Reportage
Abseits der Weltöffentlichkeit werden in Tschetschenien Männer zwangseinberufen, um sie noch an diesem Wochenende an die Front zu schicken. Unter den Betroffenen sind auch zwei junge Männer aus Österreich. Eine Reportage über Gewalt, Protest und die sich überschlagenden Ereignisse in der russischen Teilrepublik.
Anja Melzer
Wien, 23. September 2022 | Diese Woche vor der Russischen Botschaft in Wien. Es regnet in Strömen, der Wind peitscht unangenehm nasskalt an diesem Morgen durchs Botschaftsviertel im dritten Wiener Gemeindebezirk. Der offizielle Sitz der Vertretung der Russischen Föderation in Österreich ist umstellt von vier Soldaten des Bundesheers, die Sicherheitsvorkehrungen hoch. Auf die Absperrung der gegenüberliegenden Baustelle wurden die Farben der ukrainischen Flagge gemalt, auch von vielen Balkonen angrenzender anderer Botschaften weht die blau-gelbe Flagge. Vor der monströsen russischen Villa steht eine kleine, zierliche Frau und hält ein Plakat in die Höhe. Darauf steht: „To stop the forced sending of young Chechens to Ukraine” und darunter ein Verweis auf die Genfer Konventionen.
Rosa Dunajeva vor der Russischen Botschaft in Wien. (C) ZackZack/Christopher Glanzl
Am heutigen Freitag beginnen die Schein-Referenden in den russisch besetzten Gebieten in der Ukraine. Und während sich laut Medienberichten tausende Russen aufmachen, um ihr Land und damit einen möglichen Kriegseinsatz nach der von Putin proklamierten Teilmobilisierung zu verlassen, spielen sich abseits der Weltöffentlichkeit in einer Teilrepublik Dramen ab. Die Rede ist von Tschetschenien. Dort spitzt sich die Lage dramatisch zu.
Die Dame, die gerade vor der russischen Botschaft in Wien protestiert, heißt Rosa Dunajeva, sie ist von der tschetschenischen Exilregierung Ichkeria in Wien. Sie steht hier auch, um auf das Schicksal zweier junger Männer aufmerksam zu machen, die bis vor kurzem noch ihr fast gesamtes Leben in Österreich verbracht haben. Sie sollen „Kanonenfutter für Putin“ werden, beklagt Dunajeva. Was ist passiert und worum geht es?
Trotz Krieg nach Tschetschenien abgeschoben
Hamsat und Magomed sind heute 17 und 23 Jahre alt. Als sie nach Österreich kamen, waren sie kleine Kinder, zwei und vier Jahre alt. Ihre echten Namen dürfen aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Trotzdem wurden sie am 18. April diesen Jahres – also schon zwei Monate, nachdem der Krieg in der Ukraine begann – in die Russische Föderation, nach Tschetschenien, abgeschoben. Sie sprechen kein Wort Russisch. Zuletzt befanden sie sich in Haft. Der Zeitpunkt der Abschiebung verwundert, hieß es doch schon damals, es werde vorerst nicht mehr in die Russische Föderation abgeschoben, Menschenrechtsorganisationen haben das Vorgehen stark kritisiert.
Jetzt scheint das einzutreten, wovor lange gewarnt wurde. Nachdem der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow Putin kürzlich die Entsendung von 9.000 tschetschenischen Soldaten versprach – er tat dies unter anderem wie gewohnt medienwirksam über seinen Telegram-Kanal – greift in Tschetschenien eine massive Einberufungswelle um sich, die sich mit der Teilmobilisierung beschleunigt. Unter Androhung von Zwang und Sanktionen werden junge Männer für den Krieg in der Ukraine regelrecht eingesammelt, heißt es. Betroffen sind alle Jahrgänge von 1995 bis 2004, insbesondere dann, wenn sie auf Sozialhilfe angewiesen sind – also auch Hamsat und Magomed.
„Sie richten sofort hin“
In den vergangenen Tagen wurde ihnen der Einberufungsbefehl übermittelt, der unserer Redaktion vorliegt. Hamsat, der jüngere der beiden, sitzt inzwischen in einem Militärlager an der Grenze zur Ukraine, zu ihm besteht noch WhatsApp-Kontakt. Diese Chats zeigen eines: Er hat große Angst. „Sie richten sofort hin“, ist einer der wenigen Sätze, die wir daraus zu zitieren dürfen. Ein Familienangehöriger, der auch in die Ukraine geschickt worden war, ist nicht mehr am Leben. Er wurde im Krieg geköpft. Hamsats Bruder Magomed wartet noch auf die Einberufung. Weil er verheiratet ist und eine Verletzung hat, werde er noch zurückgehalten, heißt es.
