Samstag, April 20, 2024

Oberösterreicher berichtet von Ukraine-Einsatz für »Ärzte ohne Grenzen«

Eine erschreckende Bilanz zum heurigen Weltflüchtlingstag: Fast 100 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Ein Oberösterreicher, der für “Ärzte ohne Grenzen” drei Monate in der Ukraine im Einsatz war, erzählt vom logistischen Aufwand und seinen Kriegserfahrungen.

Wien/Kiew, 20. Juni 2022 | Die Hilfsorganisation “Ärzte ohne Grenzen” vermerkt einen Anstieg an Krisen und Kriegen: Waren die Auslöser für Hilfseinsätze, in die Spendengelder aus Österreich geflossen sind, 2019 noch zu 57 Prozent bewaffnete Konflikte, sind es 2021 bereits 76 Prozent, teilte die NGO am Montag mit. “Fast 40 Prozent unserer Projekte von ‘Ärzte ohne Grenzen’ helfen Menschen auf der Flucht”, sagte Geschäftsführerin Laura Leyser bei einer Pressekonferenz zum Weltflüchtlingstag in Wien.

“‘Ärzte ohne Grenzen’ war bereits vor Kriegsbeginn mit laufenden Projekten in der Ukraine tätig. Wir mussten unsere Hilfe allerdings umgehend auf einen Noteinsatz umstellen”, berichtet auch Heinz Wegerer. Der oberösterreichische Logistik-Manager – soeben von seinem Einsatz aus Uschgorod in der Westukraine zurückgekehrt – erzählt, dass auch im Westen des Landes der Krieg sehr präsent sei.

Oberösterreicher war vor Ort

Wegerer war drei Monate für den Nachschub von Hilfsgütern und die Logistik von “Ärzte ohne Grenzen” in der Ukraine zuständig: “In den über drei Monaten, in denen ich jetzt in der Ukraine war, hatten wir – abgesehen von den am stärksten umkämpften Gebieten – bis heute kein Problem, die Güter dorthin zu bringen, wo sie gebraucht werden, via Straße und Schiene.“

Die NGO unterstützt Menschen auf der Flucht mit lebensnotwendigen Grundbedürfnissen wie sauberem Wasser, Schutz vor Kälte, Nässe oder mit Nahrungsmitteln. Ein Schwerpunkt ist außerdem die psychologische Unterstützung. “Viele Menschen, die flüchten müssen, hatten schwer traumatisierende Erlebnisse in ihrer Heimat und auf der Flucht. Hier ist schnelle psychologische Hilfe unglaublich wichtig”, erklärte Geschäftsführerin Leyser am Montag.

Besonders trauriger Weltflüchtlingstag 2022

Laut der UN-Flüchtlingsbehörde UNHCR sind erstmals mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht, entweder innerhalb ihrer eigenen Länder oder über Landesgrenzen hinweg. Die aktuelle Fluchtbewegung aus der Ukraine gilt als die größte, die je registriert wurde, rund 4,8 Millionen Menschen brauchen dringend humanitäre Hilfe und Schutz. “Hinter dieser enormen Zahl stehen 100 Millionen Einzelschicksale”, so Leyser.

Auch UNICEF meldete eine neue Rekordzahl: Erstmals seien knapp 37 Millionen Kinder weltweit auf der Flucht – wobei diejenigen aus der Ukraine dabei noch gar nicht miteinberechnet seien. Laut dem “Global Trends Report” der UNHCR hat sich die Zahl der geflohenen und vertriebenen Menschen in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. “Wenn die internationale Gemeinschaft nicht zusammenkommt, um etwas gegen diese menschliche Tragödie zu unternehmen, Konflikte zu lösen und dauerhafte Lösungen zu finden, dann wird dieser schreckliche Trend anhalten”, warnte auch UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi vergangene Woche.

600 Kollegen, 800 Tonnen Hilfsgüter

In der Ukraine seien 600 Kollegen und Kolleginnen der Ärzte ohne Grenzen an 15 Orten im Einsatz. Geschäftsführerin Leyser betonte: “Dass wir in solchen Kriegskontexten und Konflikten arbeiten können – und Zugang zu den Menschen, die davon betroffen sind, bekommen – ist rein unseren humanitären Prinzipien zu verdanken: Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit.”

