Im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wurde das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl besetzt. Seit der Einnahme vor einer Woche hat die Belegschaft dort nicht gewechselt. Die Arbeiter sind ausgelaugt, erzählt Tanja, die eine der Geiseln kennt:
Tschernobyl, 04. März 2022 | Am 24. Februar besetzten russische Truppen das stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl und nahmen im Zuge dessen auch die Personen vor Ort in Geiselhaft. Seitdem wurde von ukrainischen Behörden eine erhöhte Strahlung in der Region gemessen. Im Gespräch mit ZackZack erzählt Tanja W. (Name von der Redaktion geändert), die eine der Geiseln kennt, inwiefern die Anwesenheit der russischen Streitkräfte und das mangelnde Know-How über die technischen Anlagen eine Gefahr für das Atomkraftwerk darstellt.
Für Russland ist das an der belarussischen Grenze gelegene Tschernobyl von strategischer Bedeutung. Das liegt nicht nur daran, dass die kürzeste Route von Belarus nach Kiew durch Tschernobyl führt, sondern auch daran, dass es sich bei dem Reaktor 1 um den Energielieferanten für die ganze Region Kiew handelt. Kurz nach der Übernahme meldete die Nachrichtenagentur „Associated Press“ unter Berufung auf eine anonyme Quelle, dass ein Lager für radioaktive Abfälle beschossen worden sei, was zu einem Anstieg der Strahlungswerte geführt haben soll.
Zudem sorgen die Bewegungen schwerer Militärfahrzeuge in der Sperrzone rund um die Reaktorruine durch den Staub, den sie aufwirbeln, für einen Anstieg der Kontrollwerte. Laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) stellt das jedoch keine Gefahr dar. Moskau dementiert die erhöhten Strahlungswerte.
Mentale Tortur
Indes berichten russische Propagandamedien von einer friedlichen Übernahme und einer Fortsetzung der Zusammenarbeit der russischen Streitkräfte mit dem Personal im Atomkraftwerk. Es wird das Bild vermittelt, dass alles unter Kontrolle sei. Tanja bestätigt, dass die Streitkräfte den Geiseln gegenüber nicht feindselig seien. Aber auch, wenn sie von den russischen Soldaten nicht physisch gefoltert würden, könne man in Anbetracht der gegebenen Umstände von einer Tortur reden, fügt sie hinzu.
Seit der Besetzung vor einer Woche befinden sich Tanja zufolge schätzungsweise 300 Personen im Atomkraftwerk. Darunter 95, die zum Personal gehören, sowie 150 zur ukrainischen Miliz, die bis zur Übernahme die Region überwachte. Der Rest setzt sich aus medizinischem Personal und dem Feuerwehrdienst zusammen. Seit Samstag hätten die Geiseln keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme zu ihren Familien. Laut Tanja haben die russischen Besatzer diese Verbindung gekappt.
Der Generaldirektor der IAEO, Rafael Mariano Grossi, hat in einer Pressesendung seine „wachsende Besorgnis über ihr anhaltendes Wohlergehen und ihre Fähigkeit, ihre Arbeit sicher und effektiv zu erledigen“ geäußert. Grossi hat wiederholt betont, dass jede militärische oder andere Aktion, die die Sicherheit der ukrainischen Kernkraftwerke gefährden könnte, vermieden werden müsse.
Fehlende Fachkräfte größte Sorge
Vor einer Woche hat die Nachtschicht des Atomkraftwerks in Tschernobyl ihren Dienst angetreten, kurz darauf haben russische Streitkräfte die Oberhand über das Atomkraftwerk gewonnen. Seither sind sie in russischer Gefangenschaft im Dienst. Tanjas Angaben nach hat sich die ukrainische Miliz, wohlwissend dass Kampfhandlungen um ein Atomkraftwerk ein Risiko bedeuten, widerstandslos ergeben. Die dortige Nachtschicht sei eigentlich nur für die Instandhaltung und die Kontrolle der Anlagen zuständig. In den Anlagen befinden sich komplexe technische Einrichtungen, die von Ingenieuren aus der Nachtschicht jedoch nicht bedient werden können, weil ihnen die Expertise fehle. Für den Umgang mit dieser Technik sind geschulte Fachkräfte notwendig.
Gegebenenfalls müssten sogar einzelne Teile oder zusätzliches Equipment nach Tschernobyl transportiert werden. Unter den vorherrschenden Bedingungen sei allerdings ein Zugang nicht möglich, die Lieferkette sei komplett abgebrochen. Die Gefahr in den umliegenden Orten sei außerdem zu groß, um zum Atomkraftwerk fahren zu können. Tanjas Angaben zufolge habe man Angst, unter Beschuss zu geraten. Außerdem soll die Brücke, die der Zug auf dem Weg nach Tschernobyl aus den umliegenden Ortschaften überquert, gesprengt worden sein.
Dem Personal vor Ort fehle es nicht nur an Expertise, sondern auch an grundlegenden Ressourcen wie Nahrungsmittel und Hygieneartikel. Die psychische Belastung, der die Geiseln ausgesetzt sind, werde durch Schlafmangel aufgrund fehlender Möglichkeiten verstärkt. Tanja merkt auch an, dass es sich bei den meisten Personen teilweise um starke Raucher handle, die unter Entzug leideten – was dem Stressfaktor nicht gerade zugutekomme.
Hohe Strahlenexposition
Im Atomkraftwerk befänden sich abgesehen vom radioaktivem Abfall auch gefährliche, chemische Substanzen in großen Lagern für Kernbrennstoffe, was den russischen Truppen nicht bewusst sein könnte. Bei Beschuss könnte das eine enorme Bedrohung darstellen. Wenn auch nur durch ein Versehen die Struktur des Atomkraftwerks beschädigt werden sollte, könne das verheerende Auswirkungen nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf die Nachbarländer haben.
Insbesondere die stark kontaminierte Sperrzone, die seit der Reaktorkatastrophe evakuiert worden war, gilt als äußerst risikobehaftet. Tanja zufolge setzen sich die russischen Streitkräfte schon durch ihre Anwesenheit in dieser Zone ohne vorschriftlicher Schutzausrüstung enormer Strahlung aus. Der Zugang in dieses Gebiet wird normalerweise aufgrund der hohen Strahlenexposition nur mit Genehmigung gestattet.
Im Interesse aller Beteiligten seien Verhandlungsgespräche zur Befreiung der Zone notwendig. Dafür müsse jedoch eine sichere Ausreise der Geiseln gewährleistet werden, was zum aktuellen Zeitpunkt nicht gegeben sei. Denn auf das Wort der Russen könne man sich nicht verlassen, wie diese wiederholt unter Beweis gestellt hätten, so Tanja gegenüber ZackZack.
(nb)
Titelbild: APA Picturedesk