Kadyrows Einberufungsbefehl. (C) 1ADAT
Kadyrow geht dabei äußerst perfide vor. Wer sich weigert, dem wird die Sozialhilfe gestrichen, wird er in seinen Videos zitiert. Solche Personen erhalten dann einen Stempel im Pass. Fotos solcher „Verräterstempel“ kursieren seit Tagen im Netz und finden sich auch in aktuellen Beschwerden an das österreichische Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), die wir einsehen konnten. Eine solche Brandmarkung, wird dort angeführt, sorge dafür, dass Betroffene künftig keinen Beruf mehr in Tschetschenien ergreifen können.
Mobilization in Chechnya todayhttps://t.co/HwtYKuzRjd pic.twitter.com/pxDEOQLb5l
— Harold Chambers (@chambersharold8) September 22, 2022
Außerdem erschwerend: Die russische Regierung erließ am 21. September ein Gesetz, laut dem niemand zwischen 18 und 65 Jahren aus der Russischen Föderation ausreisen dürfe. Davon sind nicht nur Bewohner Russlands selbst, sondern eben auch der Teilrepubliken wie Tschetschenien oder Dagestan betroffen. Vielen bleibt nichts anderes übrig, als sich im Land zu verstecken und um ihre Freiheit zu bangen.
Gewalt gegen Kriegsverweigerer und Regimekritiker
Das ist laut oppositionellen Telegram-Gruppen aber noch nicht alles: Seit gestern, Donnerstag, sollen zudem Wohnungen gestürmt und Männer in Militärbasen verschleppt werden. Dort sollen sie bis Samstag festgehalten und am Sonntag an die Front geschickt werden. Auch ihre Familien werden unter Druck gesetzt. „Wenn sich Personen weigern, in die Ukraine zu gehen, werden ihre Mütter und Schwestern von Kadyrow-Männern bedroht“, berichtet Rosa Dunajeva. Verweigerern wird angedroht, unter Drogen gesetzt zu werden und zu „Terroristen“ erklärt zu werden. Damit könnten sie weiterer Folter ausgesetzt werden. Ungehorsam und Proteste werden im kriegsgebeutelten Tschetschenien unter Kadyrow brutal niedergeschlagen, Regimekritiker sehen sich Willkür und Gewalt ausgeliefert.
Betroffene versuchen sich abzusetzen
Auch der Wiener Sozialarbeiter Fabian Reicher („Die Wütenden“, gemeinsam mit der Autorin dieses Textes, erschienen im Februar 2022) sieht die aktuelle Entwicklung mit großer Sorge: „Aus meiner Sicht ist das, was sich in Tschetschenien gerade vollzieht, völkerrechtswidrig.“ Auch er beklagt ein Wegschauen des Westens. Es brauche dringend humanitäre Lösungen.
Sozialarbeiter Fabian Reicher (rechts) steht mit Tschetschenen in Kontakt, die in Militärbasen verschleppt werden. (C) ZackZack/Christopher Glanzl
Der insbesondere auf Extremismusfragen spezialisierte Sozialarbeiter steht Tag und Nacht in Kontakt mit jungen Tschetschenen, die im Moment noch versuchen, das Land in eines der Nachbarländer – Armenien, Kirgisien, Kasachstan oder Aserbaidschan zum Beispiel – zu verlassen. In einem Schreiben, das uns vorliegt, hat er sich gemeinsam mit Vertretern der tschetschenischen Community auch ans österreichische Parlament gewandt.
Demonstrationen in Grozny
„Es ist allein schon irre, wie viel Widerstand sich in Grozny gerade regt“, so Reicher zu ZackZack. Immer wieder wurden in den vergangenen Tagen Demonstrationen gegen die Verschleppung von Soldaten in die Ukraine angekündigt – und zwar von den Müttern betroffener Einberufener. Diese wurden zwar laut Telegramgruppen durch von Kadyrow befohlenen Einheiten zum Teil verhindert. Es soll einzelne Festnahmen gegeben haben. Doch die Situation vor Ort brodele weiter, ist sich Reicher sicher. Für Freitag wurden erneute Proteste in Grosny angekündigt.
Things are heating up in #Chechnya where protesters went on the streets, demonstrating against the sending of more Chechen fighters to Ukraine. pic.twitter.com/wrD9uhls9T
— NOËL 🇪🇺 🇺🇦 (@NOELreports) September 20, 2022
Auch Rosa Dunajeva wird in den kommenden Tagen wieder vor der russischen Botschaft stehen – und zwar auf der Straße. Denn wer sich am Gehsteig vor dem Botschaftsportal postiert, wird, wie bei einem Lokalaugenschein von ZackZack beobachtet, von Soldaten des österreichischen Bundesheers gebeten, diesen zu verlassen. Bereits der Bürgersteig sei russisches Territorium, wird argumentiert.
„Nicht für einen Krieg sterben“
Eine der letzten Nachrichten, die wir von Hamsat im Militärlager zitieren können: „Es ist nur eine Frage der Zeit… Wir laufen auf einem Minenfeld rum und irgendwann steigen wir auf eine Mine.“ Am Freitagmorgen schreibt er, dass er desertieren wolle: „Ich hoffe, dass mir jemand helfen wird. Denn ich habe nicht vor zu kämpfen und für einen Krieg zu sterben.“
Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl