Samstag, April 20, 2024

50 Jahre Ärzte ohne Grenzen: »Sehen wenig Hilfe in Afghanistan ankommen«

50 Jahre Ärzte ohne Grenzen

Ärzte ohne Grenzen wird 50. Zu feiern hat die Organisation aber wenig. Pandemie, Entmenschlichung und die Verrohung der Politik machen die Arbeit schwer, meint Österreich-Geschäftsführerin Laura Leyser im Interview.

Wien, 17. Dezember 2021 | Paris 1971: Nach den grausamen Erfahrungen, die einige französische Ärzte während des Bürgerkriegs in Nigeria gemacht haben, fällt es diesen schwer, sich an das Schweigegebot zu halten. Losgelöst von politischen Zwängen, wollen sie in Zukunft über das Leid in den Krisengebieten der Welt offen sprechen und unabhängig das Recht aller Menschen auf medizinische Hilfe umsetzen – so der Plan.

Aus kleiner Organisation wird weltweites Netzwerk

Als Medizinern in Bangladesch Ähnliches widerfährt, werden die beiden Gruppen von Journalisten der medizinischen Zeitschrift “Tonus” zusammengebracht. Es war die Geburtsstunde von “Médecins Sans Frontières”, auf Deutsch: “Ärzte ohne Grenzen”. Und so wurde die Hilfsorganisation am 21. Dezember 1971 in Paris gegründet.

Heute ist Ärzte ohne Grenzen ein weltweites Netzwerk mit 25 Mitgliedsverbänden, das in mehr als 70 Ländern medizinische Nothilfe leistet. Die Krisenhelfer finanzieren sich dabei nach wie vor zu 90 Prozent mit privaten Spenden.

Wie hat sich das Projekt in den letzten 50 Jahren entwickelt? Was sind die kommenden Herausforderungen? Und worauf kommt es bei der, auch von der Politik oft genannten, “Hilfe vor Ort” an? ZackZack hat bei der Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich, Laura Leyser, nachgefragt.

ZackZack: Frau Leyser, der 50er steht unter dem Motto „50 Jahre Menschlichkeit“ – wie erleben Sie die weltweite Entwicklung in Hinsicht auf die Menschenrechte?

Laura Leyser: Richtig feiern würden wir ja erst, wenn es uns nicht mehr geben müsste. Wenn man sich auf der Welt umsieht, wird leider sehr schnell klar, dass wir weiterhin mehr als nur eine Daseinsberechtigung haben. Wir beobachten mit Sorge, dass es seit mehreren Jahren politisch immer mehr zu einer Verrohung und zu einer Entmenschlichung von humanitären Krisen kommt. Das ist sowohl in Österreich und den westlichen Ländern, als auch in den Krisengebieten vor Ort spürbar.

In Österreich gab es immer wieder den Versuch uns zu kriminalisieren oder zu instrumentalisieren, vor allem im Hinblick auf die Seenotrettung, die wir im Mittelmeer betreiben. Aber auch international kommt es immer mehr zu gezielten Anschlägen von Gesundheitseinrichtungen und auch humanitäre Helferinnen und Helfer werden leider immer öfter Ziele von Angriffen. 2015 wurde unsere Klinik im afghanischen Kundus angegriffen, wo 42 Menschen gestorben sind. Hier rufen wir die internationale Staatengemeinschaft ganz stark zum Handeln auf.

ZZ: Also haben Sie wenig Grund zum Feiern?

Leyser: Ja genau.

ZZ: Wenn Sie auf die letzten 50 Jahre zurückblicken – Welche Einsätze waren für die Helfer vor Ort besonders belastend?

Leyser: Da gibt es viele. Ein Einsatz in Äthiopien etwa, der war noch relativ am Anfang unserer Geschichte, ich glaube 1984, wo wir öffentlich angeprangert haben, dass Hilfsgelder von anderen Organisationen missbraucht und gegen die Menschen eingesetzt wurden, sodass es zu Zwangsübersiedlungen kommen musste. Dementsprechend wurden wir dann während einer der größten Hungersnöte dem Land verwiesen.

Das zeigt ganz gut in welchem Dilemma Ärzte ohne Grenzen sich oft befindet. Eben mit diesen zwei Säulen: medizinische Nothilfe zu leisten, aber auch Sprachrohr und Missstände vor Ort anzuprangern.

(Bild: Frederic Noy)

Dann 1994 der Genozid in Ruanda, wo wir in Kigali durchgehend vor Ort waren und berichtet haben. Und dann natürlich Afghanistan, dort sind Ärzte ohne Grenzen seit 1980 tätig. Die damalige Einsatzleiterin ist 35 Tage lang mit einer Karawane von Pakistan über 5.000 Meter hohe Pässe mit medizinischer Ausrüstung nach Afghanistan gekommen. Bis auf kleine Unterbrechungen sind wir bis heute in Afghanistan und waren auch jetzt während der Taliban-Übernahme dort.

Natürlich bleiben auch die Natur-Katastrophen in Erinnerung. Etwa der Tsunami im Jahr 2004 in Asien oder das Erdbeben in Haiti. Auch die Ebola-Epidemie in Westafrika war sehr prägend für uns, weil wir da als eine der einzigen Organisationen vor Ort waren und uns diesem noch unbekannten Virus gestellt haben und uns alles von null auf erarbeitet haben. Und aktuell natürlich Covid.

ZZ: Die Bundesregierung hat Krisenländern wie Afghanistan immer wieder Hilfe vor Ort zugesichert, kam diese auch dort an?

