Krieg gegen die Ukraine
Noch immer sind Hunderte Menschen im Asow-Stahlwerk in Mariupol eingeschlossen. Die Ankündigung einer Feuerpause durch Russland lässt hoffen, dass weitere Zivilpersonen aus dem Fabrikgebäude gerettet werden könnten.
Wien/Kiew, 05. Mai 2022 | Russische Truppen sind nach Informationen der Ukraine auf das Gelände des belagerten Asow-Stahlwerks in Mariupol vorgedrungen. “Mit Unterstützung der Luftwaffe hat der Gegner seinen Angriff mit dem Ziel erneuert, das Fabrikgelände unter seine Kontrolle zu bringen”, teilte der ukrainische Generalstab am Donnerstag mit. Man stehe weiter in Kontakt mit den Verteidigern, sagt ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj dem Sender “Radio Free Europe”.
Das Wichtigste im Überblick
- Es ist Tag 71 im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Am 24. Februar marschierte die russische Armee in den Nachbarstaat ein.
- Bis dato ist Cherson als einzige Großstadt in russischer Hand. Kämpfe und Bombardierungen richten sich immer mehr gegen zivile Ziele. In der südlichen Hafenstadt Mariupol herrschen laut Beobachtern apokalyptische Zustände.
- Noch immer sind mehrere Menschen im Asow-Stahlwerk eingeschlosse. Soldaten halten dort nach wie vor die Stellung gegen die russischen Angreifer. Nach dem Angriff auf das Theater in Mariupol soll es bis zu 600 Tote geben, schätzen Behörden.
- Trotz diverser Versuche sind alle Verhandlungen zwischen beiden Parteien gescheitert.
- Mehrere Länder werfen Russland inzwischen Kriegsverbrechen vor.
- Kreml-Chef Putin dürfte unzufrieden mit dem Erfolg seiner Invasion vor. Es mehren sich Berichte über Neubesetzungen hochrangriger Verantwortlicher, etwa im Sicherheitsapparat.
- Außerdem mehren sich Gerüchte über eine zumindest vorübergehende Übertragung der Amtsgeschäfte Putins an einen Vertrauten. Auch sein möglicherweise angeschlagener Gesundheitszustand ist immer wieder Gegenstand diverser Spekulationen.
- Russland hat den beiden Ländern Polen und Bulgarien das Gas abgestellt. Die EU debattiert über ein Gas-Embargo. In den vergangenen Tagen wurde das sechste Paket gemeinsamer Sanktionen gegen Russland beschlossen.
- Auch Kanzler Nehammer stattete Kriegstreiber Putin unlängst einen persönlichen Besuch ab. Die Kritik daran war laut, die Resultate mäßig.
Noch immer 200 Zivilisten im Stahlwerk
In dem Stahlwerk haben neben den ukrainischen Kämpfern Schätzungen zufolge auch noch bis zu 200 Zivilisten Zuflucht gesucht. Für die nächsten Tage hat Russland eine tägliche, auf mehrere Stunden begrenzte Feuerpause angekündigt, damit diese Menschen sich in Sicherheit bringen können.
Stürmung durch Russen könnte kurz bevorstehen
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte zuvor gesagt, dass die Blockade des Stahlwerks fortgesetzt werde. Präsident Wladimir Putin hatte befohlen, das große Stahlwerksgelände hermetisch abzuriegeln und auf eine Erstürmung zu verzichten. Zuletzt hatte es aber immer wieder Berichte über russische Angriffe auf das Werk gegeben. Am Wochenende ließ der Aggressor erstmals größere Evakuierungen von Zivilisten aus dem Stahlwerk in Richtung ukrainisch gehaltenes Territorium zu. Beobachter sahen darin ein Zeichen, dass Russland eine Erstürmung des Geländes vorbereiten könnte. Am Mittwochabend kündigte Russland an, am 5., 6. und 7. Mai humanitäre Korridore für die Evakuierung von Zivilisten aus dem Stahlwerk zu öffnen. Parallel dazu sollen jeweils zwischen 8 und 18 Uhr Moskauer Zeit die Waffen schweigen.
Weitere Evakuierungen geplant
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hofft auf weitere erfolgreiche Evakuierungsaktionen für Zivilisten aus Mariupol. Die ukrainische Seite werde die dafür notwendigen Feuerpausen einhalten, sagte er am Mittwoch in seiner abendlichen Videobotschaft aus Kiew. “Wir hoffen, weiterhin Menschen aus Asowstal, aus Mariupol retten zu können”, sagte Selenskyj. Der Präsident berichtete von einem Telefonat mit UNO-Generalsekretär António Guterres über die Evakuierungen. Sie finden unter Vermittlung der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz statt.
Gespannt bleibt die Lage auch an anderen Frontabschnitten im Donbass. Demnach stehen die ukrainischen Truppen vor Donezk unter schwerem Beschuss von Artillerie und Luftwaffe. Das russische Militär versucht, weiter Angriffe auf die Städte Liman, Popasna und Sewerodonezk zu starten. Eigenen Angaben nach konnten die Ukrainer die Angriffe abwehren. In der ostukrainischen Region Luhansk sind nach Angaben des dortigen Gouverneurs in den vergangenen 24 Stunden fünf Zivilisten durch russischen Beschuss getötet worden. Der Beschuss habe sich auf vier Ortschaften konzentriert, teilte Luhansks Gouverneur weiter mit.
Einen Erfolg meldete der Generalstab von der Südfront: Demnach sei es dort gelungen, dem Gegner die Kontrolle über mehrere Ortschaften an der Grenze zwischen den Gebieten Cherson und Mykolajiw zu entreißen. Details und Ortsnamen nannte die Kiewer Militärführung dabei nicht. Von unabhängiger Seite ließen sich die Angaben nicht überprüfen.
Laut Geheimdienst Militärparade am 9. Mai geplant
Russland soll nach Angaben Kiews am Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai eine Militärparade im weitgehend eroberten Mariupol planen. Der stellvertretende Leiter der Moskauer Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko, sei in Mariupol eingetroffen, um die Feierlichkeiten vorzubereiten, teilte der ukrainische Militärgeheimdienst am Mittwoch mit. Mariupol solle nach den Plänen Moskaus ein Zentrum der “Feierlichkeiten” am 9. Mai werden. Am diesem Tag feiert Russland traditionell den Sieg über Nazi-Deutschland mit einer Militärparade und einer Rede von Kreml-Chef Putin auf dem Roten Platz in Moskau.
Die zentralen Straßen der Stadt würden derzeit “von Trümmern, Leichen und nicht explodierten Sprengkörpern gesäubert”, heißt es vom ukrainischen Militärgeheimdienst. Demnach sei eine groß angelegte Propagandakampagne im Gange. “Den Russen sollen Geschichten über die ‘Freude’ der Einheimischen über das Zusammentreffen mit den Besatzern gezeigt werden.”
Der russische Angriffskrieg auf das Nachbarland dauert bereits seit Ende Februar an. Große Landesteile nördlich und nordwestlich der Hauptstadt Kiew waren einen Monat lang von russischen Truppen besetzt. Der Fund von Leichen in Städten wie Butscha – einige der Toten hatten die Hände gefesselt – sorgte weltweit für Entsetzen. Moskau dementiert, dafür verantwortlich zu sein. Die Vereinten Nationen beziffern nach mehr als zwei Monaten Krieg die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten mit zumindest 3.200. Sie gehen aber von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus.
(apa/am)
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