Donnerstag, März 28, 2024

Not a Bot – Fake-Literatur als Industrienorm

Jeden Samstag kommentiert Schriftsteller Daniel Wisser an dieser Stelle das politische Geschehen. Dabei kann es durchaus menscheln – it’s a feature, not a bug!

von Daniel Wisser

Wien, 18. September 2021 | In diesen trüben Zeiten, in denen wahrhaftige Kolportage ein Minderheitenprogramm geworden ist, frage ich mich, wo die progressive Literatur geblieben ist. Oder Literatur, die sich der Darstellung gegenwärtiger Lebenswelten widmet, ohne dabei Opfer immer stärker werdender Zensur und als Marktlogik gehandelter Zwänge zu werden. Wären es nur die bekannten kapitalistischen Zwänge der 80er- und 90er-Jahre, so hätte man es mit alten Bekannten zu tun. Nun aber scheinen wir in die Zange genommen zu werden. Denn aus einer politischen Ecke, aus der man solche Pressionen nicht erwartet hätte, kommt seit einigen Jahren ein starker Druck, der auf Zensur hinausläuft. Er beginnt mit dem Legitimierungszwang.

Der Legitimierungszwang besagt, dass nur ein homosexueller achtunddreißigjähriger Kellner, der in Wien im achten Bezirk wohnt und den Mount Everest besteigen möchte, über homosexuelle achtunddreißigjährige Kellner, die in Wien im achten Bezirk wohnen und den Mount Everest besteigen möchten, schreiben darf. Die Ironie dieser Formulierung wird leider von der Realität in den Schatten gestellt. Ein großer Streamingkanal hat bereits angekündigt, dass in den Filmen, die er produziert, Menschen bestimmter Herkunft und bestimmter sexueller Orientierung nur von Schauspielern derselben Herkunft und sexuellen Orientierung dargestellt werden. Womit das Ende der Schauspielerei erreicht wäre. Womit der jahrtausendealte Vertrag zwischen Konsument und Produzent, der Konsens, sich während des Lesens oder Sehens wissentlich einer Fiktion hinzugeben, tot ist. Womit die Literatur tot ist.

Monopolisierung der Wirklichkeit

Die Anzeichen dafür, auch Literatur nach diesen Maßstäben zu bewerten, mehren sich. Die Unterscheidung zwischen Autor, Erzähler und literarischer Figur wird vielerorts nicht mehr getroffen. In manchen Bereichen der Literatur hat das bereits zur Monopolisierung geführt. Da ist etwa das Beispiel einer Frau aus Afrika mit einer grauenhaften Kindheit, die Opfer von Genitalverstümmelung wurde. Diese Frau hat ein Buch geschrieben. Wie sieht das nun aus? In Wahrheit hat diese Frau einen gutbezahlten Vertrag mit einer Agentur abgeschlossen. Sie spricht ihre Erinnerungen in ein Aufnahmegerät. Diese Aufnahmen gehen zu einer Ghostwriterin, die weder das Land, aus dem diese Frau stammt, je besucht hat, noch etwas über die Gesellschaft dort weiß. Sie zimmert aber nun für einen Hungerlohn aus den Aufnahmen einen spannenden Text mit lebendigen Szenen. Das so entstandene Buch wird uns – ohne dass es die auf dem Buch als Autorin angeführte Person jemals gelesen hat – als der authentische Bericht einer Betroffenen verkauft. Wodurch mit einem Schlag alle Nicht-Betroffenen delegitimiert werden, über dieses Thema zu schreiben. Hier wird nicht nur die Produktion monopolisiert, hier wird die Wirklichkeit monopolisiert. Und hier wird natürlich auch zensiert. Der Konsument solcher Bücher ist Opfer einer vorsätzlichen Täuschung, wenn nicht des Betrugs.

