Eine Ärztin wird zur Zielscheibe
Die Landärztin Lisa-Maria Kellermayr wurde durch einen Tweet über eine Anti-Corona-Maßnahmen-Demo über Nacht zur Zielscheibe für Beschimpfungen und konkrete Mord- und Verfolgungsdrohungen. Weil sie sich und ihre Patienten schützen wollte, steht sie nun vorm Privatkonkurs.
Seewalchen am Attersee, 28. Juni 2022 | Am 22. November um drei Uhr Früh erhält Lisa-Maria Kellermayr ein Mail mit dem Betreff „Ich werde dich hinrichten“. Kellermayr ist Allgemeinmedizinerin mit Kassenordination in Seewalchen am Attersee. Knapp eine Woche davor hatte Kellermayr auf Twitter geschrieben, dass „eine Demo der Verschwörungstheoretiker“ in Wels „unter den Augen der Behörden“ den vorgeschriebenen Pfad verlassen habe und unter anderem den Eingang zum Klinikum Wels-Grieskirchen und die Rettungsausfahrt des Roten Kreuzes blockierte.
Dazu postete sie ein Video, das ihr jemand geschickt hatte. In diesem ist zu sehen, wie der Demo-Zug vor dem Eingang des Klinikums aufmarschiert und dabei auch an der Rettungsausfahrt des Roten Kreuzes vorbeikommt. Die Urheberin des Videos sagt: „Und Rettung kommt jetzt raus und kein Platz.“ Dann ist zu sehen, wie das Garagentor heruntergelassen wird. Der Twitter-Account der oberösterreichischen Polizei kommentiert unter Kellermayrs Post „zu den Falschmeldungen bzgl. Demo in Wels“, dass es bei der Demo weder zu Behinderungen von Rettungskräften noch zu sonstigen Straftaten oder Übertretungen gekommen sei. Deshalb, ist sich Kellermayr sicher, steht sie nun vor dem Privatkonkurs.
“Von der Polizei zum Abschuss freigegeben”
„Ich wurde von der Polizei zum Abschuss freigegeben“, meint Kellermayr. Tatsächlich lautet der Kommentar eines Impfgegners zum Posting: „Die Polizei ist mittlerweile schon auf unserer Seite.“ Wie konnte es so weit kommen?
Die 36-Jährige war vor der Corona-Pandemie Reha-Ärztin in Bad Ischl. Dann kam das bislang unbekannte Virus nach Österreich. Die Ärztekammer suchte nach zusätzlichem Gesundheitspersonal für den hausärztlichen Notdienst. Kellermayr meldete sich freiwillig.
„Ich war bereit, den Kopf hinzuhalten“, sagt sie heute. Corona habe ihr Leben um 180 Grad gedreht. Statt wieder als Reha-Ärztin zu arbeiten, wollte sie danach eine eigene Ordination aufmachen. In Seewalchen am Attersee stand ein Arzt kurz vor der Pension. Die beiden arrangierten eine Übergangslösung: Drei Monate würden sie die Praxis gemeinsam führen, dann Kellermayr ganz übernehmen. Der 22. November sollte ihr erster Tag als Chefin in der Gruppenpraxis sein.
Plötzlich nicht mehr privat
Nach dem Twitter-Kommentar der Polizei macht ein Screenshot des Twitter-Posts die Runde in Kommentarspalten von Verschwörungstheoretikern und Gegnern der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen. In der Telegram-Gruppe „Österreich steht auf“ postet jemand den Screenshot und dazu die Adresse von Kellermayrs Gruppenpraxis. Jemand anderer schreibt, man solle „der blöden Sau“ ein paar nette Worte hinterlassen. Menschen fordern, dass der Ärztin die Zulassung entzogen wird, nennen sie Hexe und Lügnerin.
