Sechs Monate Ukrainekrieg:
Sechs Monate nach Beginn des Ukrainekriegs kritisieren österreichische Hilfsorganisationen, dass die öffentliche Unterstützung weder schnell noch ausreichend, geschweige denn unbürokratisch ist. Sie fürchten, die Stimmung könnte sich gegen die Hilfesuchenden drehen.
Wien, 24. August 2022 | Vor sechs Monaten hat Russland die Ukraine angegriffen. Fast ein Drittel der dortigen Bevölkerung ist bisher geflüchtet. Zehntausende sind nach Österreich gekommen und von der Politik und der Zivilgesellschaft wohlwollend aufgenommen worden. Aber: Durch die Teuerung gehen Spenden zurück, sagt etwa die ehrenamtliche Geflüchtetenhilfe Train of Hope (ToH). Das Urteil der Asylkoordination Österreich zur langfristigen Versorgung ukrainischer Geflüchteter lautet: zu wenig, zu spät.
Der Staat habe bisher nicht ausreichend Strukturen geschaffen, um private Helfende zu entlasten beziehungsweise Geflüchteten ein Auskommen zu sichern, kritisieren Hilfsorganisationen. Sie befürchten, dass sich die Stimmung mit Herbst gegen die Geflüchteten drehen könnte.
Teuerung und Zeit gehen zulasten von Spenden
„Wenig überraschend wird die Unterstützung nach einem halben Jahr weniger“, stellt Nina Andresen von ToH fest. Die Teuerung belaste die Menschen, ihre Aufmerksamkeit sei auf die eigenen Sorgen gerichtet. ToH habe keine Großspender im Rücken. „Unsere Unterstützung kommt von gewöhnlichen Menschen“, sagt Andresen. Auch Unternehmen, die ToH unterstützt haben, meldeten, ihr Budget für humanitäre Hilfe sei bereits erschöpft und die wirtschaftliche Lage erlaube nicht, mehr Mittel bereitzustellen. „Da kommen der Faktor Zeit und der Faktor Wirtschaftslage ungünstig zusammen“, so Andresen.
Während Geld- und solche Spenden, für die man extra einkaufen muss, zurückgegangen seien, seien Aufrufe nach Kleiderspenden oder ehrenamtlichem Einsatz für ToH nach wie vor erfolgreich. Auch Nachbar in Not zieht nach einem halben Jahr Bilanz: Die Hilfe sei zunächst gut angelaufen. „Im ersten halben Jahr sind so bereits 35 Projekte mit einer Gesamtsumme von 23,47 Millionen Euro in Umsetzung“, heißt es in einer Aussendung. Doch anlässlich des nahenden Winters brauche die Hilfe „einen langen Atem“.
Stimmung könnte sich drehen
Dass die Spenden zurückgegangen sind, möchte Andresen nicht als Zeichen werten, dass die Solidarität dieselbe Entwicklung genommen hat. Man erlebe bisher nicht – wie anfangs von manchen befürchtet –, dass sich die Stimmung gegen die Hilfesuchenden wende. „Aber natürlich sehen wir gerade im Hinblick auf den Herbst die Gefahr, dass sich die Stimmung drehen könnte“, so Andresen. Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination Österreich hat ähnliche Befürchtungen, auch weil mit dem nahenden Winter und aufgrund des anhaltenden Kriegs die Zahl der Schutzsuchenden in Österreich steigen könnte.
Private Unterkunft-Geber alleingelassen
Dazu kommt, dass sich private Unterkunft-Geber alleingelassen fühlen, erzählt Andresen: „Man hat sich stark darauf verlassen, dass Privatpersonen Unterkünfte zur Verfügung stellen.“ Etwa zwei Drittel der ukrainischen Geflüchteten, die in Österreich angekommen sind – von rund 80.000 Registrierten –, sind privat untergekommen, weiß Gahleitner-Gertz. Er befürchtet, dass es „uns auf den Kopf fallen wird, dass den privaten Unterkunft-Gebern viel zu wenig Unterstützung zugekommen ist bisher.“
Der anfängliche Enthusiasmus vieler privater Unterkunft-Geber ist laut Andresen Verzweiflung und Überforderung gewichen. Die Menschen seien davon ausgegangen, für einige Wochen oder wenige Monate eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, dass dann die staatlichen Strukturen greifen würden. Monate später seien sie teils nach wie vor die nächsten Bezugs- und Begleitpersonen von traumatisierten Menschen, Menschen die Hilfe im Alltag und bei Behördengängen benötigen. „Wir hören oft ‘Ich weiß nicht’ an wen ich mich wenden soll, ich fühle mich alleingelassen‘“, so Andresen. Die Teuerung verschärfe auch hier die Situation zusätzlich.
