Die Neutralität war gut für Österreich. Jetzt kann sie ein Wegweiser für einen letzten Ausweg aus dem Ukraine-Krieg sein. Aber vieles ist heute in Kiew anders als 1955 in Wien.
Wien, 20.3.2022 Auch damals hätte alles anders kommen können. Mein Vater war Sozialist im französisch besetzten Ottakring. Meine Mutter lebte bei ihren Eltern in Kaisermühlen. Dort regierte die Rote Armee. Die ersten Erinnerungen daran gehören zum Schlimmsten in unserer Familiengeschichte.
Als Österreich neutral wurde, war ich ein einjähriger Kapfenberger. Die meisten in der Obersteiermark hatten 1955 die kurzen Wochen sowjetischer Herrschaft nach dem Ende des Krieges bereits vergessen. Damals wussten viele nicht, dass die russische Führung schon bald erkannt hatte, dass im Gegensatz zu Ostdeutschland von Wien bis in die Obersteiermark auch linke Sozialisten in ihrer Mehrheit nicht bereit waren, mit der KPÖ eine Einheitspartei zu bilden. Mein Vater war einer ihrer Wiener Wortführer.
Dass die an den Rand gewählte KPÖ für Stalin schon in den frühen 50er-Jahren nicht mehr die erste Option war, verdanken wir der Verweigerung dieses Anschlusses durch die SPÖ meiner Eltern. Der zweite Grund liegt wohl darin, dass in Österreich Osten und Westen zumindest aus russischer Sicht sprachlich homogen und eindeutig nichtrussisch waren. Aber erst der dritte Grund gab den Ausschlag, dass Österreich nicht in eine „Demokratische Österreichische Republik“ und in eine „Bundesrepublik Österreich“ geteilt wurde. Dieser Grund hieß „Neutralität“. Der vierte Grund ist nie ernsthaft diskutiert worden: Die siegreichen Westmächte trauten sich noch nicht zu, Mittel- und Osteuropa gegen die Sowjetunion zum Einflussbereich liberaler Demokratien zu erklären.
Wien – Kiew
Am möglichen Beginn eines zweiten Kalten Krieges hat vieles für die Neutralität der Ukraine gesprochen. Aber nicht viele haben sich dafür ausgesprochen. Die USA mit Großbritannien, NATO und EU im Gefolge verfolgten einen anderen Kurs. Die Perspektive einer NATO-Osterweiterung bis an Putins Grenze war offensichtlich einen Krieg wert.
Vielleicht war der Krieg unvermeidlich. Putins Rhetorik zielte auf Russen, die vor „Völkermord“ durch „ukrainische Faschisten“ geschützt werden mussten. Rückblickend ist schwer zu sagen, ob die russischen Panzer vor einer neutralen Ukraine gestoppt hätten. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Putin trotzdem den Befehl zur „Heimholung“ der „russischen“ Teile der Ukraine gegeben hätte. Zum Marsch auf Kiew wäre es vielleicht nicht gekommen. Vielleicht.
Wenn jetzt über eine Neutralität der Ukraine gesprochen wird, ist einiges anders:
- Österreich war kein zentraler Stein im Bauplan des russischen Blocks. Gemeinsam mit Kasachstan und Belarus gilt für die Ukraine das Gegenteil.
- Nach dem 2. Weltkrieg konnte Europa „friedlich“ zwischen zwei Block-Präsidenten aufgeteilt werden. Auch das ist diesmal anders, auch, weil die große Mehrheit der Menschen in der Ukraine selbst über ihre Grenzen bestimmen soll und darf.
- Die Ukraine ist bereits geteilt. Es gibt derzeit offensichtlich nur zwei Möglichkeiten, die Teilung wieder aufzuheben: durch Putins Herrschaft über die ganze Ukraine; oder durch den Sturz des Regimes in Moskau.
