Nehammers Problem:
Der Paragraf 278a beschreibt im Strafgesetzbuch die „Kriminelle Organisation“. Als er im Juli 2013 in Kraft trat, kam niemand auf die Idee, dass hier die ÖVP beschrieben werden konnte. Das hat sich möglicherweise geändert. Analyse von Peter Pilz.
Wien, 30.Dezember 2021 | „Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem“. Das sagt der Bundeskanzler, und damit ist es amtlich. Aber welches Problem hat die ÖVP? Manchmal trifft man auf die beste Beschreibung eines Problems dort, wo man sie nicht gerne findet. Das liest sich nach vielen Chats, Tools, Auswertungen und Anlassberichten so:
- Wer eine auf längere Zeit angelegte unternehmensähnliche Verbindung einer größeren Zahl von Personen gründet oder sich an einer solchen Verbindung als Mitglied beteiligt,
- die, wenn auch nicht ausschließlich, auf die wiederkehrende und geplante Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die die Freiheit oder das Vermögen bedrohen, ausgerichtet ist,
- die dadurch eine Bereicherung in großem Umfang anstrebt und
- die andere zu korrumpieren oder einzuschüchtern oder sich auf besondere Weise gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen sucht,
- ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.
Niemand bestreitet, dass die ÖVP aus einer „größeren Zahl von Personen“ besteht und von Anfang an „auf längere Zeit angelegt“ war. Immer klarer zeichnet sich jetzt ab, dass die ÖVP
- spätestens als türkise Familie „eine auf längere Zeit angelegte unternehmensähnliche Verbindung“ geworden ist,
- in deren Wirkungsbereich es zur „wiederkehrenden und geplanten Begehung schwerwiegender strafbarer Handlungen, die die Freiheit oder das Vermögen bedrohen“, gekommen ist und die
- „andere zu korrumpieren oder einzuschüchtern oder sich auf besondere Weise gegen Strafverfolgungsmaßnahmen abzuschirmen sucht“.
Die Zitate stammen aus dem Paragraf 278a des Strafgesetzbuches, eines Textes, der sich in zentralen Passagen wie ein Familien-Bestimmungsbuch liest. Bis heute ist gegen die ÖVP kein Verfahren nach diesem Delikt anhängig. Aber die WKStA verfolgt die ÖVP im CASAG-Verfahren bereits als Beschuldigte.
ÖVP: Ein “Unternehmen” der besonderen Art
Wenn derart viele Merkmale eines Tatbestands auf eine Partei passen, stellt man sich zwei Fragen: „Warum?“ und „Seit wann?“ Natürlich kann man diskutieren, ob die ÖVP als auf „längere Zeit angelegte unternehmensähnliche Verbindung“ gegründet wurde. Das ist lange her, und die Gründer werden anderes im Sinn gehabt haben. Auch die Abgeordneten, die im Justizausschuss des Nationalrats den Mafia-Paragrafen beraten haben, werden wohl eher russische oder süditalienische Geschäftsleute und nicht führende Politiker einer österreichischen Partei ins Visier genommen haben. Aber spätestens als türkise Familie scheint die ÖVP genau dazu geworden zu sein: zu einem „Unternehmen“ besonderer Art. Mit dem Sturz von ÖVP-Chef Mitterlehner durch seinen Nachfolger wurde der bislang letzte Versuch, die ÖVP unter Beachtung von Gesetzen und Regeln zu führen, beendet.
Wer die ÖVP mit dem § 278a StGB konfrontiert, erntet routinierte Empörung. „Das eine infame Unterstellung. Unter der Gürtellinie!“ Und irgendwie haben die Betroffenen von der Mafia bis zur ÖVP ja recht. Die Volkspartei in Wien unterscheidet viel von der Mafia in Moskau und Palermo:
- Die ÖVP ist eine politische Partei. Ihr Ziel ist vor allem die Macht. Dass sie dazu immer mehr Geld braucht, hängt mit Art und Umfang ihrer Wahlkämpfe und ihrer Medienkooperationen zusammen.
- Von Russland bis Sizilien gilt das Gegenteil. Für die Mafia ist politische Macht Mittel zum kriminellen Zweck: den illegalen Geschäften der organisierten Kriminalität.
- Als Partei, die seit 35 Jahren fast ununterbrochen Österreich regiert, hat die ÖVP die Möglichkeit, direkt Verfassungsschutz, Polizei und Justiz zu kontrollieren und passende Gesetze durch den Nationalrat beschließen zu lassen. Mafiaartige Organisationen verfügen über keine vergleichbare Macht. Dafür suchen sie die Nähe anfälliger Parteien.
- In Sizilien riskierten Staatsanwälte und Richter bei der Verteidigung des Rechtsstaats lange Zeit ihr Leben. Unter der ÖVP riskieren sie ihr Amt, nicht mehr.
- Beim Versuch, als stärkste Partei in Österreich ein Regime nach Orbáns Art zu errichten, sind die Hemmungen, zu kriminellen Methoden zu greifen, in der ÖVP offensichtlich drastisch gesunken.
- Die Delikte reichen dabei von Verstößen gegen die Bestimmungen zur Finanzierung von Parteien und Wahlkämpfen, Amtsmissbrauch und Verrat von Amtsgeheimnissen bis zu Bestechung und Bestechlichkeit. Das sind nicht die typischen Mafia-Delikte.
- Kriminelle Organisationen wie die Mafia ziehen bestimmte Politiker und Parteien an. Autoritär-korrupte Parteien wie die türkise ÖVP sind für bestimmte „Unternehmer“ attraktiv. Sie erwarten sich Vorteile und Schutz. Dafür sind sie bereit, die Partei zu unterstützen.
- Nichts deutet auf enge Beziehungen zwischen der ÖVP und kriminellen Organisationen in Italien hin. Untersuchenswert sind allerdings die ÖVP-Beziehungen, die tief nach Russland und in die Ukraine führen.
- Im Gegensatz zur Mafia ist auch das Korruptionsproblem der ÖVP endemisch. Es ist traditionell auf einen Raum beschränkt: auf Österreich. Ein Blick in die Geschichte der Zweiten Republik zeigt: Die ÖVP ist die Traditionspartei der politischen Korruption.
Damit bekommt Karl Nehammer recht: Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem, sie ist die parteigewordene Korruption. Das trendige Türkis hat nur vorübergehend die alte Parteifarbe verdeckt. Die Schafe in der ÖVP-Herde sind tiefschwarz.
Das einzige „Korruptionsproblem“, dass sich für Nehammer und die ÖVP abzeichnet, heißt „Untersuchungsausschuss“. Dieses Problem wird ab März virulent, für Sebastian Kurz, Thomas Schmid, für Karl Nehammer und für ihre Partei.
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