Weil die privaten Helfer überlastet seien und Unterstützung zu bürokratisch sei, drängten nun mehr Geflüchtete in organisierte Quartiere, sagt Gahleitner-Gertz. Der Asylexperte begrüßt die Abkehr von Lagerdenken und organisierten Quartieren, vermisst aber die nötigen Strukturen, um eine Eingliederung der Menschen in die Gesellschaft möglich zu machen.
Versorgung hakt an Grundversorgung
Aus der Sicht von ToH war es ein großer Fehler, Ukrainern nicht Sozialhilfe, sondern nur die Grundversorgung zu gewähren. „Von Grundversorgung kann man nicht menschenwürdig leben, weder Ukrainer noch andere Menschen, die sie erhalten“, sagt Andresen. Die finanziellen und materiellen Herausforderungen ukrainischer Geflüchteter sei ein hausgemachtes Problem. Die monatliche Grundversorgung für Erwachsene beträgt nach einer Anpassung im Sommer 260 Euro pro Tag, 145 Euro für Kinder, 330 Euro Mietkostenzuschuss für Familien. „Das geht sich einfach nicht aus“, sagt Andresen.
Lukas Gahleitner-Gertz schließt sich der Kritik an: Die Grundversorgung sei zu wenig, der Verwaltungsapparat zu behäbig und derzeit in Sommerpause, sodass das Wenige nur spät ausgezahlt und die Erhöhung in den meisten Bundesländern noch gar nicht angewandt werde. Erst im Juni ist Ukraine-Geflüchteten Familienbeihilfe zugestanden worden, Kinderbetreuungsgeld soll es auch geben. „Das hätte schon vor Monaten passieren können, wir haben aber sehr lang auf politische Entscheidungen gewartet“, konstatiert Gahleitner-Gertz. Allerdings ist noch nicht klar, ob diese von der Grundversorgung abgezogen werden. Er geht davon aus, dass das bei Letzterem der Fall sein wird. Auch gibt es nach wie vor keine Entscheidung zur Zuverdienstgrenze.
Derzeit ist es Grundversorgungs-Beziehern erlaubt, maximal 110 Euro dazu zu verdienen. Ansonsten verlieren sie ihren Anspruch auf Grundversorgung und Quartier. Für den Herbst seien diese Versäumnisse hinsichtlich des Schulstarts und einer Integration in den Arbeitsmarkt dringend aufzuholen gewesen, sagt der Experte.
Wahre Flüchtlinge, falsche Flüchtlinge
Allerdings: Eine Sonderbehandlung ukrainischer Geflüchteter halten Gahleitner-Gertz und Andresen für falsch. Es sei richtig gewesen, schnell neue Möglichkeiten zu schaffen, um das Asylsystem nicht zu überlasten, sagen beide. „Aber die Trennung zwischen wahren Flüchtlingen und nicht wahren Flüchtlingen ist ein Blödsinn“, so Gahleitner-Gertz. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) war Anfang März in der „ZiB 2“ mit der Aussage aufgefallen, die Situation aufgrund des Ukrainekriegs sei eine andere als jene durch den Syrienkrieg: „Hier geht es um Nachbarschaftshilfe vor Ort und das ist genau ein Fall der Genfer Flüchtlingskonvention.“ Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) schlug in dieselbe Kerbe.
Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) verteidigte im Mai seinen Vorstoß, die Zuverdienstgrenze nur für Geflüchtete aus der Ukraine anzuheben. Lukas Gahleitner-Gertz dazu: „Dieser trennende Diskurs ist vollkommen kontraproduktiv, auch für die Bevölkerung.“ Geflüchtete und Syrien und Afghanistan hätten genauso einen Schutz-Anspruch. Anstatt Gruppen auseinander zu dividieren und damit die Verwaltung zu überfordern, solle ein gerechtes System für alle geschaffen werden.
(pma)
Titelbild: ZackZack/ Christopher Glanzl