Donnerstag, Februar 13, 2025

Julya Rabinowich – Lasst uns reden

Julya Rabinowich

Hier sollte die Coronatrilogie eigentlich an ihr Ende kommen, dem Muster verliebt-verlobt-verheiratet folgend. Vor Corona gewarnt, Corona erlebt, Corona überwunden. Der dritte Teil lässt sich so gesamtgesellschaftlich aber nicht recht erfolgreich abschließen.

Wien, 15. Jänner 2022 |

Während die einen landesweit Verzicht üben, und Vorsicht walten lassen, fahren die anderen in die Hauptstadt, um dort abstands-anstands-und maskenlos in den Strassen zu marodieren. Während die mit Risikokindern und steigendem Verzweiflungspegel auf Schutz oder wenigstens Unterstützung hoffen, setzen andere ihr Kind als Propagandamaterial ein, indem sie zuerst absurde Regelungen fordern und bei Erfüllung dieser Forderung Fotos in Social Media verbreiten, die die Grausamkeit der zuvor geforderten Regelung kritisieren. Kinder, die Angst haben, sich in der Schule anzustecken, weil zwei Jahre Pandemie nicht reichen, um Lösungen zu finden. Kinder, die wegen Isolierung und ungünstiger Umgebung den Anschluss verlieren, weil zwei Jahre Pandemie nicht reichen, um Lösungen zu finden. So oder so: diese Kinder und Jugendlichen werden mit einer Nonchalance im Stich gelassen, die ihresgleichen sucht. Aber hey, sie können die Matura auch im Spital abhalten, wenn das nicht eine verlockende Aussicht auf schulische Karriere ist, was dann?

Überhaupt drängt sich seit zwei Jahren der Vergleich des Unterrichtsministeriums mit König Midas auf, nur verwandelt sich alles Angegriffene irgendwie nicht in Gold, sondern in etwas ganz, ganz anderes, wenig begehrtes. Während Ketten wie Starbucks oder lokale Wunder wie das Ho-Orakel deftig gefördert werden, warten kleine EPUs immer noch verzweifelt oder warten nicht mehr, sondern sind nur verzweifelt und bereits keine EPUs mehr. Corona legt offen, was auch zuvor schon nicht knusprig war, fügt aber auch noch einen teuflischen Schuss Dystopie und Survivaltraining zwischen Animal Farm und 1984 (beide von Orwell) und „Der Drache“ von Schwarz, weniger bekannt und sehr empfohlen) hinzu. Das ist zurecht verstörend, und es baut sich auch völlig zurecht Spannung auf, die fast alle in unserer Gesellschaft auf die eine oder andere Weise betrifft.

Nach dem sanft entschlafenen Babyelefanten, der in gewaltiger Penetranz werbemässig sein Unwesen trieb, gibt es als Antwort auf die eingangs erwähnten Zustände nun eine Kampagne namens Lasst uns reden. Weil wir das Gemeinsame suchen sollen. Um Gräben zu überwinden. Prinzipiell ist nichts gegen das Suchen des Gemeinsamen einzuwenden. Generell ist eine Spaltung der Gesellschaft etwas, das man nicht hinnehmen sollte. Die Verantwortung für die Gräben in der Gesellschaft, die ganz massiv durch Fehlentscheidungen, Ungerechtigkeiten und Intransparenz verursacht worden sind, auf den Familientisch abwälzen zu wollen, damit der wieder in den Schoss der Familie aufgenommene Onkel Hansi mit seinen schrulligen Verschwörungstheorien und die leicht abdriftende Cousine Sabine mit ihrem zu Mitternacht geernteten Kiefernnadelntee etwas Fuss in der Realität fassen können, ist aber leider nicht der richtige Ansatz. Jedenfalls nicht der ausreichend wirksame Ansatz, der zudem die Politik aus der Verantwortung entlässt, die eigentlich auch unliebsame Entscheidungen zu treffen hätte- von Impfpflicht, Arbeitsplatzsituation, Sicherheit in Schulen bis rote Linien bei Radikalisierung. „Wir haben uns alle lieb“ ist fein, aber für die Lösung der drängenden Probleme völlig unzureichend. Wie soll man reden mit Menschen, die einen Galgen quer durch die Stadt schleppen? Die medizinisches Personal bedrohen? Wie soll man reden mit Menschen, die eine jüdische Weltverschwörung heraufbeschwören wie anno dazu mal? Kann man es Opfern und Nachfahren der Opfer des Holocaust ernsthaft zumuten, sich verbal mit jenen zusammen zu raufen, die gelbe Impfsterne stolz am Revers tragen? Risikokindereltern mit denen, die diesen den Tod wünschen, damit die Gesellschaft endlich wieder in vollen Zügen feiern kann (Spoiler: das würde sowieso nicht funktionieren, auch wenn man die Schutzbedürftigen opfert).

Ja, durch Reden kommen die Leut’ zusammen. Aber: Alle oben Genannten sind keine gleichwertigen Gesprächspartner und können es auch nie sein. Das ist nicht die Aufgabe der Zivilgesellschaft. Das ist, wofür Politik verantwortlich ist. Die Privatisierung der Spaltung wird nicht funktionieren. Da können wir noch so gerne Du + Ich sein.

Titelbild: APA Picturedesk

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