“Wir konnten seit Kriegsbeginn mehr als 800 Tonnen an Hilfsgütern in die Ukraine bringen – es handelt sich hierbei in erster Linie um Medikamente und medizinische Ausrüstung”, fasst  Wegerer zusammen, “abgesehen davon können wir den Großteil der benötigten Güter direkt in der Ukraine beschaffen.” Dadurch würde auch die lokale Wirtschaft gestärkt. “Textilien wie Decken oder Handtücher für die Verwendung in Notunterkünften beschaffen wir beispielsweise bei einem Produzenten in der Ostukraine. Seine Fabrik ist unweit der Front, aber er macht weiter”, so der Logistiker.

Konfliktlösungen dauern immer länger

Bewaffnete Konflikte seien generell eine der Hauptursachen für Flucht, heißt es von der NGO. “Und wir sehen, dass es immer länger dauert, dass Menschen als Geflüchtete leben müssen, weil es immer länger dauert, bis es zu einer Konfliktlösung kommt und dementsprechend auch zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für die Rückkehr von Flüchtenden”, sagt Leyser. Große Flüchtlingskrisen, die die “Ärzte ohne Grenzen” teilweise seit Jahren beschäftigen, sind zum Beispiel in Bangladesch und Myanmar, Kenia, Afghanistan, Libyen und das Mittelmeer und seit einiger Zeit auch Burkina Faso, Äthiopien oder Lateinamerika.

“Man teilt den Schmerz”

Heinz Wegerer hat die Schrecken in den letzten Wochen selbst erlebt: “Kein Ort in der Ukraine ist tatsächlich sicher – das wird einem auch spätestens dann immer wieder bewusst, wenn tagsüber oder nachts die Sirenen des Luftalarms aufheulen.” Dadurch war ihm der Krieg “persönlich sehr nahe”, er habe viel Solidarität erlebt. “Die Kriegserfahrungen und die Sorgen werden nicht an der Bürotür abgelegt – man teilt den Schmerz.” Wegerer hat schon viel Erfahrung mit Hilfseinsätzen, beispielsweise im Jemen. Er wird die Lage in der Ukraine weiter beobachten.

(am)

Titelbild: Maurizio Debanne/MSF 

Anja Melzer
Anja Melzer
Hält sich für die österreichischste Piefke der Welt, redet gerne, sehr viel und vor allem sehr schnell, hegt eine Vorliebe für Mord(s)themen. Stellvertretende Chefredakteurin. Sie twittert unter @mauerfallkind.
LESEN SIE AUCH

Liebe Forumsteilnehmer,

Bitte bleiben Sie anderen Teilnehmern gegenüber höflich und posten Sie nur Relevantes zum Thema.

Ihre Kommentare können sonst entfernt werden.

5 Kommentare

  1. Das ist aber noch nicht das Ende der Fahnenstange!
    Zelenksy hat nun das Spielen russischer Lieder verboten.
    Heißt wohl, wenn es zu einer Teilung der Ukraine kommt – was sehr wahrscheinlich ist – dass die russisch stämmigen der West-Ukraine in die Ost-Ukraine deportiert werden, und die “Ukrainer” der Ost-Ukraine in den Westen. Dazwischen ist eine Demarkationslinie wie zwischen Nord- und Süd-Korea.
    Dafür kommt der “demokratische” Westen in die EU.
    Alles bestens!

  2. Die hier auf humanitärem Gebiet tätigen Personen, gehören schon lange vor den Vorhang. Selbige leisten übermenschliches und versuchen von der Politik angerichtete Schäden und Missstände, so gut als möglich zu beheben. Bravo. Ein großes Dankeschön an diese ehrenwerten Individualisten, ohne selbige wäre die Welt noch viel dunkler…
    Es muss aber heller werden!

Kommentarfunktion ist geschlossen.

Jetzt: Polizeiäffäre "Pilnacek"

Denn: ZackZack bist auch DU!