Die Landärztin Lisa-Maria Kellermayr wird für die Menschen die Verkörperung dessen, was sie längst vermutet haben: Dass die Regierung, dass die etablierten Medien und das Gesundheitssystem lügen. Leise wird die Ärztin trotzdem nicht. Sie löscht nicht, wie die Polizei empfiehlt, ihren Twitter-Account. Sie äußert sich dort weiter zu ihrer Situation, zu Corona, gibt Tipps zum Umgang mit der Krankheit, ärgert sich öffentlich über jene, die Falschmeldungen verbreiten, und über Missstände im Gesundheitswesen.
Sie schließt auch nicht, wie ihr von einigen Stellen nahelegt wird, ihre Ordination. „Mitten am Höhepunkt der Delta-Welle kann ich nicht zusperren. Was wird aus den Leuten?“, fragte sich Kellermayr. Deshalb wird ihr vermittelt, sie sei selbst schuld. Auf ihrer „plötzlich-nicht-mehr-privaten Twitter-Seite“, wie Kellermayr selbst schreibt, fixiert sie einen Tweet. Darin steht, dass Beleidigungen und Beschimpfungen „ausnahmslos anwaltlich abgemahnt“ werden und sie die Drohenden nicht in ihrer vermeintlichen Online-Anonymität lassen wird. In der Nacht darauf schreibt „Claas“ zum ersten Mal.
Eine Ordination wird zur Hochsicherheits-Anlage
Diese Person schreibt, dass sie Kellermayr „kriegen“ werde. Sie beschreibt detailreich, wie sie sich unter die Patienten mischen und zuerst ihre Mitarbeiterinnen ermorden will, um Kellermayr damit zu quälen, dann die Ärztin foltern und langsam sterben lassen wird. Sie schließt mit: „Sollte ich zuviel (sic!) Gegenwehr bekommen, wenn ich euch besuchen komme, knalle ich euch eben einfach ab. Wäre aber schade, dann hätten wir ja viel weniger Spaß. Auf bald! Dein Claas.“
Statt am 22. November die Praxis aufzuschließen, fährt Kellermayr zur Polizei und erstattet dort Anzeige gegen die Person, die das Droh-Mail mit „Claas“ unterschrieben hat. Die Mail-Adresse führt ins Darknet. Die Polizei verspricht, vermehrt Streifen vorbeizuschicken.
Am Tag nach der Drohung öffnet die Ordination nur, weil Kellermayr einen bewaffneten Sicherheitsmann organisieren konnte. Marco bewacht von da an während der Öffnungszeiten die Ordination. Die Baupläne für die neue Ordination, die Kellermayr im Jänner beziehen will, werden umgeworfen. Statt herkömmlicher werden Sicherheitsfenster und -türen eingebaut. Kellermayr lässt eine Alarmanlage installieren, richtet eine Sicherheitsschleuse und einen Panikraum ein. Alles, während sie ihren Betrieb aufrechterhält.
„Es ist für mich nie infrage gekommen, dass ich das geringste Risiko eingehe, was meine Patienten angeht“, sagt die Ärztin. Deren Sicherheit müsse gewährleistet sein, „und zwar sicher, nicht nur wahrscheinlich.“ Innerhalb eines halben Jahres kostet das Kellermayr rund 73.440 Euro. Dazu kommen noch Rechtsanwaltskosten und Supervision für ihre Mitarbeiterinnen, die durch die ganze Situation ebenfalls belastet sind. Die Rechnungen liegen ZackZack vor. Die ersten drei Wochen der Bewachung übernimmt einmalig die Ärztekammer. Den Rest zahlt Kellermayr selbst. Im Jänner setzt die Sicherheitsfirma Marcos Stundensatz um 20 Euro herunter. „Neuer Preis aus moralischen Gründen“, ist auf der Rechnung vermerkt.
Ordination wird zur Wohnung
Bis Ende 2021 schickt die Polizei vermehrt Streifen vorbei, erzählt Kellermayr, dann vorerst nicht mehr. Knapp nach Silvester 2022 zieht Kellermayr dann in die neue Ordination – nicht nur beruflich. Kellermayr wohnt in der Ordination. Sie traut sich nicht mehr, sich frei zu bewegen. Die eigene Corona-Quarantäne Anfang Juni macht für Kellermayr keinen Unterschied zu ihrer neuen Normalität.
