Ausgerechnet:
Von der Abschaffung der kalten Progression profitieren vor allem Menschen mit hohen Einkommen. Und das Budget wird fragiler.
Jakob Sturn
Wien, 17. September 2022 | Die kalte Progression, diese „schleichende Steuererhöhung“, wird zurückgegeben. Was sich als großer Wurf verkünden lässt, ist alles andere als neu. Auch bisher wurde die kalte Progression regelmäßig abgegolten, durch Steuerreformen. Ein sozialer Ausgleich war damit meist mitgedacht. Um etwa die Nachfrage in schwierigen Zeiten zu stärken, blieb Spielraum. Was sich jetzt ändert: Zwei Drittel der kalten Progression werden automatisch abgegolten, die Lohnsteuerstufen und Absetzbeträge um diese zwei Drittel erhöht. Wer profitiert? Vor allem reichere Haushalte. Jährlich zu verteilen bleibt nur noch das letzte Drittel.
80 Prozent für die oberen Prozent
Was heuer damit passieren soll, präsentierte die Regierung am Mittwoch. Verteilungspolitisch hat auch das Gesamtpaket zur Folge, dass bei höheren Einkommen wesentlich mehr in den Taschen landet: 492 Euro pro Kopf mehr bleibt den reichsten Haushalten im kommenden Jahr, bei Menschen mit den niedrigsten Einkommen sind es lediglich 84 Euro. Für die Mittelschicht gibt es 312 Euro pro Kopf. Damit fließen 2023 knapp 80 Prozent von dem 1,85 Milliarden schweren Paket an die obersten drei Fünftel der Einkommensverteilung. Um Menschen bei der Teuerung zu entlasten, ist die Abschaffung der kalten Progression damit ungeeignet. Denn die hohen Preise treffen gerade Haushalte am unteren Ende der Einkommensverteilung überproportional stark.
Luft nach oben bei den Sozialleistungen
Abgefedert wird der Wertverlust für die Ärmsten in der Gesellschaft in Zukunft zumindest über die Valorisierung des Großteils der Sozialleistungen. Aber mit drei Wermutstropfen: Erstens wird der Wertverlust der letzten Jahrzehnte nicht ausgeglichen. Dabei hat allein die Familienbeihilfe in den letzten 20 Jahren rund 30 Prozent an Wert verloren. Zweitens wird als Anpassungsgrundlage – wie bei der Pensionserhöhung oder der Abgeltung der kalten Progression – die durchschnittliche Inflationsrate von Juli bis Juni des Vorjahres herangezogen. Damit wachsen die Sozialleistungen auch im kommenden Jahr um nur 5,2 Prozent. Die Inflationsrate im August betrug aber bereits 9,1 Prozent. Die Anpassung hinkt also hinterher.
Und drittens hat die Regierung eine Personengruppe – abseits von Einmalzahlungen – komplett ausgelassen: Arbeitslose und Notstandshilfebezieher:innen. Über ein Jahr lang hat Arbeitsminister Kocher eine Reform des Arbeitslosengeldes angekündigt, nun scheint sie endgültig vertagt. Die Betroffenen schauen durch die Finger. Eine durchschnittliche arbeitslose Person, die im ersten Corona-Lockdown 2020 arbeitslos geworden ist, hat heute 150 Euro pro Monat weniger zum Einkaufen zur Verfügen als zu Beginn der Arbeitslosigkeit. Auch ihre Hilfszahlungen sollten dringend an die Inflationsrate angepasst werden. Armutssicher sind die Sozialleistungen also noch längst nicht.
Spielraum nötig
Diese Lücken im sozialen Netz gilt es schleunigst zu schließen. Der Spielraum im Budget wurde mit der automatischen Abgeltung der kalten Progression jedoch schmäler. Dabei wäre dieser Spielraum gerade jetzt enorm wichtig: Die Energiekrise lässt dunkle Gewitterwolken am Horizont aufziehen, es droht eine Rezession. Damit wir die Menschen in Zukunft nachhaltig und treffsicher entlasten können und Grundbedürfnisse wie Energie, Wohnen oder Lebensmittel leistbar bleiben, braucht es einen Ausgleich. Spielraum zurückholen könnten wir uns bei den vermögensbezogenen Steuern. Die sind in Österreich nach wie vor verschwindend niedrig.
Jakob Sturn arbeitet am Momentum Institut zur Frage, wie wir unsere Arbeitswelt fair gestalten können. Er schreibt und forscht zu Arbeitsmarkt, Löhne, Verteilung und Steuerpolitik. Volkswirtschaft hat er an der Wirtschaftsuniversität Wien und der University of Illinois studiert.
Titelbild: ZackZack