Das ist ein Unterüberschrift
Russlands Diktator Wladimir Putin bedroht die Welt offen mit Atomkrieg. Wie ernst ist das? Und kann Putin einfach den Roten Knopf drücken?
Analyse von Thomas Walach
Wien/Moskau, 01. März 2022 | Am Sonntag versetzte Russlands Diktator Wladimir Putin die russischen „Abschreckungskräfte“, darunter die Atomwaffen-Einheiten, in erhöhte Alarmbereitschaft. Schon zuvor hatte Putin dem Westen mit Konsequenzen gedroht, wie sie in der Geschichte noch nie vorgekommen seien, falls jemand der Ukraine zur Hilfe käme.
Ist das nur atomares Säbelrasseln, oder steckt mehr dahinter? Was sind Putins Optionen? Und: Kann ein Mann alleine die menschliche Zivilisation auslöschen?
Einen strategischen Atomschlag Russlands gegen den Westen halten Experten für praktisch ausgeschlossen. „Strategisch“ bedeutet: gegen zivile Ziele wie Städte oder Infrastruktur gerichtet. Schon in den letzten Jahren des Kalten Krieges waren sowjetische Strategen zu dem Schluss gekommen, dass ein vollständiger atomarer Schlagabtausch mit der NATO nicht zu gewinnen wäre – für niemanden. Diese Erkenntnis gilt auch heute noch.
Aber begrenzte, sogenannte taktische Atomschläge spielen in Russlands Militärdoktrin eine wichtige Rolle. Das liegt laut David S. Yost vor allem an der deutlichen Unterlegenheit des konventionellen russischen Militärs im Vergleich zur NATO. Yost ist einer der führenden Experten im Bereich internationaler Sicherheit und Atomwaffen.
Russland, der Zwerg mit der Bombe
Russlands Regierung fühle sich dem Westen politisch, wirtschaftlich und militärisch derart unterlegen, dass in der Sicht russischer Führer allein seine Atomwaffen das Land davor bewahrten, unter westlichen Einfluss zu geraten, so Yost. Dieser Ansicht schließen sich viele westliche Außenpolitiker an. Russland sei eine „Tankstelle mit Atomwaffen“, so ein beliebter Witz in diesen Kreisen. Der finnische Russland-Spezialist Stefan Forss sagt: „Ohne Atomwaffen wäre Russland auf der globalen Bühne ein Zwerg.“ In der russischen Militärdoktrin steht die NATO als wahrgenommene Bedrohung an Platz 1.
Kein Wunder, dass nach einer Phase nuklearer Abrüstung unter Gorbatschow und Jelzin eine Aufrüstung des russischen Atomarsenals unter Putin folgte. Mindestens 20 Programme zur nuklearen Aufrüstung kündigte Putin seit Beginn seiner Herrschaft an. Russland verfügt heute über rund 6.000 Atomsprengköpfe unterschiedlicher Wirkung und Bauweise. Nicht alle davon sind ständig einsatzbereit.
Gerade im Bereich taktischer Atomwaffen hat Russland in den letzten 20 Jahren große Rüstungsfortschritte gemacht und ist derzeit dem Westen überlegen. Um das zu erreichen, hat Russland auch Abrüstungsverträge umgangen oder gebrochen. Der Grund dafür: Die russische Militärdoktrin sieht den Einsatz von Atomwaffen vor, wenn seine konventionellen Kräfte überwältigt werden. Russland weiß, dass seine Streitkräfte in schlechtem Zustand sind. Also droht es öffentlich mit dem Einsatz von Atomwaffen. Eine Militärdoktrin ist immer auch eine politische Willenserklärung.
„Atomare Deeskalation“
Westliche Experten sind der Überzeugung, dass Russlands Militärstrategie den Plan beinhaltet, taktische Atomschläge auch in konventionellen Konflikten einzusetzen. So sollen westliche Staaten abgehalten werden, Gegnern Russlands in regionalen Konflikten zur Hilfe zu kommen. „Eskalation für den Sieg“, nennen westliche Militärstrategen das. Die russische Sprachregelung ist zurückhaltender. Dort heißt die Strategie „Eskalation zur Deeskalation“.
1999 veröffentlichten drei ranghohe russische Offiziere einen Fachbeitrag, in dem sie die Doktrin erklärten, einige andere Beiträge aus dem russischen Militär folgten: Ein atomare Präventivschlag käme für Russland nicht in Frage. Würde es jedoch angegriffen, würde das Russland im Zweifel Atomwaffen einsetzen, um eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern – gerade weil es einer Ausweitung mit konventionellen Mitteln vielleicht nicht gewachsen wäre.