„Claas‘“ Drohung ist nicht die einzige, die die Ärztin bekommt. Aber sie ist so konkret, dass sie sich Sorgen macht. Um ihre Patienten, ihre Mitarbeiterinnen und um sich selbst. Die Polizei sieht keinen Grund zur Besorgnis: Wie aus dem Polizeibericht hervorgeht, hätten die Ermittlungen nach Kellermayrs Anzeige im November „keinen konkreten Tatverdacht“ ergeben. ZackZack liegen sämtliche zitierte Polizeiprotokolle und -berichte vor.
Enttäuschung über die Polizei
Seit sie unfreiwillig bekannt geworden ist, verlinkt Kellermayr Artikel und Informationen zu Corona, dessen Folgen und Bekämpfung. Sie tritt in Medien auf, zu Themen rund um die Pandemie, berichtet aber auch über ihre eigene Situation. Eine Zeit lang versucht sie, ihre Öffentlichkeit zu dosieren und folgt damit dem Rat der Polizei.
Auch der deutsche Fernsehsender “ZDF” berichtet über Kellermayr und fragt dafür bei der Polizei in Oberösterreich an. Diese vermerkt im Bericht, dass sich „der journalistische Fragesteller weniger dem Täter widmet als vielmehr ein Bestreben erkennbar wird, ein mögliches Polizeiversagen daherzureden“. Abschließend wird festgehalten, dass insgesamt der Eindruck gewonnen wurde, „dass Frau Dr. Kellermayr sich über verschiedene ‚Schienen‘ bemüht, die öffentliche Wahrnehmung ihrer Person zu erweitern, indem sie Druck auf die Ermittlungsbehörden ausübt“. Als Kellermayr das erfährt, hat sie längst den Glauben darin verloren, dass die Polizei sie und ihre Lage ernst nimmt. ZackZack hat die Polizei mit dieser Äußerung konfrontiert, aber keine Antwort erhalten.
Einer ihrer Auftritte im ORF inspiriert „Claas“ Anfang Mai zu einer zweiten Nachricht, die einen Hinweis darauf gibt, dass die Person aus Deutschland stammt: Der Verfasser verwendete den Terminus “Moin” zur Begrüßung und spricht vom “österreichischen Fernsehen”. Bis heute wissen die Ermittler aber nicht, wer hinter den Mails steckt.
Nach der Anzeige vermerkt die Polizei in einem Zwischenbericht, dass in Vöcklabruck eine starke Szene von Corona-Maßnahmen-Gegnern aktiv sei. Unter denen befinden sich demnach auch einige aus Deutschland stämmige Personen – darunter aber kein „Claas“.
Bei einem anderen Drohmail-Verfasser hat man mehr Glück. Roman M. schreibt, man werde Kellermayr vor ein Volkstribunal stellen – über die offizielle E-Mail-Adresse seines Unternehmens. Auch gegen ihn bringt sie eine Anzeige ein. Wie sich herausstellt, ist M. in Deutschland mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Körperverletzung. Dass man versucht hat, ihn einzuvernehmen, erfährt Kellermayr, wie sie erzählt, nicht umgehend, sondern nebenbei – von einem Streifenpolizisten, der wieder einmal bei ihr vorbeischaut. Als Kellermayr das hört, ist sie außer sich. Auch hiermit konfrontierte ZackZack die Polizei, bekam aber keine Antwort.
M. lebt nur wenige Autostunden von Kellermayr entfernt. „Was, wenn der ausgezuckt und hergefahren wäre?“, fragt sie sich. Nachdem M. Bayer ist und die Zuständigkeit daher bei den deutschen Behörden liegt, hat die Staatsanwaltschaft Wels ein Strafverfolgungsübernahmeersuchen an die Staatsanwaltschaft Traunstein gestellt. Das wird dort derzeit überprüft.
