Sonntag, September 8, 2024

AMS-Kurse weiter ohne Maske und ohne 3G – »Blinder Fleck« in Pandemiebewältigung

»Blinder Fleck« in Pandemiebewältigung«

Mehr als 70.000 Arbeitslose werden weiterhin zu Präsenzkursen verdonnert – bei unzureichenden Schutzmaßnahmen. Von einem „blinden Fleck“ spricht Statistiker Klimek. Erkrankte Kursteilnehmer haben „wahrscheinlich“ das Recht auf Schadenersatz, sagt Jurist Horn.

Florian Bayer

Wien, 06. November 2021 | Die Infektionszahlen gehen durch die Decke, die Spitäler füllen sich wieder, doch im AMS geht alles den gewohnten Gang: Nach wie vor herrscht in Fortbildungen des Arbeitsmarktservice weder Maskenpflicht noch 3G-Regel. Während alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens streng reglementiert werden, werden mehr als 70.000 AMS-Kursteilnehmer (Zahl von Oktober 2021) und Tausende Trainer kaum durch gesetzliche Vorschriften geschützt.

Denn gemäß der neuen Corona-Maßnahmenverordnung gilt die 3G-Regel („geimpft, genesen, getestet“) erst bei „Zusammenkünften“ ab 25 Teilnehmern. Diese Vorschrift für Zusammenkünfte aller Art gilt mangels spezifischer Regelungen für Aus- und Fortbildungen eben auch für AMS-Kurse.

Quelle: Neue Corona-Maßnahmenverordnungsgesetz (gültig seit 1.11.2021)

Dieses gesetzliche Minimum hat das AMS Österreich pflichtschuldig übernommen, anstatt sich vor oder spätestens in der neuen Welle strengere Maßnahmen aufzuerlegen. Zwar ist es einzelnen Kursträgern unbenommen, im Rahmen ihrer Hausordnung nachzuschärfen, also etwa eine Maskenpflicht in den eigenen Räumlichkeiten vorzuschreiben. Systematisch passiert dies aber nicht, denn es ist ja auch nicht vorgeschrieben.

Quelle: AMS-Website (5.11.2021)

Unterschiede zwischen Instituten

Ob und wie streng kontrolliert wird, unterscheidet sich also stark. Die größeren Institute wie BFI und WIFI haben den Ruf, relativ streng zu sein. Viele andere Institute sind es nicht, wie uns eine Deutschtrainerin in Wien-Favoriten berichtet:

„Regelmäßig kommen ungeimpfte Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit abgelaufenen Tests in die Klassen. Bis man sie davon überzeugen kann, dass sie unter diesen Umständen eine FFP2-Maske aufsetzen müssen, vergeht viel Zeit mit heftigen Diskussionen. Kaum ist die Maske auf, wird auch schon wieder ein Riemchen abgenommen und gelüftet – die Maske, nicht das Zimmer.“

Auf Twitter überraschte AMS-Kopf nun mit der Aussage, er habe sich insgeheim strengere Maßnahmen für Fortbildungskurse gewünscht. Dies ist insofern verwunderlich, weil sich die AMS-Spitze nie entsprechend in der Öffentlichkeit geäußert hat.

Vielmehr hat die Bundesregierung, konkret das zuständige Gesundheitsministerium, gegensätzlich gehandelt: Als die Maßnahmen in anderen Bereichen des Lebens verschärft wurde, gab es meist Ausnahmen von Schutzmaßnahmen für berufliche Aus- und Fortbildungen.

Warum diese unerlässlich seien und der Schutz dort nicht so wichtig sei wie etwa in Hochschulen, wurde uns auf mehrmalige frühere Anfragen nie beantwortet. Als vor einem Jahr Schulen und Universitäten längst geschlossen waren, wurden Zehntausende verdonnert, AMS-Kurse auch weiter in Präsenz zu besuchen. Selbst im Voll-Lockdown und nachdem die eigenen Mitarbeiter vor der AMS-Zentrale demonstrierten. ZackZack berichtete mehrmals.

Der aktuelle Tweet von Johannes Kopf.

Kopf: „Anliegen nicht berücksichtigt“

In seinem Tweet spielt Kopf nun den Ball also ans Gesundheitsministerium, das das „Anliegen“ des AMS – offenbar geht es um Ende des Präsenzunterrichts – nicht berücksichtigt habe. Wir haben beim Gesundheitsministerium nachgefragt, ob und wie dieses Anliegen vorgetragen wurde und wie darauf reagiert wurde, erhielten aber bis Redaktionsschluss keine Antwort.