Leyser: Ehrlich gesagt sehen wir diesen von der Politik instrumentalisierten Begriff „Hilfe vor Ort“ sehr kritisch. Wir haben zumindest in unseren Einsatzgebieten in fünf  afghanischen Provinzen so gut wie nichts davon gesehen. Wir sehen dort eher, dass die bestehenden Strukturen, die davor schon sehr schwach waren, noch schwächer geworden sind und mittlerweile total zusammengebrochen sind. Vor allem seit der Übernahme der Taliban sind wir noch mehr gefordert, ein Minimum an gesundheitlicher Versorgung zugänglich zu halten. Sonst sehen wir eher wenig Hilfe in Afghanistan ankommen.

ZZ: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Leyser: Die große internationale Herausforderung war und ist, dass es immer komplexer wird, unsere Einsatzkräfte in die Länder zu bringen und auch wieder zurückzuholen, weil es viel weniger Flüge gibt oder Grenzen zum Teil komplett geschlossen sind. Hinzu kommen die Quarantäne-Regelungen. Am Anfang war es auch eine logistische Herausforderung, Schutzausrüstung in die Länder zu bekommen.

Was uns aber die meisten Sorgen bereitet, ist, den Zugang zu anderen Gesundheitsversorgungen aufrechtzuerhalten. Wenn man sich ansieht, was Corona mit einem Weltklasse-Gesundheitssystem wie jenem in Österreich macht, kann man sich vorstellen, was Covid mit Systemen macht, die bereits vorher extrem schwach waren.

ZZ: Was hat sich bei Ärzte ohne Grenzen in den 50 Jahren geändert? Was ist nun besser oder schlechter als in der Anfangsphase?

Leyser: Gleich geblieben sind auf jeden Fall unsere Prinzipien: Neutralität, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, die wir bis jetzt ganz stark leben. Jeder unserer Einsätze ist davon getrieben, dass wir davon überzeugt sind, dass jeder Mensch, egal wo er herkommt, das Recht auf medizinische Nothilfe hat.

Was sich geändert hat, ist die Komplexität und die Größe von Ärzte ohne Grenzen. Von einer anfangs kleinen französischen Organisation ist sie zu einer globalen, internationalen Nothilfeorganisation mit über 63.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geworden. Wir sind im Logistik-Bereich immer professioneller geworden und können mittlerweile innerhalb von 48 bis 72 Stunden Einsätze starten.

ZZ: Was werden die Herausforderungen der nächsten 50 Jahre?

Leyser: Drei Sachen: Klimawandel, die eigene Verantwortung als Organisation und die Entmenschlichung von humanitären Krisen.

Klimawandel deswegen, weil wir bereits beobachtet haben, dass unsere Einsatzgebiete richtige Hotspots des Klimawandels sind und wir dort auch starke gesundheitliche Auswirkungen sehen. Je mehr Dürre herrscht, desto weniger Nahrung können die Menschen anbauen. Dementsprechend tritt dann auch öfter Mangelernährung bei Kindern auf. Im Südsudan machen den Menschen vor allem Überschwemmungen zu schaffen. Wir sehen hier wieder mal, dass der Klimawandel jene besonders trifft, die jetzt schon nicht mehr viel haben.

ZZ: Sie finanzieren sich nach wie vor zum Großteil aus privaten Spenden. Wie setzen sich diese zusammen?

Leyser: Wir sind in Österreich zu 100 Prozent durch Privatspenden finanziert und international zu 97 Prozent. Am wichtigsten sind dabei die vielen kleinen Spenden von 10 bis 20 Euro. Wir nehmen aber auch große Spenden an, etwa von Firmen. Hier schauen wir aber genau von welcher Sparte das Geld kommt. Spenden von Rüstungs-, Waffen- oder Tabakindustrie sind mit unseren Werten nicht vereinbar.

ZZ: Zum Abschluss: Was sind Ihre Wünsche an die Politik?

Leyser: Ich würde mir wünschen, dass Menschen in humanitären Krisen als Menschen wahrgenommen werden und nicht als Bedrohung. Und dass die Politik auch ihren Verpflichtungen, dem Völkerrecht nach, nachkommt.

Wir wollen die Politik auch in die Pflicht nehmen, was leistbare Medikamente und Impfstoffe betrifft. Bei Corona wäre ein erster Schritt, dass man die Patente von Covid-Impfstoffen vorrübergehend aussetzt, damit genug produziert werden kann und alle auf der Welt Zugang dazu bekommen. Eine globale Pandemie kann nur global beendet werden.

ZZ: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Markus Steurer.

Laura Leyser ist Österreich-Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen. Seit mehreren Jahren ist sie in der humanitären Hilfe tätig und zeigt sich dabei für viele internationale Entwicklungsprojekte verantwortlich. (Bild: Herwig Prammer)

Bereits im Oktober stellten Ärzte ohne Grenzen anlässlich ihres Jubiläums ihre Arbeit in einer Freiluft-Ausstellung im Wiener Resselpark vor. Den Videobericht samt Interviews mit Beteiligten sehen Sie hier.

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Titelbild: Geraint Hill/Ärzte ohne Grenzen

Markus Steurer
Markus Steurer
Hat eine Leidenschaft für Reportagen. Mit der Kamera ist er meistens dort, wo die spannendsten Geschichten geschrieben werden – draußen bei den Menschen.
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2 Kommentare

  1. Hoffe dass solche Beiträge auch weiterhin ausreichend berücksichtigt werden, auch wenn solche Themen aktuell nur wenig Anklang finden im Forum.

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