Keine Kernschmelze, aber eine herbe Niederlage für die Schwarzen. Das ist der mediale Tenor nach der Tirol-Wahl. Warum die ÖVP nicht aufatmen kann, die SPÖ aufpassen muss und der FRITZ-Erfolg für Grüne und NEOS ein Weckruf sein muss.
Benjamin Weiser
Wien, 26. September 2022 | Der Preis für die beste Headline vom Montag geht an die „Heute“. Die Zeitung titelte: „VP stürzt in Tirol auf Platz 1 ab“. Jetzt steht man bei den Tiroler Schwarzen mit heruntergelassenen Hosen da, der Spott hält sich allerdings in Grenzen. Zu schwach war die Konkurrenz, um die ÖVP auf die Oppositionsbank zu schicken. Was folgt daraus? Drei kurze Lehren.
Lehre 1: Bundes-ÖVP noch mehr unter Druck
Eigentlich müsste man „Leere“ statt Lehre schreiben. Die Kanzlerpartei ist vollkommen visionslos und dümpelt vor sich hin. Vom Ballhausplatz bis zum Innsbrucker Landhaus geht es nur mehr um reinen Machterhalt. In der Mehrfach-Krise bräuchte es eigentlich eine enorme Kraftanstrengung der Nehammer-Regierung – nicht um sich selbst zu retten, sondern um strauchelnde Existenzen und Frustrierte nicht den Rattenfängern zu überlassen. Allein: Es fehlt der Glaube, dass das bei dieser blutleeren Partei in irgendeiner Form möglich ist.
In der Lichtenfelsgasse ist man schon froh, wenn man die Kernländer halten kann. Auch in Niederösterreich könnte es empfindliche Stimmenverluste geben. Oberösterreichs LH Thomas Stelzer ist mit einem blauen Auge davongekommen. Statt jetzt Ruhe reinzubringen, stichelt er gegen Nehammer wegen der Russlandsanktionen. Auch Anton Mattle versuchte sich an der süßen Frucht des Anti-Sanktions-Populismus. Johanna Mikl-Leitner kann sich derweil glücklich schätzen, dass die SPÖ in St. Pölten genauso gerne kuscheln möchte wie Georg Dornauers Tiroler Sozialdemokraten. Und damit zur nächsten Lehre.
Lehre 2: SPÖ-Aufwind im Bund ist eine Luftblase
Wenn die SPÖ nicht aufpasst, könnten die guten Umfrageergebnisse im Bund schnell wieder passé sein. Die sind ohnehin durch die Schwäche der ÖVP begründet und nicht durch die eigene Stärke. Eine echte Aufarbeitung des ernüchternden Tiroler Ergebnisses zeichnet sich indes nicht ab. In Innsbruck fuhr man einen Kurs, der auch in Niederösterreich en vogue scheint: hauptsache regieren. Mit der ÖVP. Franz Schnabl ist wohl noch lieber Landeshauptmann-Stellvertreter als Georg Dornauer. Nach großartiger Alternative sieht das nicht aus.
Für den Bund könnte die ehemals Große Koalition noch schlagend werden – auch wenn das die Parteilinke nach den Angriffen der ÖVP rund um Wien Energie für „ausgeschlossen“ hält. Die kurze Halbwertszeit solcher Ausschlüsse wird da oft vergessen. Eigentlich wäre jetzt die Zeit, eine dauerhafte Alternative zur machtversessenen ÖVP herauszuarbeiten. Von Amtshaus bis Kanzleramt. Wenn schon nicht aus der aktuellen Themenlage (Teuerung, Inflation, Energie) Kapital schlagen, wann dann? Viel wird davon abhängen, wie sich Ludwig vom Wien Energie-Schock erholen wird.
Lehre 3: Alternative gewünscht, die nicht FPÖ heißt
Das spannendste Ergebnis fuhr am Sonntag die Liste FRITZ ein – ein zweistelliges zumal. Noch vor der FPÖ war sie nach Prozentpunkten die Wahlgewinnerin. Die Partei vom einstigen Gründer Fritz Dinkhauser hat sich unter seinen Nachfolgern als konsequente Opposition etabliert, die den Tiroler Filz ablehnt, aber nicht verbohrt wirkt. Es zeigt sich, dass der Automatismus, wonach Frustrierte in Scharen zur FPÖ oder ins Nichtwählerlager abwandern, keiner sein muss.
In Tirol und Österreich wird der Schrei nach Alternativen zu den satten „Großparteien“ jedenfalls immer lauter werden. In der gegenwärtigen Krisen-Situation kann das auch eine Chance sein. Grüne und NEOS sollten sie nutzen, sonst werden es andere tun. In Tirol blieben beide Parteien unter ihren Möglichkeiten. Während die Grünen die Rechnung für ihren Kuschelkurs mit der Platter-ÖVP bekamen, waren NEOS schlicht zu leise, zu nischig, zu wenig angriffig. Das reicht für sechs bis acht Prozent. Aber nicht für mehr.
Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl