Was ist der Stand der Dinge?
Während die russische Armee sich unter hohen Verlusten vorkämpft, leidet die Zivilbevölkerung. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Viele harren in belagerten Städten aus. Ein Überblick über zwei Wochen Krieg.
Wien, 09. März 2022 | Tag 14 der russischen Invasion in der Ukraine. Nachrichten zum Krieg sind schwer zu überprüfen. Was wir wissen:
Die Zivilbevölkerung leidet
Die Zivilbevölkerung leidet unter den Kriegshandlungen. Etwa zwei Millionen Menschen sind laut UNO bisher aus der Ukraine geflohen. Viele weitere sind im Land auf der Flucht. Es gibt zahlreiche Meldungen über getötete oder verletzte Zivilisten, Bilder zeigen zerstörte Wohngebäude.
Russland sagte die Öffnung humanitärer Korridore aus den Städten Kiew, Charkiw, Tschernihiw, Sumy und Mariupol zu. So sollen Zivilisten aus den belagerten Städten fliehen können. Die vorgeschlagenen Routen würden aber auf das Gebiet Russlands beziehungsweise seines Verbündeten Belarus führen. Im Syrien-Krieg wurde Russland wiederholt vorgeworfen, humanitäre Korridore angegriffen zu haben.
Die Weltgesundheitsorganisation bestätigte am Montag mindestens 16 Angriffe auf Spitäler und Gesundheitseinrichtungen. Laut WHO nehmen die Angriffe seit einigen Tagen zu. Den ukrainischen Spitälern gingen indes medizinische Versorgungsgüter aus. Es fehle vor allem an Sauerstoff und Impfstoffen gegen Kinderlähmung – die Ukraine sieht sich derzeit mit einem Ausbruch der Krankheit konfrontiert.
Besonders schlimm ist die Lage in der Hafenstadt Mariupol. Die Stadt steht seit Tagen unter russischem Beschuss. Die Einwohner haben weder Heizung, Strom, noch Wasser.
Kämpfe dauern länger, als Russland erwartete
Die russische Armee macht bei ihrer Offensive langsame Fortschritte. Der erhoffte schnelle Sieg scheint aber außer Reichweite. Laut ukrainischen Angaben seien über 12.000 russische Soldaten getötet worden. Westliche Experten halten das für weit übertrieben. Die USA gehen von 3.000 bis 4.000 gefallenen russischen Soldaten aus – immer noch weit mehr, als die russische Führung zu Beginn der Invasion erwartet hatte. Der Kreml spricht von bisher rund 500 Toten auf russischer Seite. Rund 950 russische Militärfahrzeuge, drunter etwa 140 Panzer, seien zerstört worden, sagen Analysten des britischen “Royal United Services Institute” nach Auswertung von Satellitenbildern.
Russische Truppen haben bisher gezögert, in urbanen Gebieten zu kämpfen, wo gepanzerte Fahrzeuge besonders verwundbar sind. Die USA und eine Reihe europäischer Staaten haben Panzerabwehrwaffen an die Ukraine geliefert. Laut US-Experten würden diese effektiv eingesetzt. Im Rahmen einer Luftbrücke versorgen westliche Staaten die Ukraine in großem Stil mit Militärgerät.
Während russische Truppen in städtischen Gebieten nur langsam Vorankommen, ist es ihnen gelungen, einige Städte einzuschließen. Vororte Kiews stehen unter Beschuss. Am Sonntag machte ein Fotograf der New York Times eine Aufnahme, die weltweit für Entsetzen sorgte: Sie zeigt die Leichen eine ukrainische Familie, die auf der Flucht durch Artilleriebeschuss getötet wurde. Die Szene spielte sich in Irpin, einem Vorort von Kiew, ab.
Nördlich von Kiew steckt ein rund 60 Kilometer langer Konvoi russischer Militärfahrzeuge seit Tagen fest. Die Soldaten im Konvoi sind vom Nachschub abgeschnitten. Es gab Berichte, nach denen Soldaten ihre liegen gebliebenen Fahrzeuge verließen und sich zu Fuß nach Norden aufmachten. US-General Keith Kellogg sagte, die US-Streitkräfte hätten den unbeweglichen Konvoi längst „abgefackelt“.
Der ukrainischen Armee fehlen für entscheidende Angriffe auf den russischen Konvoi offenbar die Mittel. Östlich von Kiew machen die russischen Truppen schnellere Fortschritte, sagt das Washingtoner „Institute for the Study of War“. Auch im Süden und Osten des Landes kommen russische Offensiven schneller voran. Russische Truppen haben von der Krim aus Kontakt zu Einheiten in den Rebellengebieten im Osten hergestellt. Im Zentrum dieser Bewegung: das belagerte Mariupol.
Laut britischem Verteidigungsministerium versucht die russische Armee, weitere ukrainische Städte einzuschließen. Ein russischer Angriff auf Tschernihiw wurde von ukrainischen Truppen zurückgeschlagen.
Eine entscheidende Auseinandersetzung scheint kurz bevorzustehen: Von Charkiw im Norden und Melitopol im Süden aus bedrohen russische Vorstöße die zentralukrainische Stadt Dnipro, die viertgrößte des Landes. Die ukrainischen Truppen, die im Donbas kämpfen, drohen dadurch abgeschnitten zu werden. Sie müssten sich entweder aus der Ostukraine zurückziehen oder sich einschließen lassen.
Der ukrainische Premier Wolodymyr Selenskyj, dessen Gefangennahme oder Ermordung ein wichtiges Kriegsziel Russlands ist, forderte die NATO wiederholt auf, eine Flugverbotszone in der Ukraine durchzusetzen. Das ist derzeit ausgeschlossen, denn es würde bedeuten, dass die NATO russische Flugzeuge angreifen müsste und könnte damit den Krieg anfachen.
Seit Tagen verhandeln die USA und Polen über eine Möglichkeit, polnische Kampfflugzeuge vom Typ MIG-29 an die Ukraine zu liefern. Ukrainische Piloten können das Muster fliegen. Die USA wollen Polen durch amerikanische F-16 entschädigen. Zunächst zögerte Polen. Am Dienstag kündigte die polnische Regierung an, den USA sämtliche MIG-29 der polnischen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen und auf den US-Luftwaffenstützpunkt im deutschen Ramstein zu bringen. Gut 20 der Jets sind einsatzbereit. Nun zieren sich die USA. Der Knackpunkt: Weder Polen noch die USA wollen die Jets von einem ihrer Stützpunkte aus in die Ukraine schicken, um Russland nicht zu provozieren.
Scharfe Sanktionen
Die Wirtschaftssanktionen des Westens werden immer schärfer. Am Mittwoch haben die USA mit einem Lieferstopp für russisches Erdöl, Erdgas und Kohle erstmals den Energiesektor Russlands sanktioniert. Das UK will bis Jahresende folgen. Die EU konnte sich nicht zu vergleichbaren Maßnahmen durchringen.
Weder sanktioniert die Union russische Energieträger noch jene russischen Banken, über die Europa für Gas und Öl aus Russland bezahlt. Allein für Gas überwies die EU im Februar jeden Tag 200 Millionen Euro an Russland. Seitdem ist der Gaspreis weiter gestiegen. Kritiker werfen der EU vor, indirekt den russischen Angriff auf die Ukraine zu finanzieren.
Indes ziehen sich unter dem Druck der Öffentlichkeit immer mehr westliche Unternehmen aus dem Russlandgeschäft zurück, darunter VISA, Mastercard, McDonald’s, Starbucks, Coca Cola und Shell. Viele ausländische Medien haben ihre Berichterstattung aus Russland eingestellt, nachdem Zensurgesetze erlassen wurden, die missliebige Berichterstattung mit langen Gefängnisstrafen bedrohen.
Invasion soll auch Geheimdienst überrascht haben
„Der Spiegel“ veröffentlichte den anonymen Bericht eines russischen Geheimdienstangehörigen, der im Netz kursiert. Das Nachrichtenmagazin hält den Bericht für authentisch. Der anonyme Verfasser schreibt, selbst die Geheimdienste seien von der Invasion überrascht worden. Der Angriff sei von einem kleinen Zirkel um Diktator Putin geplant worden und habe Russland in eine ausweglose politische, wirtschaftliche und militärische Lage gebracht. Russland habe nicht die Ressourcen, um eine feindliche Ukraine besetzt zu halten. Ohne Besatzungstruppen würde aber jede von Moskau eingesetzte Marionettenregierung sofort gestürzt.
(tw)
Titelbild: APA Picturedesk