Auch von AMS-Vorstand Kopf wollten wir wissen, was genau er meint und woher der Sinneswandel kommt – bis jetzt hat sich die AMS-Spitze für Präsenzunterricht ausgesprochen und einen Laissez-faire-Kurs hinsichtlich Corona verfolgt. Auch Kopf ließ unsere Anfrage unbeantwortet.

Anders das AMS Wien: „Gegen klarere – und gern auch strengere – rechtliche Vorgaben explizit für den Bereich der Erwachsenenbildung würden wir uns nicht wehren“, sagt ein Sprecher der Wiener Zweigstelle. Mangels solcher Vorgaben habe das AMS Wien vor einer Woche den Partnerinstituten „schriftlich dringend empfohlen, die 3G-Regel in Schulen anzuwenden“. Es bleibt aber eine unverbindliche Empfehlung.

Anspannung vs. Leichtsinn

Auch die Favoritner Deutschtrainerin berichtet uns von solchen Fällen: In der Gruppe ihrer Kollegin gab es zwei Impfdurchbrüche. Sie berichtet von einer Mischung aus „völligem Leichtsinn“ und „höchster Anspannung“ sowohl unter ihren Kollegen, als auch unter den Kursteilnehmern. „Eine generelle Maskenpflicht im ganzen Haus, das würde jeder verstehen und hat auch vor den Juli-Lockerungen sehr gut funktioniert“, sagt die Trainerin, auch wenn sie ihr Hoffen „vergeblich“ nennt.

Von einem „großen blinden Fleck“ spricht Peter Klimek, Statistiker am Complexity Science Hub Wien im Zusammenhang mit den AMS-Kursen. „In Schulen haben wir eines der rigidesten Testregimes, für berufliche Fortbildungen gibt es aber, wie auch für Kindergärten, zu wenig Aufmerksamkeit.“

Zwar würde er das Risiko „nicht ganz so hoch“ einschätzen wie in der Schule, wo die Kinder viele Stunden am Stück in schlecht belüfteten Klassenzimmern sitzen. Dennoch seien auch AMS-Kurse ein „riskantes Setting“.  Klimek plädiert im Gespräch mit ZackZack für verpflichtendes 3G oder besser noch 2,5G. „Sollte sich die Infektionslage weiter verschärfen, für 2G und einen negativen PCR-Test.“

Rechtliche Einschätzung

Auch rechtlich stellen sich spannende Fragen. Aus Sicht des Juristen Florian Horn, der sich von Anfang an intensiv mit der Pandemie beschäftigt, gelte entgegen der Auslegung durch das AMS bereits jetzt Maskenpflicht in allen Betriebsstätten. Dies besagt §4 der an sich „wenig strengen“ Covid-Maßnahmenverordnung, wie er sagt.

Quelle: RIS

Mitarbeiter müssen demnach zwar keine Maske tragen, aber jedenfalls einen 3G Nachweis mit sich führen. „Die anderweitigen Bestimmungen über Zusammenkünfte (§12, Anm.) hebeln das nicht aus. Sollte es hier tatsächlich zu systematischen Verstößen im AMS kommen, so müssen die Landes-Gesundheitsämter einschreiten“, sagt Jurist Horn.

Zusätzlich haben betreute Personen, die sich infizieren, „wahrscheinlich“ einen Schadenersatzanspruch, sagt Horn. „Soweit dies eine bewusste geschäftliche Entscheidung ist, droht den Entscheidungsträgern eine strafrechtliche Verantwortung. Zumindest wegen der fahrlässigen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten.“ Strafrahmen wäre dann bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe. Freilich: Wo kein Kläger, da kein Richter. Auch gilt die Unschuldsvermutung.

Die Kurse gehen inzwischen (5.11.: 9.388 bestätigte Neuinfektionen in Österreich) weiter. Unter den Kursteilnehmern sei das Bewusstsein über die Gesundheitsgefahr oft gar nicht vorhanden, sagt die von uns befragte Trainerin: „Wie sollen sie den Überblick über all die unklaren und verwirrenden Regeln behalten? Es wundert mich überhaupt nicht, dass sie Covid nicht ernst nehmen.“

Teile dieser Recherche erfolgten in Kooperation mit Sebastian Reinfeldt/Semiosis, das ebenfalls über das Thema berichtet.

Titelbild: APA Picturedesk

Autor

  • Benedikt Faast

    Redakteur für Innenpolitik. Verfolgt so gut wie jedes Interview in der österreichischen Politlandschaft.

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