Freitag, März 29, 2024

Eyes wide shut – Skylla & Charybdis

Skylla & Charybdis

Julya Rabinowich über absurde Propaganda, Risse und die Rückkehr in die Unfreiheit hinter den Vorhang. 

Wien, 23. April 2022 | The final curtain, von dem Frank Sinatra sang, ist glücklicherweise noch nicht gefallen. Die Würfel sind es auch noch nicht. Der Eiserne Vorhang aber fällt, nach und nach. Jenen, die hinter diesem Vorhang zurückbleiben, kommt es surreal vor. Unerklärlich. Unfassbar. Entsetzlich. Ein Rückschritt in längst überwunden geglaubte Zeiten. Eine Rückkehr in Unfreiheit.

Dissidenten und Kunstschaffende verlassen das Land in Wellen. Die freien Medien gehören eindeutig der Vergangenheit an und deren Gestaltende fliehen. Die Russen und Russinnen sind alarmiert. Das sind die einen. Die anderen sehen das etwas anders.

Sie merken den Fall des Vorhangs nicht einmal, weil ihre Augen und Ohren und Münder in Gegenposition zu den drei Affen weit offen stehen, aber voller Propaganda, die jetzt schon alles Dagewesene in den Schatten zu stellen droht.

Die Moskva- gesunken, aber zufällig, quasi auf eigenen Wunsch hin. Die Toten dieses Untergangs: verschwiegen, klein geredet. Die Ukrainer und Ukrainerinnen haben kein Recht, Ukrainer und Ukrainerinnen zu sein, denn wenn sie es sind, sind sie Nazis.

Es gibt keinen Krieg, aber die Nazis, also die Ukrainer und Ukrainerinnen, haben ihn begonnen. Die Ukrainer und Ukrainerinnen haben präparierte Leichen, die außerdem noch leben, in Butscha ausgelegt. Das ist insofern sowieso egal, als dass die in Butscha mordenden Soldaten eine Ehrung vom obersten Kriegstreiber erhalten haben.

Das alles klingt absurd, aber es wird zu einem gerüttelt Maß geglaubt. Die einen fliehen oder bäumen sich wild gegen die Zensurwelle auf, bis ihnen die Luft ausgeht- die anderen ziehen sich in den schützenden luftleeren Raum zurück, in dem Echos der Vergangenheit sich am Eisernen Vorhang brechen: so war es, so wird es wieder sein.

Das klingt abstrakt, ist es aber nicht: es greift in jede Familie, in jeden Freundeskreis ein, es bricht und zermalmt gewachsene Strukturen. Alle Kontaktaufnahmen bedeuten wieder Vorsicht und Balanceakte. Bedeuten sorgsames Abwägen jedes Wortes, bedeuten trotzdem mögliche Eskalation und möglichen Verlust.

Der Riss zieht sich durch jahrzehntelange Beziehungen und frische Affären. Der Riss verändert das Verhältnis zwischen Exilrussen und denen, die in ihrem Land geblieben sind. Hatten manche unserer Bekannten in den ersten Wochen absolut nichts für die Kritik an dem Einmarsch in der Ukraine übrig, so änderte sich das bei einigen nach und nach, bis es in dem Brief einer über Achtzigjährigen plötzlich hieß: „Es tut mir leid, ich bin im Faschismus aufgewacht. Es macht Angst, daran zu denken. Ich bin zu alt, um zu gehen.“

Allerdings hieß es in der Antwort einer Exilrussin selben Alters, die in jeder Kritik sofort Russophobie verortete: „Dein Hass wird ein Bumerang werden.“ Ich schätzte und kannte die Verfasserin seit über vierzig Jahren, jedes Wort schmerzte also. Erreichbar war sie lange nicht mehr. Die Erinnerung an den Eisernen Vorhang ist noch frisch- bei mir und bei anderen. Sehr viele dürften aber seine Bedeutung und auch seine Schrecken schnell vergessen haben.

Titelbild: ZackZack

Stefanie Marek
Stefanie Marek
Redakteurin für Chronik und Leben. Kulturaffin und geschichtenverliebt. Spricht für ZackZack mit spannenden Menschen und berichtet am liebsten aus Gerichtssälen.
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12 Kommentare

  1. Der erste Teil erinnerte mich an das Gedicht “Finster wars, der Mond schien helle”, das ich 5-jährig nicht oft genug hören könnte. Ich hab immer gelacht, weil sich das Absurde einschleicht. Ich hab den ersten Teil als lachend gelesen. Und dennoch ist es bitter wahr. Bitter. Propaganda ist Gehirnwäsche.

    Ich habe nur den postkommunistischen Osten kennengelernt. Man musste aufpassen, was man sagt, zu wem man was sagt, wo man was sagt “Die Wände haben Ohren!”. Das war immer noch ganz stark drin in den Menschen. Der Onkel, die Nichte könnten einen wegen eigener Meinung anzeigen. Die Kolleg:in, die Trafikant:in könnten Spitzel sein. Grusig. So war der Umgang im öffentlichen Raum stets feindlich, abweisend, schroff, um nur ja nirgends anzustreifen, weil jede Begegnung potenziell gefährlich war. Und im Privaten war es Vorsicht und Zögern, sich preiszugeben, eine Meinung zu haben.

    Sehr anstrengend. Raubt einem jede Energie für das Leben.

  2. “Das alles klingt absurd”

    Ja, aber nur wenn Frau Rabinowich das so wie oben beschreibt. In Russland darf man die Situation jedoch nicht so beschreiben, da ist der Krieg eine Militäroperation, der nur die Nazis ausschaltet, die Moskwa hatte einen gewöhnlichen Unfall, die Leichen in Butcha wurden von der Ukraine getötet und die Propaganda gibt es angeblich nur im Westen.

    In Österreich gibt es auch kaum jemanden, der das Hessenthaler-Urteil absurd findet (Ok, Ungerechtigkeiten gegenüber einer Person sind weniger schlimm als gegenüber einem ganzen Land) aber in Österreich dürfte dafür jedes Medium die Wahrheit schreiben, das schlimmste was passieren könnte ist der Verlust der Regierungsinserate und Slapp-Klagen.

    Irgendwie wundert mich der fehlende Widerstand in Russland überhaupt nicht. Wenn viele russische Soldaten nicht zurückkommen könnte sich das ändern, aber dann ist vermutlich die böse Ukraine Schuld.

  3. Diese, unsere, Realität, ein Albtraum aus dem es hoffentlich ein Erwachen gibt

  4. Keine der ehemaligen Sowjet Republiken wollte bei Russland bleiben. Warum wohl?
    Ich glaube das sagt alles. ……

  5. Ich bin mit dem eisernen Vorhang aufgewachsen. Der Fall der Berliner Mauer, der ersten Ausflug ins nahe Tschechien waren für uns unglaubliche Ereignisse. Es war als würde man einen anderen Kontinent betreten. Den Weg den Russland jetzt eingeschlagen hat, ist für mich umso unbegreiflicher.

  6. „Man kann sagen, dass der Faschismus der alten Kunst zu lügen gewissermaßen eine neue Variante hinzugefügt hat – die teuflischste Variante, die man sich denken kann – nämlich: das Wahrlügen.“
    ―Hannah Arendt

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