Experte Karner im ZackZack-Gespräch
Im Gespräch mit ZackZack skizziert Militärexperte Gerald Karner die zugespitzte Situation in der Ukraine. Putin habe die Lage zunächst allerdings unterschätzt. Über Truppen, Geheimdienste und der Gefahr einer Eskalation:
Wien, 26. Februar 2022 | Gerald Karner ist derzeit sehr gefragt. Der langjährige Offizier arbeitete in verschiedenen Führungspositionen des Verteidigungsministeriums, er gilt als einer der versiertesten Militärexperten in Österreich. Derzeit huscht er von Interview zu Interview, auch für ZackZack hat er sich Zeit genommen.
Er sagt, russische Streitkräfte sind den ukrainischen schwer überlegen, vor allem, was die Luftstreitkräfte betrifft. „Das mag schon ein entscheidender Vorteil sein“, so Karner. Man könne so fast ungehindert auf die Bodentruppen der Ukrainer einwirken. Die Ukraine verfüge überdies über kaum nennenswerte Seestreitkräfte. So kann das russische Militär fast ungehindert über den Seeweg ins Land gelangen.
Lage volatil
Die Lage verändert sich aktuell sehr rasch, Einschätzungen sind daher schwierig. Karner meint aber, das Ziel Putins sei ganz klar das politische Zentrum der Ukraine: Kiew. Das Gespräch mit Karner führt ZackZack am Freitag, als die Hauptstadt immer mehr in den Fokus gerät. Karner hält fest: „Mir kommt vor, da war die russische Seite schon weiter.“ So sei ein Militärflugplatz 14 km nordwestlich von Kiew in der Nacht zurückerobert worden. Im Zentrum der Hauptstadt befänden sich insbesondere Spezialkräfte, deren Aufgabe die Ausschaltung politischer Führungsfiguren oder deren Gefangenschaft sei.
Es gebe aber widersprüchliche Meldungen über den Fortschritt dieser russischen Operation. Abhängig sei das auch vom Nachrücken der russischen Angriffskräfte in die Stadt. In der Nacht auf Samstag ist das passiert, die Ukrainer liefern sich harte Gefechte mit den russischen Truppen. Es ist also nicht nur ein Spiel mit Leben und Tod, sondern auch eines auf Zeit, folgt man Karners Ausführungen. Aktuelle Informationen zu verifizieren, wird gerade für Medien zunehmend schwieriger.
Putin hat Lage unterschätzt
Der Militärexperte mit guten Quellen und Erfahrung spricht von spürbarem Widerstand der ukrainischen Streitkräfte. „Es gibt durchaus glaubwürdige Berichte aus Geheimdienstquellen westlicher Natur, dass es auf russischer Seite schon eine vierstellige Zahl an Gefallenen geben soll, zumindest eine hohe dreistellige Zahl.“ Das sei durchaus überraschend.
Man könne derzeit nur spekulieren, jedoch dürfte sich dieses Lagebild nicht gerade positiv auf die Kampfmoral der russischen Seite auswirken, je länger der Krieg dauert: „Wenn man die ganze Zeit nur hört, wie toll man selbst ist und wie toll man ausgerüstet ist, aber dann auf einen entschlossenen und wehrhaften Gegner trifft, dann hat das definitiv Auswirkungen auf die Moral.“ Ein damit zusammenhängendes Problem seien laut Karner Auswirkungen in Russland selbst. Er gehe davon aus, dass die Soldaten nicht feierlich beigesetzt werden, „sondern eher hinter verschlossenen Türen“. Dies werde man nicht lange geheim halten können. Die Zustimmung zum Regime Putin könnte darunter leiden – trotz Propaganda.
Der Einsatz des russischen Präsidenten sei sehr hoch. Seriös beurteilen könne man die hohen Zustimmungsraten in der Bevölkerung zwar nicht, aber es sei nicht auszuschließen, dass sie etwas geschönt seien. Durchaus beeindruckend seien die Anti-Kriegs-Demonstrationen in russischen Städten – unter Androhung von Strafen und Gewalt wohlgemerkt. „Das ist ein Kennzeichen für ein Stimmungsbild, das nicht so toll ist wie vorgegeben“, so Karner.