Schlechtes Gewissen
Twitter-Generäle und erfahrene österreich-russische Freunde aus der ÖVP sind felsenfest überzeugt, dass der Weg trotz Krieg und tausender Toter stimmt: Nur NATO-Osterweiterung und schneller EU-Beitritt brächten der Ukraine Demokratie und Freiheit. Aber derzeit sind beide politisch nur noch blasse Hoffnungen. Vor Ort sind sie Öl ins Feuer, nicht viel mehr.
Die USA werden ihren Kurs der militärischen und politischen Expansion weiter verfolgen. In Ungarn, Polen und Slowenien waren sie erfolgreich. Dort regieren Partner, die als militärische Verbündete ebenso verlässlich sind wie als Gegner von Rechtsstaat, Pressefreiheit und Demokratie. Sie stärken USA und NATO und schwächen die EU.
Aber was macht die EU? Schnellaufnahmen in eine Union der Rechtsstaatlichkeit können keine Kompensationen für Kriegsleid sein. Die hastigen Angebote aus Brüssel waren wohl nicht mehr als eine Mischung aus Mitgefühl, Ratlosigkeit und schlechtem Gewissen.
Für schlechtes Gewissen gibt es gute Gründe. Als Putin dem Oligarchen Michael Chodorkovsky den Schauprozess machte und den russischen Rechtsstaat gleich miterledigte, musste er dem Westen nur ein paar Reste der Yukos-Beute hinwerfen. Die satten Geräusche westlicher Banken und Energiekonzerne übertönten die zarten Aufschreie von Washington bis Brüssel.
Nach dem Überfall auf die ukrainische Krim hagelte es Proteste und gleich darauf Geschäfte für Société Générale, Raiffeisenbank International und UniCredit. Das „bailing in“ besorgte Putin mit den Banken. Vor dem bailing out stehen jetzt wieder Finanzminister, die wie der in Wien Milliarden an Einlagensicherung freigeben müssen.
Der belarussische Diktator konnte sich lange auf eine klare Doppelhaltung von Regierungen á la Österreich in Fragen der Menschenrechte und Geschäfte verlassen. Wirtschaftskapitäne flogen zu ihm nach Minsk, um sich spät in der Nacht beim geliebten Eishockeyspiel vom Diktator ein paar freundschaftliche Pucks einschießen zu lassen. Dann machten sie ein Geschäft.
Dieser doppelte Boden ist das Geschäftsprinzip zwischen EU und Putin. Alle wissen: Wenn der politische Boden einen Sprung kriegt, bricht der wirtschaftliche Boden glatt durch. Bevor Putin eine politische Rechnung zahlt, liegen die Rechnungen der gefährdeten Banken schon auf den westeuropäischen Tischen.
Wie helfen?
Was hat die EU der Ukraine zu bieten?
An erster Stelle steht Hilfe für die Menschen. Jetzt erinnert vieles an 2015: die Hilfsbereitschaft, die offenen Arme, das Gefühl, dass jetzt geholfen werden muss. Die ersten Wochen sind die Wochen der spontanen Menschlichkeit. Aber dann kommen die Wochen, die zeigen, ob es einen Plan gibt und Regierungen, die ihn umsetzen können.
Neben den Transporten mit Lebensmitteln und Medikamenten braucht die Ukraine ebenso dringend Waffen, um sich zu verteidigen: einfache Ausrüstung für einfache Verteidiger, aber vor allem Lenkwaffen gegen Panzer, Hubschrauber und Kampfbomber. Die uniformierten Halbwüchsigen in russischen Uniformen sollen ihren Familien in der Heimat berichten, dass sie nicht in Manöver geschickt worden sind. Und die Creme der Bomber-Piloten und der Kampfhubschrauber-Besatzungen soll spüren, dass sie nicht mehr aus sicherer Distanz Zivilisten umbringen können.
Noch einmal: aktive Neutralität
Auch für einen letzten politischen Ausweg braucht die Ukraine vielleicht bald die EU: als politischen Garanten für eine Neutralität, die von der EU unterstützt wird. Statt unbeholfener „Neutralitätsdebatten“ hätte diese Initiative längst von Wien aus gestartet werden können.