Die Offiziere sprechen von sechs Stufen einer solchen „atomaren Deeskalation“, von der reinen Demonstration nuklearer Waffen bis zur vollständigen nuklearen Vernichtung konventioneller Truppen, die drohen, ihre russischen Gegner zu überrennen.
Die Strategie, begrenzte Atomschläge auch in konventionellen Konflikten einzusetzen, dient also der Abschreckung. Indem Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, folgt er also genau der russischen Doktrin. Die sieht auch vor, einen Nuklearsprengkopf in einem menschenleeren Gebiet zu zünden, um die eigene Entschlossenheit zu zeigen. Der russische Militärexperte Pavel Felgenhauer sagte gegenüber BBC, die Nordsee zwischen Dänemark und dem UK sei ein wahrscheinlicher Ort, falls es zu so einer Demonstration nuklearer Stärke käme.
Der Atomkoffer
Den ursprünglichen Befehl zum Einsatz von Atomwaffen müsste Putin selbst geben. Je weiter ein Atomwaffeneinsatz eskaliert, desto weiter rutscht die Befehlsgewalt nach unten, bis hin zu Kommandeuren von Einheiten an der Front. Doch die Rahmenbedingungen gibt die Staatsspitze vor. Putin verfügt zu diesem Zweck über einen Atomkoffer mit Abschusscodes. Kann er also jederzeit den roten Knopf drücken?
Nein, denn Putin selbst hat nur einen Teil der Codes. Auch Verteidigungsminister Sergei K. Schoigu muss den Einsatz von Atomwaffen freigeben, ebenso wie der Generalstab, Schogiu und Generalstabschef Walerij W. Gerassimow kennen westliche Medienkonsumenten als die beiden Generale, die am Ende des langen Tisches saßen, an dessen Kopf Putin die erhöhte Alarmbereitschaft der Atomstreitkräfte verkündete. General Schoigu wurde von Putin als Minister eingesetzt, nachdem dessen Vorgänger seinen Posten 2012 wegen eines Immobilienskandals verloren hatte. Auch Gerassimow kam im Rahmen der Rochade in sein Amt.
Kann im Ukraine-Krieg ein Fall eintreten, in dem Russland Atomwaffen zur „Deeskalation“ einsetzen würde? Das ist kaum denkbar. Wörtlich heißt es in Russlands Militärdoktrin:
„Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, als Antwort auf einen gegen sie oder ihre Verbündeten erfolgten Einsatz von Kernwaffen oder anderer Massenvernichtungswaffen ihrerseits Kernwaffen einzusetzen.“ Das steht nicht zur Debatte. Aber weiter heißt es: „Das gilt auch für den Fall einer Aggression mit konventionellen Waffen gegen die Russische Föderation, bei der die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät.“
Pokern mit Putin
Auch das wird nicht passieren. Aber Putins Rhetorik der letzten Tage – so nannte er Wortmeldungen westlicher Politiker „aggressive Äußerungen“, auf die Russland mit der Alarmbereitschaft der Atomstreitkräfte reagieren müsse – erfüllt einen bestimmten Zweck in diesem Zusammenhang. Westliche Politiker und Militärs kennen Russlands Abschreckungsdoktrin. Sie sollen glauben, dass Putin Sanktionen oder Waffenhilfe für die Ukraine als Aggression gegen Russland verstünde.
Der Westen reagierte, indem er Putins Karten sehen wollte und erließ Sanktionen in bisher nicht gekanntem Ausmaß, lieferte Waffen an die Ukraine – Deutschland und die EU änderten dabei ihre jahrzehntelange politische Linie. Es sieht aus, aus wäre Putin beim Bluffen erwischt worden.
Putin und die russische Führungselite haben keinen Todeswunsch. Putin will, wie es in einem Essay heißt, der anlässlich des Überfalls auf die Ukraine von den russischen Medien veröffentlicht wurde, de facto den Zerfall der Sowjetunion rückgängig machen. Er will ein historisches Erbe hinterlassen, nicht Russland in den nuklearen Holocaust führen. Die Frage ist: Wird Putin seinen eigenen Sturz als Bedrohung für Russland selbst auffassen? Dann kann, wie Außenpolitik-Doyenne Susanne Scholl sagte, nur eine Palastrevolution im Kreml Putins Regime einigermaßen unblutig beenden.
Russland und den Russen würde das einen neuen Herrscher, vielleicht auch ein Ende der imperialistischen Politik bringen – aber weder Freiheit noch Demokratie.
So in einem 2017er Memorandum von 31 führenden Militär- und Außenpolitikexperten für das „National Institute for Public Policy“ (das in den USA als außenpolitischer Hardliner-Think Tank gilt).
V. I. Levshin, A. V. Nedelin, M. E. Sosnovskyi
Titelbild: APA Picturedesk