Rolle der Geheimdienste
Was sagt er zur Rolle der Geheimdienste? Der US-Dienst CIA warnte im Vorfeld vor der Invasion. Hat man die Informationen unterschätzt oder liegt es an einer generellen Skepsis gegenüber Geheimdiensten, dass nicht viel passiert ist bis zum russischen Einmarsch? Beides stimmt laut Karner. Zunächst habe die westliche Politik die Entschlossenheit Putins falsch eingeschätzt, „und die eigenen Fähigkeiten, Frieden zu erhalten, überschätzt“. Mit der Ausnahme des US-Präsidenten Joe Biden sei die westliche Politik solche Phasen nicht mehr gewohnt, was sich negativ auf die Professionalität auswirke. Auf der einen Seite sei das gut, „weil das bedeutet, dass es so einen Krieg nicht sooft gibt.“ Auf der anderen Seite leide die Einschätzungsfähigkeit in Bezug auf die eigenen Konfliktlösungsfähigkeiten.
Karner ordnet aber auch ein, was Nachrichten- und Geheimdienste tun können. So seien die Dienste trotz Fehlern in der Vergangenheit fähig, Daten zu sammeln, zu interpretieren und den politischen Adressaten ein durchaus präzises Bild zu präsentieren. Dieses entstehe aus Informationen vor Ort, aber auch aus Quellen, die der politischen Führung der jeweiligen Kriegspartei nahestehen und die Entschlossenheit deshalb beurteilen könnten. „Nur muss die Politik das dann auch nutzen und Schlüsse daraus ziehen“, so Karner. Wenn man erst im Nachhinein darüber nachdenkt, wie man russisches Erdöl und Erdgas substituieren kann, frage ich mich, warum so spät? Ich fürchte etwaige Eventualplanungen hat es nicht gegeben“, meint der Experte weiter.
Gefahr eines großen Krieges „klein“
Die Amerikaner hätten allerdings ihr geostrategisches Hauptaugenmerk auf den Pazifik gerichtet. In Expertenkreisen bezeichnet man das als sogenannten „Pivot to Asia“, sprich als Konzentration US-amerikanischer Interessen auf den (süd-)ostasiatischen Raum. Gleichzeitig ist der eurasische Raum weniger wichtig geworden. Schon unter Barack Obama hatte sich dieser Weg angekündigt. Donald Trump, ein Präsident mit zweifelhafter Putin-Faszination, verstärkte diese Richtung. Wenn es darauf ankommt, ist die NATO allerdings stark genug, glaubt Karner.
Er bezweifelt, dass die russischen Streitkräfte wirklich bis an sämtliche NATO-Grenzen vorrücken werden. Karner: „Ich glaube, die Maximalvariante ist Stand jetzt, dass Bodenkräfte Russlands bis zum Gebiet westlich des Flusses Dnepr vorrücken könnten“. Der Fluss, der auch durch Kiew fließt, trennt die Ukraine geographisch ziemlich genau in der Mitte. Ein Vorrücken in den Westen sei zwar durchaus möglich, aber verbunden mit hohen Verlusten, „wodurch für Putin nichts gewonnen wäre.“
Auch eine Marionettenregierung Russlands ist Karner zufolge kein großartiger Ausblick. Ein längeres Besetzthalten des ganzen Landes ist „völlig illusorisch und kostspielig in jeglicher Hinsicht“. Eine große Gefahr sei gegenwärtig, dass aus Missverständnissen ein tragischer Unsinn entsteht. Gerade das Baltikum und osteuropäische Staaten wie Polen seien gefährdet. Eine Eskalation NATO-Russland könne aber niemand ernsthaft wollen. Droht ein großer, gar ein nuklearer Krieg? Karner beschwichtigt: die Gefahr eines großen Krieges sei vorhanden, „aber klein“.
(wb)
Titelbild: APA Picturedesk, Screenshot Puls 24.