Mittwoch, März 19, 2025

SPÖ-Jugend schreddert vor ÖVP-Zentrale

Vor der Wiener ÖVP-Zentrale wurden am Montagvormittag Stimmzettel für die Bundespräsidentenwahl geschreddert – aber anders, als Sie denken. Wir waren vor Ort.

Wien, 19. September 2022 | Im Wind und strömenden Regen sammelte sich am Montagmorgen eine Gruppe an Menschen vor der ÖVP-Zentrale beim Wiener Rathaus in der Lichtenfelsgasse. Direkt platziert vor den rotjackigen, jungen Leuten: Schreddergeräte, beschriftet mit dem dicken Hashtag #stimmlos. So nämlich heißt die neue Kampagne der Wiener SPÖ-Jugend im Vorfeld der Bundespräsidentschaftswahlen.

Eine und einer nach dem anderen zieht einen leeren Stimmzettel, darauf lediglich die sieben Präsidentschaftskandidaten, durch den Schredder. Was soll die Aktion? Und warum vor der ÖVP-Zentrale?

„Es gibt bekanntlich keinen authentischeren Ort als hier, um einen Schredder zu benutzen“, so der Landesvorsitzende der Jungen Generation, Alexander Ackerl. Er spielt mit der Aussage auf das sogenannte Schreddergate im Jahr 2019 an, als ein türkiser Kanzlermitarbeiter Druckerfestplatten im Zuge des Misstrauensvotums gegen die damalige Ibiza-Kurz-Regierung schreddern ließ: heimlich, unter falschem Namen und ohne zu bezahlen.

1,4 Millionen Menschen ohne Wahlrecht

Die Aktion am Montag sollte allerdings die Aufmerksamkeit weniger auf Ibiza, sondern vielmehr auf eine ganz andere Problematik lenken: auf das große Demokratiedefizit bei der anstehenden Präsidenten-, aber auch den meisten anderen Wahlen. Allein ein Drittel aller Wiener und Wienerinnen darf nicht wählen, in ganz Österreich sind es sogar knapp 1,5 Millionen Menschen das entsprich rund 18 Prozent der Bevölkerung. Noch 2006 hatte die ÖVP weitere Verschärfungen im Staatsbürgerschaftsrecht herbeigeführt, so lautet das zweite Argument der jungen Aktivisten und Aktivistinnen für die türkise Standortwahl.

JG-Landesvorsitzender Alexander Ackerl vor der Wiener ÖVP-Zentrale. (C) ZackZack/Christopher Glanzl

„Es kann nicht sein, dass Menschen, die in Österreich aufgewachsen sind, hier ihren Lebensmittelpunkt haben, hier hackeln und Steuern zahlen, nur dann auch als Österreicher gelten dürfen, wenn sie nach Abzug aller Lebenshaltungskosten monatlich weitere 1.000 Euro im Geldbörsel haben“, so Vorsitzender Ackerl. So hätten 72 Prozent der Hilfsarbeiter, 82 Prozent des Reinigungspersonals, aber gerade einmal acht Prozent der Ärzte und Ärztinnen mangels Staatsbürgerschaft kein Wahlrecht. „Das ist zynisch“, so Ackerl.

„Demokratiepolitische Zeitbombe“

Doch die finanzielle Hürde zur Erlangung des österreichischen Passes ist nicht das einzige, an dem man sich hier im montäglichen, nasskalten Wetter stört: „Wenn ein Drittel der Wiener Bevölkerung nicht mitbestimmen darf, wie Nationalrat und Gemeinderat zusammengesetzt sind oder wer für die nächsten sechs Jahre Bundespräsident werden soll, dann stellt sich schon die Frage nach der demokratischen Legitimation.“ Es handele sich um eine „demokratiepolitische Zeitbombe, die dringend entschärft werden muss“. Ackerl: „Wem nützt diese Regelung wohl eher: der Altenpflegerin oder der berühmten Opernsängerin?“ Die #stimmlos-Kampagne solle dieser Problematik eine Stimme geben.

Schreddern vor der ÖVP-Parteizentrale in Wien. (C) ZackZack/Christopher Glanzl

Während die ÖVP – erst in den letzten Wochen wiederholt in Person der gerade eben zurückgetretenen Generalsekretärin Laura Sachslehner – laufend betont, dass man sich die österreichische Staatsbürgerschaft erst „verdienen“ müsse, fällte die Arbeiterkammer beispielsweise erst im Mai einen historischen Beschluss für eine neue Staatsbürgerschaftsregelung – und damit auch die Frage, wer sie wie schwer oder leicht bekommen soll. Geht es nach der größten Interessensvertretung im Land, sollen künftig auch im Inland geborene Kinder und auch solche, die zumindest die Hälfte ihrer Schulpflicht in Österreich absolviert haben, die Staatsbürgerschaft nach fünf Jahren erhalten können, wenn sich zumindest ein Elternteil rechtmäßig im Inland aufhält.

Wahlrecht und Mitreden

Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hielt kürzlich in einem Statement für SOS Mitmensch fest: „Ohne Wahlrecht ist man vielleicht Mitglied einer wirtschaftlichen oder sozialen Gemeinschaft, aber kein vollwertiges Mitglied einer politischen Gemeinschaft, das fehlt den Menschen. Keine Stimme zu haben ist auch auf der emotionalen Ebene nicht trivial. Es kann das Gefühl verstärken, auch im Alltag nichts zu sagen zu haben.“ Auch sie ortet hinsichtlich der finanziellen Barrieren eine „ökonomische Selektion“.

Die JG ist – wie ihre Mutterpartei – nur eine von vielen Organisationen und NGOs, die eine dringende Überarbeitung des Wahlrechts und eine Neuregelung rund um die Erlangung der Staatsbürgerschaft fordern. Um zu erfahren, was eigentlich die einzelnen Präsidentschaftskandidaten von der derzeitigen Lage halte und davon, dass so viele hier Menschen sie nicht einmal wählen können, auch wenn sie wollten, wurde ein Fragebogen an alle ausgesendet.

Pass-Egal-Wahl

Laut SOS Mitmensch wird annähernd jede fünfte in Österreich lebende Person im Wahlalter aufgrund der Staatsbürgerschaft nicht an der Bundespräsidentschaftswahl teilnehmen dürfen. Knapp die Hälfte der Betroffenen lebt laut den Daten der Statistik Austria schon länger als zehn Jahre in Österreich, ein Drittel sogar schon länger als 15 Jahre. Immer mehr werden im Land geboren.

Übrigens: Auch heuer bietet die NGO wieder die sogenannten Pass-Egal-Wahlen an. Unter dem Motto „Demokratie lebt von Beteiligung, nicht von Ausschluss“ kann jeder ungeachtet seiner Staatsbürgerschaft noch bis 4. Oktober für die Kandidaten der Bundespräsidentschaftswahl stimmen.

(am)

Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl

Autor

  • Anja Melzer

    Hält sich für die österreichischste Piefke der Welt, redet gerne, sehr viel und vor allem sehr schnell, hegt eine Vorliebe für Mord(s)themen. Stellvertretende Chefredakteurin. Sie twittert unter @mauerfallkind.

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