Ich kann mich noch gut erinnern, mit welcher Aufregung mein Großvater Filme angeschaut hat, die schon im Vorspann anpriesen, Nach einer wahren Begebenheit gemacht worden zu sein. Das ist wirklich passiert, ist dann der nächste Schritt zu einer Rezeptionshaltung, in der das Erzählte sekundär ist, das Unverständnis für das Medium Film jedoch primär. Der Anspruch auf Wirklichkeit oder Reality ist in Literatur, Film und Theater nicht notwendig. Fake-Literatur ist leider zu einer Art Industrienorm geworden, die ernsthafte Literatur mit Kapitalmacht zur Seite drängt.

„Schutz“ als Verbot

Fehlt also nur noch der Schritt zur Zensur jener, die sich nicht an die Industrienorm halten wollen. Das ist die Welt der Triggerwarnungen und der nachträglichen Änderung historischer Literatur. Sie ist letztendlich eine Welt der Verbote. Es sind Zensurunterfangen, die sich in das Kleidchen des Beschützers gehüllt haben. Nur zu unserem Besten wollen sie eine Zensur errichten, deren politische Legitimation höchst fragwürdig ist – von wissenschaftlicher oder ästhetischer Legitimierung spricht ohnehin kein Mensch.

Und so kommt es, dass die Äußerungen von Staatschefs, die Lügen, Verhetzung, Verunglimpfung und Beleidigung anderer Menschen enthalten, zum Schutz der Leserinnen und Leser in den „Nachrichten“ und in Büchern nicht mehr vorkommen sollen und von der Wissenschaft nicht mehr analysiert werden sollen, um die Wissenschaftler davor zu schützen. Ein System, dessen höchste Macht sich also moralisch disqualifiziert, hält sich moralisch für qualifiziert, die Analyse ihrer eigenen Worte und Taten zu verbieten. Hier sind wir bei totalitärer Politik angekommen.

Entliterarisierung der Literatur

Es tut mir weh zu sehen, wie Autorinnen und Autoren bewusst oder unbewusst der Entliterarisierung der Literatur das Wort reden. Andere schweigen überhaupt, teils aus vermeintlicher Taktik, teils aus Angst. Den Gegenwind bekommen jene zu spüren, die ihre Meinung öffentlich ausdrücken. Alarmismus, Übertreibung und Kulturpessimismus wird ihnen vorgeworfen. Natürlich, das ist ja auch eine geschichtlich bekannte Taktik der Entdemokratisierung, dass sie die Warnenden lächerlich macht und schon die Tatsache, dass sie ihre Warnung aussprechen dürfen, als Beweis dafür angeben, dass sie übertrieben ist.

Ich freue mich dennoch auf die Literatur der kommenden Jahrzehnte, weil ihr eine Aufgabe zukommt, die niemand anderer in unserer Gesellschaft mehr erfüllt. Sie wird überleben, durch alle, die genug Mut haben, sich ihrer Aufgabe zu stellen, und genug Widerstandsgeist, um die Schmähungen zu ertragen, die ihr die zur Mehrheit gewordenen Vertreter der Entdemokratisierung nicht ersparen. Lassen wir uns die Literatur nicht nehmen!

Titelbild: APA Picturedesk

Redaktion
Redaktion
Die ZackZack Redaktion
LESEN SIE AUCH

Liebe Forumsteilnehmer,

Bitte bleiben Sie anderen Teilnehmern gegenüber höflich und posten Sie nur Relevantes zum Thema.

Ihre Kommentare können sonst entfernt werden.

17 Kommentare

  1. Lesenswert: “Drei Kameradinnen” von Shida Bazyar. Hält uns den Spiegel vor Augen. Der in Europa immanente Rassismus in einem Buch.