Endstation Privatkonkurs
Zwar arbeitet Kellermayr nicht mehr an der Adresse, die in die Telegram-Gruppe gepostet worden ist, aber ihre Ordination ist mit einer Internetsuche sofort zu finden. Nach den Drohungen hat sie sich neben den Anzeigen bei der Polizei an diverse Politiker, an die Ärztekammer, die diversen Gesundheitsminister, an das Innenministerium gewandt. „Ich renne von Pontius zu Pilatus auf der Suche nach Hilfe“, sagt Kellermayr.
Tatsächlich setzen sich einige Menschen stark für sie ein. Etwa Thomas Szekeres, bis vor kurzem Präsident der Österreichischen Ärztekammer, der auch immer wieder selbst mit Drohungen konfrontiert war. Er ist dafür, dass die öffentliche Hand Kellermayr die Sicherheitskosten abnehmen sollte. Auch Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober setzte viele Hebel in Bewegung. Er schlägt auch vor, einen Runden Tisch zu dem Thema einzurichten.
Kellermayr sucht aber nicht nur Unterstützung. Sie will auch eine Gefahreneinschätzung, will wissen, wie sie weitermachen soll. Erst vergangene Woche, am 22. Juni, exakt sieben Monate nach Claas‘ erster Drohung, bekommt sie diese. Omar Haijawi-Pirchner, Leiter des der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst, meldet sich persönlich bei ihr. Er sagt ihr, dass die Ermittlungen nach „Claas“ laufen und man noch auf Rückmeldungen aus dem Ausland warte. Er erzählt ihr, dass die Polizei einen Psychologen beigezogen habe, laut dem es unwahrscheinlich sei, dass „Claas“ tatsächlich aus dem Schatten der Anonymität heraustreten und seine Drohung umsetzen würde. Ausschließen könne man das natürlich nie – so realistisch bleibt er. Eine Bestätigung für das Telefonat wollte man im Innenministerium nicht geben – Kontakte des DSN seien nicht medienöffentlich, heißt es.
Verzweifelt
Kellermayr fühlt sich von Politik und Polizei alleingelassen. Sie habe alles gegeben, sagt sie. Es könne aber nicht ihre Aufgabe sein, im Alleingang einen Amoklauf zu verhindern. „Ich will meinen Patienten in die Augen schauen und nicht schauen, was sie mit ihren Händen machen“, sagt die Ärztin. Sie glaubt nicht, dass es jetzt noch eine Lösung für sie gibt. „Meine Existenz geht daran zugrunde“, sagt sie.
Im Mai hat sie sich einen Ordinationshund angeschafft, eine italienische Wasserhund-Dame namens “Fräulein”. Als „Therapiehund“, um die ganze Situation für sich selbst und für ihre Mitarbeiterinnen aushaltbarer zu machen. Mit Ende Juni kündigt sie ihre Kassenverträge. Das muss immer zu Ende des Quartals geschehen. Mit Ende September muss sie Privatkonkurs anmelden. Zuletzt hat sie Blutabnahmetermine vergeben, von denen sie weiß, dass sie nicht mehr stattfinden werden.
Am Abend des 27. Juni gibt Kellermayr bekannt, dass sie ihre Ordination bis auf Weiteres schließt – via Twitter. Sie veröffentlicht alles – die Drohungen, die Beschimpfungen und wie es dazu kam. Ob es „das Richtige“ ist, so umfassend an die Öffentlichkeit gehen, weiß sie nicht. Sie wiederholt nur: „Ich habe nichts mehr zu verlieren.“ Trotzdem hat sie Angst vor dem, was kommt: „Ich werde mir wieder anhören können, dass ich selbst dran schuld bin. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll.“
ZackZack hat die zuständigen Polizeibehörden und das Innenministerium mit Kellermayrs Schilderungen und mehreren Fragen konfrontiert, eine konkrete Stellungnahme zum Fall Kellermayr und zu den einzelnen Fragen blieb aber aus.
(pma)
Titelbild: APA Picturedesk/Bearbeitung: ZackZack