Die Hintergründe im Streit mit der EU
Der Rechtsstreit zwischen Polen und der EU bewegt sich zielstrebig in Richtung Eskalation. ZackZack hat mit dem Rechtswissenschaftler Lukasz Dziedzic über die Hintergründe gesprochen.
Wien, 20. Oktober 2021 | In den letzten Wochen beherrscht der Konflikt zwischen EU-Kommission und EuGH auf der einen Seite und dem polnischen Verfassungsgerichtshof sowie der rechtskonservativen polnischen Regierung auf der anderen Seite die internationalen Medien. Auch über einen drohender Polexit, der Austritt Polens aus der EU, wird immer wieder spekuliert. ZackZack hat mit dem österreichisch-polnischen EU-Rechtsexperten Lukasz Dziedzic von der Universität Tilburg über die Hintergründe gesprochen.
Polnische Justizreformen
Der Strudel der Ereignisse nimmt schon 2015 seinen Anfang, als die polnische Regierung unter Führung der Partei PiS umfassende Reformen im Rechtswesen einleitet. Die Folge davon kann man als Politisierung der Justiz beschreiben. In einer ersten Reform wird „der polnische Verfassungsgerichtshof unter Kontrolle der Regierung gebracht – von der Vorgängerregierung rechtmäßig ernannte Richterkandidaten wurden vom vom PiS-treuen polnischen Präsidenten nicht vereidigt und an ihrer statt neue Richter berufen“, so Dziedzic Auch der polnische Oberste Gerichtshof wird „unter die Kandare der PiS genommen.“ Dessen Mitglieder werden vom einst unabhängigen Richterrat ernannt. Der Richterrat wird im Zuge der Reformen jedoch politisiert, sodass die Kandidaten des Obersten Gerichtshof seitdem vom Willen des Parlaments abhängig sind. „In einer früheren Reform wurde bereits versucht durch eine Änderung des Pensionsantrittsalters von Richtern, unter anderem die unliebsame Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs loszuwerden. Dadurch hätte jene ihre zum Zeitpunkt der Reform noch ausstehenden fünf Jahre Amtszeit nicht fertig ausüben können“, erläutert Dziedzic.
Die EU sieht in den polnischen Reformen einen Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien und geht dagegen vor. Auf Druck der Union muss das verfrühte Pensionsantrittsalter zurückgenommen werden.
Dritter Stein des Anstoßes ist die umstrittene Disziplinarkammer im Obersten Gerichtshof. Diese „wird vom politisch dominierten nationalen Richterrat eingesetzt. Sie kann Richter versetzen oder Disziplinarverfahren gegen sie einleiten. Sie ist politisch gesteuert und dient dazu, unliebsame Richter unter Druck zu setzen oder aus bestimmten Ämtern zu entfernen“, erklärt Dziedzic. Auch gegen die Disziplinarkammer ging der EuGH mit einer einstweiligen Verfügung vor. Die Reaktion aus Polen im Juli 2021 fasst Dziedzic lapidar mit „Daran müssen wir uns nicht halten“ zusammen.
Dziedzic sieht in den Reformen Polens ein „ähnliches Prozedere wie in Ungarn“ und eine „klare Tendenz in Richtung Abbau von Demokratieprinzipien, auch im Hinblick auf Medien.“
Verhärtete Fronten
Das Vorgehen der EU gegen die politische Umfärbung der polnischen Justiz stößt bei der PiS naturgemäß auf wenig Begeisterung. Seit Anfang dieses Jahres hat die EU zudem ein Druckmittel in der Hand, das für Problemkinder wie Polen und Ungarn empfindliche finanzielle Nachteile vorsieht, wenn diese gegen Grundwerte der Union verstoßen: Den Rechtsstaatlichkeits-Konditionalitätsmechanismus. Seit dessen Einführung ist die „Auszahlung von Mitteln aus dem EU-Budget an Rechtsstaatlichkeit gebunden.“ Polen und Ungarn haben dagegen geklagt. Zusätzlich besteht auch die Möglichkeit, die für Polen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds vorgesehenen Mittel einzufrieren. Während die EU damit droht, Milliarden an Corona-Hilfen nicht abzusegnen, begibt sich die PiS laut Dziedzic „in die Opferrolle“. Auch das EU-Parlament hat sich beim Thema Rechtsstaatsmechanismus schon eingeschaltet. Es brachte eine Untätigkeitsklage gegen die EU-Kommission ein, weil diese den neuen Mechanismus bisher nicht eingesetzt hat. „Der EuGH entscheidet gerade darüber, ob der Rechtsstaatsmechanismus selbst rechtlich halten kann. Eine Entscheidung darüber wird Anfang des nächsten Jahres erwartet.“ Den Klagen Ungarns und Polens gibt Dziedzic „wenig bis gar keine Chance“.
Austritt oder Rauswurf Polens?
Die kürzlich getroffene Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, EU-Recht teilweise als unvereinbar mit der polnischen Verfassung einzustufen, sorgt seit letzter Woche für verbale Schusswechsel zwischen der polnischen Regierung und der EU-Kommission. Mehrere eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen lassen auf keine baldige Feuerpause schließen. Im Gegenteil. Der polnische Premier Morawiecki verurteilte in seiner gestrigen Rede in Straßburg das entschiedene Vorgehen der EU gegen die polnische Justizreform: „Ich bin nicht damit einverstanden, dass Politiker Polen erpressen wollen und Polen bedrohen“, spielte er auf den Rechtsstaatsmechanismus an.
Rechtsexperten sprechen seit der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts zum Nachrang von EU-Recht von einem „juristischen Polexit“. Experte Dziedzic verweist im Zusammenhang mit dem ins Spiel gebrachten Ausscheiden Polens aus der Union auf Artikel 50 der Lissaboner Verträge: „Polen müsste freiwillig austreten. Im Gegensatz zu anderen Ländern reicht in Polen dafür aber die einfache Mehrheit im Parlament. Oppositionspolitiker Donald Tusk möchte genau das ändern. Er setzt sich derzeit dafür ein, im Zuge einer Verfassungsänderung den Austritt aus der EU von einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern des Parlaments abhängig zu machen.“ Schätzungen zufolge sind 80 bis 90 Prozent der Polen für die Mitgliedschaft in der Union.
(dp)
Titelbild: APA Picturedesk