    Habe eine Literaturbesprechung auf 3Sat gesehen und dann das Buch gekauft. Einer der Diskutanten hat zwar das Buch im Stil nicht verrissen aber vom Inhalt. Dass die Menschen in Europa als zutiefst rassistisch dargestellt werden, ist ein Sakrileg! Oft unbewusst rassistisch. Das geht gar, weil es gibt ja nur ganz wenige Rassisten in der EU! Menschenrechte!!!! Dass es schon viele Europäische Staaten gibt, wo man mit Ausländerhass (=Rassismus) Wahlen gewinnt, darf nicht gesagt werden. Auch wenn es stimmt. Praktisch der ganze ehemalige Ostblock, Dänemark, England, Frankreich, mittlerweile auch D, und natürlich Ö. In Ö gewinnt man, wenn man die Ausländer raushält (Moira).

    Ursula von der Leyen und die EU verhindern 2015-Wiederholung. Deshalb werden jetzt mit EU-Hilfe Mauern in GR und Litauen gebaut. Nicht im übertragenen Sinne, sondern real. Rassismus!!!!

  2. Jahrelang hat man nicht nur, aber immer öfter, jungen Autoren klargemacht, die einzig denkbare Art der Publikation führe über Literaturagenturen und von dort zu Großverlagen, weil die finanziell so breit aufgestellt seien, dass man auch mal Widerborstiges quersubvensionieren könne.

    Über Rand- und Nischenliteratur wird nicht berichtet, Bücher aus Kleinverlagen liegen im stationären Buchhandel nicht auf und rutschen mangels Marketing selbst auf Amazon unter die sechstellige Wahrnehmungsschwelle.
    Es gäbe genug Ninja-Autoren, die ihre verfickte, dreckige Cyberpunk-Werke in Eigenregie veröffentlichen, aber das ist ja dann auch wieder Pfuigack, denn – also hör mal – Selbstpublizierer, dass ist ja wie literarische Selbstbefriedigung und kann nicht ernst genommen werden.

    Bald wird die “hohe Literatur” nicht mehr sein, als all das, was unverfänglich und glatt ist, nirgendwo aneckt, jemand stört und etwas aufwirbelt.

  3. Literatur als Industrienorm – ja, so ist es leider. Und das macht Literatur auch schon fad.

  4. Meine große Hoffnung für die Zukunft:

    Dass es wieder mehr junge Menschen gibt, die sich nicht von Möchtegerndiktatoren kritiklos vorgefasste Meinungen aufschwätzen lassen und selbstständig ihre Ansichten vertreten. Nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern in Gesprächen mit Anderen.

    Von der Literatur erhoffe ich mir, dass sie Fehlentwicklungen der Gesellschaft kritisch aufzeigt und öffentlichwirksam dagegen anschreibt. Dann wäre schon viel erreicht.

  5. Einen Kottan, Mundl oder 2412 könnte es heute nicht mehr geben. Zensur. Es ist 5 Minuten vor Ungarn.

  6. Gefragt ist:”JournalREALismus und radikale Ehrlichkeit” (JournalREALism and radical Honesty).

  7. Die “Monopolisierung” ist durch die Suche nach “Exoten” entstanden (der den M. Everest besteigen wollende Homosexuelle…usw.) Es war eine Zeitlang einfach schick über das Leben solcher Leute zu schreiben und lies sich gut verkaufen, das ist alles. Und was die Zensur betriff: Die Gedanken sind frei und niemand kann einen daran hindern sie aufzuschreiben. Wo ist eigentlich das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der Schriftsteller geblieben? Unser Land hat schließlich Größen wie einen Peter Handke hervorgebracht. Der hat sich auch nicht gescheut zu sagen und zu schreiben was er denkt. Zu polarisieren ist in meinen Augen die Hauptaufgabe von Literatur. Das ist es was mich an Literatur reizt und darum lese ich ein Buch.

    • Ja aufgeschrieben wird eh viel, auch Dreck und Wildes. Veröffentlicht wirds halt nicht, weil Bäh.

      Die Selbstzensur ist nur der Versuch, durch Onanie schöne Kinder zu zeugen – literarisch halt.

  8. Die Bot-Reihe lese ich zum ersten Mal. Sehr schön. Danke.

  9. „Monopolisierung der Wirklichkeit“

    … eher der -vorgetäuschten- Wirklichkeit
    der „alternativen“ Wirklichkeit, so wie uns die „Wirklichkeit“ verkauft werden soll… mit den tatsächlichen Lebensrealitäten hat die durch Medien, „Journalismus“ oder auch „Literatur“ („Sachbuch“, „Tatsachenberichte“) propagandierte Fake-Wirklichkeit genau 0 zu tun… diese Propaganda „Wirklichkeit“ dient nur dazu, die Menschen zu manipulieren

    Stellt sich die Frage, wer hat das Monopol auf die „Wirklichkeit“? Die Mehrheit, die Minderheit, oder doch das einzelne Individuum…
    dzt wird von einer Minderheit der Mehrheit eine „Wirklichkeit“ aufoktroyiert, die nur deren verblendeten Ideologien und Machtrausch entsprechen, rein aus Eigeninteressen und Machterhalt, aber mit den Lebensrealitäten des Einzelnen nichts zu tun haben sondern diese nur einschränken und stetig verschlechtern … solange bis alles implodiert, und dann die gesamte Gesellschaft daran gemeinsam zugrunde geht

    • Es gibt einen, auf den ihre Formulierungen absolut zutreffen. Er hat ihre Frage für sich, vor langer Zeit, schon beantwortet. Kurz sagt es klar und deutlich, für jeden verständlich, fühlbar und hörbar. „Ich habe das Monopol.“
      Die Frage ist, was lesen die Empfänger aus diesen codierten Signalen. Die Frage ist, was wollen die Bürger! Follower oder Influenzer?

      • Ja, die Frage bei dem ist eher: „hat der ein eigenes“ Hirn oder ist der auch nur eine Marionette… anfangs definitiv nur Marionette, auch jetzt noch, mMn, aber je mehr Machtfülle Marionetten haben und auch wahrnehmen, desto gefährlicher werden sie, weil sie ab einem gewissen Zeitpunkt dann denken – falls Sie ein eigenes Hirn haben – jetzt kann ich es selbst auch und kappen dann die Marionettenfäden zu ihren Schöpfern und drehen komplett durch im Machtrausch

        • Dieses Stadium dürfte er schon erreicht haben. Die physischen Merkmale sind denen von Pinocchio frappierend ähnlich. Das Marionettenstadium ist also beendet.
          Bleibt noch anzumerken, daß Pinocchio Hirn hatte!

  10. Was soll man schreiben, wenn man nichts mehr schreiben darf als das, was man schreiben soll? Das, was man schreiben soll? Wenn ja, was ist es, was man schreiben soll? Also: Der Faschismus war und ist schlecht. Der Kommunismus war und ist schlecht. Der Kapitalismus war und ist im Wesentlichen gut. Unterschiede zwischen den Rassen sind bloß äußerlicher Natur. Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind bloß äußerlicher Natur. Die Welt ist eine große soziale Harmonie auf der Grundlage wirtschaftlicher Konkurrenz. Alles ist gut. Und wenn es das noch nicht ist, dann muss es dazu gemacht werden. Literatur als Schmiermittel einer großen Lüge. Wer sich dafür hergibt, wird verlegt. Wer nicht, der nicht. Dann lieber nicht, sage ich. Dann lieber nicht.

    • Wenn sie Menschen(nicht Hunde-)rassen meinen, die gibt es (genetisch) nicht. Die Menschen außerhalb Afrikas sind bestenfalls Ostafrikaner.

      • Und was sind die Menschen außerhalb Afrikas schlechtestenfalls? Praktizieren Sie bitte irrtümlicherweise nicht das, was Sie mir irrtümlicherweise vorwerfen! Wer von Rassen spricht, ist noch lange kein Rassist!

Kommentarfunktion ist geschlossen.

Jetzt: Polizeiäffäre "Pilnacek"

Denn: ZackZack bist auch DU!