Bruno Kreisky hat als erster erkannt, dass die Neutralität mehr als eine politische Lebensversicherung in Moskau war. Seine aktive Neutralität hatte drei Säulen:
- keine Teilnahme an Kriegen
- keine Stationierung fremder Truppen
- kein Beitritt zu einem militärischen Bündnis.
In der Zeit des ersten Kalten Krieges reichte das, um eine kaum bewaffnete Begegnungszone zwischen Blöcken und ihren Stellvertreter-Kriegsparteien zu führen. Jetzt kann das der Kern des letzten ukrainischen Angebots sein.
Oligarchen oder Alternativen
Das Problem der EU hat Erhard Busek kurz vor seinem Tod hellsichtig beschrieben: „Wir sind tapfer – bis zum letzten Ukrainer“. Puls4 berichtete, Busek habe „eine fehlende Auseinandersetzung nicht nur mit Präsident Wladimir Putin in Russland, sondern auch mit Ungarns nationalkonservativen Premier Viktor Orban“ bemängelt und zitiert ihn noch einmal: „Wir haben mit der Ukraine-Frage eine Krise der Demokratie.“
Wenn der Krieg vorbei ist, geht es um Buseks Frage an uns: Können Putins Oligarchen und ihre Parteien vom Schlag der ÖVP wieder miteinander ins Geschäft kommen? Hilft die EU Putin wieder zu sicherem Sitz im russischen Sattel? Oder werden Alternativen unterstützt – eine freie, demokratische und wirtschaftlich erfolgreiche Ukraine, die russischen Nachbarn zeigt, dass es auch bei ihnen gehen könnte; eine demokratische Opposition in Russland, die sich erstmals auf den politischen Westen verlassen kann; und eine neutrale Ukraine, die ihren Weg in die EU langsam, ruhig und gut unterstützt beginnen kann.
Es ist unwahrscheinlich, dass Putin die ganze Ukraine auf Dauer unterwerfen kann und wahrscheinlich, dass der Preis für seinen Versuch hoch ist. Aber das Schlimmste, das Putin passieren kann, sind russisch sprechende Ukrainer, die ihren Verwandten im verarmten Putin-Reich erzählen, wie gut es ihnen geht. Das ist die beste Waffe, zu der die EU den Menschen in der Ukraine und in Russland gegen den Diktator in Moskau verhelfen kann.
Damit stellt sich schon heute die Frage nach einer Neuorientierung: Ist die EU bereit, auf der richtigen Seite zu stehen, wenn aus dem Roten Platz doch noch ein Maidan wird?
Ist da wer?
Die Neutralität hat Niederösterreich, dem östlichen Teil Oberösterreichs, dem Burgenland und den Wiener Bezirken von Leopoldstadt bis Floridsdorf und meinem Kaisermühlen die Freiheit gebracht. Wir haben um nichts schlechter und oft um einiges besser gelebt als die Freunde im Westen, deren Regierungen in die militärische Sicherheit der NATO und damit wohl auch in unsere investiert haben. Wir sind damit an einer der gefährlichsten Grenzen der Welt gut gefahren. Es stimmt, es hätte anders kommen können. Aber es ist so gekommen, auch, weil Österreich durch eine kluge Außenpolitik zur „Entspannung“ zwischen kommunistischen Diktaturen und westlichen Demokratien beigetragen hat.
Ich weiß, dass Österreich zum Frieden in Europa auch heute mehr als eine Bewaffnung der Eurofighter und ein abgebrochenes Kanzler-Selbstgespräch zur Neutralität beizutragen hat. Zumindest hoffe ich das. Also bleibt mir nur eine abschließende Frage: Ist da wer?
p.s.: Bitte entschuldigt das späte Erscheinen meines Kommentars. Ich helfe gerade der Bundesregierung persönlich bei ihrem Projekt der COVID-Durchseuchung der österreichischen Bevölkerung und habe aus diesem Grund am Mittwoch meinen Absonderungsbescheid erhalten. Bevor sich jemand Sorgen oder Hoffnungen macht: Mir geht es gut.
Titelbild: APA Picturedesk