ob es die Bodenschätze waren oder Opium oder einfach nur den Osten zu destabilisieren oder der Rüstungskomplex neue Aufträge brauchte? Ich weiß es nicht. Ich bin keine Historikerin. Ich habe aber dem ehemaligen Chef von Stratfor
            „Der Tod kommt aus Amerika“ George Friedman und STRATFOR zugehört. Es nützt Amerika, andere Länder zu bekriegen. Sie müssen dabei nicht siegen. Hauptsache es gibt dort Unruhe.

            https://www.youtube.com/watch?v=efAOEExv_e4

            Ich denke, zum 20. Jahrestag werden sich wieder viele Stimmen melden.

        • Wer wars dann?
          Und bitte, bitte jetzt nicht mit dem Gschichterl , die CIA habens selbst gemacht kommen. Bitte.

          • Ganser sagt: Bis heute gibt es keine glaubwürdige Erklärung zu 9/11 und zitiert dabei ein ausgetretenes Mitglied, Hamilton, des von Bush installierten Untersuchungsausschuss.
            Imperium USA, S. 256

  5. Danke für die ausführliche Darstellung hier. Ergänzend möchte ich eine Dimension hinzufügen:

    Die Argumente mit den illegalen Drogen sind ja nur die halbe Wahrheit. Afghanistan beliefert zu etwa 70% den legalen Weltmarkts an Morphinen (Schmerzmittel, Narkosemittel, Beruhigungsmittel, Schlafmittel etc. werden daraus hergestellt). Diese legalen Anbauflächen werden von der UNO kontrolliert (wie auch immer das unter solchen Bedingungen klappt/funktionieren soll).

    Und nun seien wir einmal ehrlich: Wir können auf den Mohn aus Afghanistan nicht verzichten. Unser gesamtes Gesundheitssystem würde zusammenbrechen.

    Der legale Anbau bringt den Bauern allerdings auch viel weniger ein, somit wird da und dort etwas abgezweigt. Und man kann es niemandem verdenken.

    Wer auch immer Afghanistan kontrolliert, der Staat wird wegen des Mohnanbaus weiter finanziert werden.

  6. Sehr sehenswert dazu: “Verlorenes Paradies – Das Kabul der Hippies” ein ORF Weltjournal, dass auch die Landschaftliche Schönheit des Landes zeigt. Afghanistan vor 1979.

    • Immer wieder traurig zu sehen, wo die schon mal waren. Ist auch so, wenn man sich Aufnahmen aus dem Iran vor 1979 anschaut.

    • Manche sagen, in Afghanistan ist der Kalte Krieg als Heisser Krieg ausgetragen worden.

  7. Leider ist es immer wieder beschämend zu lesen, wieviel Elend und Zerstörung die Russen mit ihrer unnötigen und unprovozierten Invasion 1979 anrichteten. Letztlich erwies sich dieser Fehlschlag, der Afghanistan um Jahrzehnte wenn nicht gar um ein Jahrhundert in seiner Entwicklung zurückwarf, als Sargnagel der UdSSR. Vielleicht rechneten die sowjetischen Generäle und Führung 1979 mit einem schnellen und dauerhaften Sieg und fanden später keinen Mut zum rechtzeitigen Ausstieg. Jedenfalls existiert seit 1979 kein richtiger, aus eigener Kraft verwalteter und lebensfähiger Staat Afghanistan mehr.

    • Eine ganze Generation von Menschen und deren Kinder kennen nur dieses Chaos aus Krieg und Terror.

  8. Super duper Auszug von Herrn Freund. So muss der Beginn einer profunden außenpolitischen Analyse aussehen. Da macht es Spaß zu lesen, zu denken und zu recherchieren. Nicht schwarz und weiß, sondern die Einzelaspekte herausarbeitend.

    • Erst dann kann eine Strategie ausgedacht werden. Und unsere Abhängigkeiten von dieser Region sind noch viel zu wenig beleuchtet. Ich würde da einmal ansetzen.

  9. DAS ist Information und Journalismus wie ich es gern hab!

    Danke für diese ausführliche Ausleuchtung verschiedener “Schattenseiten”…..

  10. Die Russen haben schon eine auf die Schnauze bekommen, jetzt die Amerikaner und die EU. Außer Rüstungsgewinne und viele unnötige Tote war das wie jeder Krieg, eine riesen Sauerei.

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