Mittwoch, April 24, 2024

Tschetschenen: »Warum schickt ihr unsere Kinder in den Tod?« – Reportage

Reportage

Während in Tschetschenien und Dagestan die Proteste gegen Putins Zwangseinberufung tausender Männer anhalten, kam es auch in Wien zur ersten großen Kundgebung. ZackZack war vor Ort. Die persönlichen Geschichten und die Angst vor Kadyrow in Wien machen betroffen. 

Anja Melzer

Wien, 28. September 2022 | Philipp ist 18 Jahre alt. In der linken Hand hält er die Flagge der Ukraine, in der rechten die tschetschenische. „Ich hasse Putin“, sagt er. Der junge Ukrainer mit braunen Locken auf dem Kopf steht am Sonntagnachmittag auf dem Platz der Menschenrechte vor dem Wiener Museumsquartier. Er hält den Rücken gerade, blickt Vorbeigehende aufrechten Blicks an.

Philipp spricht Ukrainisch, Deutsch und sogar Arabisch. Er ist hier, weil er die Kriege Putins verabscheut. Und weil er sich mit jungen Tschetschenen solidarisieren will, die in diesen Stunden vom russischen Präsidenten zwangseinberufen werden.

Philipp, 18: “Ich hasse Putin.” (C) ZackZack/Christopher Glanzl

ZackZack hat berichtet: Seit der von Putin ausgerufenen Teilmobilmachung erhalten reihenweise Bewohner Tschetscheniens Einberufungsbefehle – von ihrem Herrscher und Putinverbündeten Ramsan Kadyrow. Davon betroffen sind auch abgeschobene Personen aus Österreich, die die Heimat ihrer Eltern nicht wirklich kennen.

Das Land ist eine muslimisch geprägte Teilrepublik im Kaukasus. Auch Dagestan, wo tschetschenische Minderheiten leben, ist in den Fokus gerückt. Seit vergangener Woche herrscht in vielen Familien die blanke Panik. Kriegsdienstverweigerer werden gekidnappet, ihre Wohnungen gestürmt, sie werden bedroht, auch ihren Angehörigen wird Folter angedroht. In oppositionellen Telegram-Gruppen kursieren Videos, die zeigen, wie Männer im wehrpflichtigen Alter mit Gewalt aus ihren Wohnungen gezerrt werden.

Als die Menschen hier in Wien einstimmig aus ihren Mündern „Putin ist ein Verbrecher!“ rufen, ist es noch nicht einmal 48 Stunden her, dass sich der tschetschenische Machthaber über seinen persönlichen Telegramkanal über Kriegsunwillige ausließ: “Weißt du, du bist nichts weiter als ein Feigling, Verräter und Mensch zweiter Klasse”, ist in einer der Aufnahmen zu hören. Verweigerungsgründe seien für ihn nur schlechte „Ausreden“.

Mütteraufstände

Seit die Einberufungswelle um sich greift, gehen insbesondere Mütter, Töchter und Schwestern auf die Straße, um zu protestieren. Videos im Netz zeigen, wie sie sich öffentlich gegen Kadyrowzy, die regimetreue Nationalgarde, stellen. Auch Zura, 25, steht am Sonntag unter den Demonstrierenden in Wien. Ihren echten Namen dürfen wir nicht nennen. Sie hat Angst.

Zura fürchtet um die Sicherheit ihrer Angehörigen in Tschetschenien, wenn sie unter wahrer Identität öffentlich sprechen würde. “Man würde sie in politische Verantwortung nehmen und sie repressieren”, sagt Zura. “Möglicherweise würde ihr Haus verbrannt, die Männer würden sofort in den Krieg geschleppt. So soll in Tschetschenien jeder Protest im Keim erstickt werden.”

Die Mütteraufstände in Tschetschenien und Dagestan wertet Zura als spektakulär: “So etwas gab es seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr!” Auch in den sozialen Medien seien es gerade die Frauen, die zu den Demos aufrufen. “Wenn die Ventile immer nur zugedreht werden, wird das irgendwann explodieren, dann werden alle Dämme brechen”, sagt sie trocken. Jetzt könnte es soweit sein. Das Schweigen in der Bevölkerung könne man auf Dauer nicht unterdrücken.

Auch Rosa Dunjava, die in den vergangenen Tagen immer wieder vor der Russischen Botschaft in Wien protestierte, ist bei der großen Kundgebung dabei. Sie sorgt sich um das Schicksal der beiden Männer Hamsat und Magomed aus Österreich – hier nachlesen. (C) ZackZack/Christopher Glanzl

Doch auch dem Hardliner-Regime sei der sich regende Widerstand bewusst, meint Zura. Die Reaktionen fielen daher umso brutaler aus. Zura nennt das Beispiel einer Frau, die öffentlich Kadyrowzky konfrontiert und die verbotene Ichkeria-Nationalhymne gesungen hat. Diese schreit darin: “Ihr seid gottlosen Feinde, ihr seid Feinde Gottes! Warum schickt ihr unsere Kinder in den Tod?“ Die Konsequenzen, das ist inzwischen klar, ließen nicht lange auf sich warten.

Die Frau, ihre Familie und sogar ihre Nachbarn wurden daraufhin zu einem offiziellen Videostatement im staatlichen Fernsehen gezwungen. Es ist eine schaurige Szene, auch ZackZack kennt das Video. Aufgereiht sitzend in einem karg eingerichteten Wohnzimmer muss einer nach dem anderen bezeugen, dass die Protestierende mental schwer beeinträchtigt sei.

Es sind steife Gesichter und leere Augen. Die Mimik der Gefilmten spricht Bände, wie freiwillig das geschehen sein dürfte. “Wer protestiert, der wird öffentlich vorgeführt, es heißt, man sei von Dämonen besessen oder verrückt”, sagt Zura. Fälle wie dieser schüchtern die 25-Jährige ein.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Was der Krieg gegen die Ukraine mit Syrien zu tun hat

Während man sich bei den Protestierenden umsieht, erkennt man immer wieder auch Spruchschilder gegen den Krieg in Syrien. Was im ersten Moment verwundern mag, ist für Tarafa Baghajati, selbst aus Syrien, Bauingenieur und Obmann der Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen, völlig logisch: “Die Kriege Putins ziehen sich wie ein roter Faden durch”, sagt er zu ZackZack.

Dann greift er nach dem Mikrofon und beginnt seine Rede: “Putins Kriegsverbrechen weckten für eine lange Zeit niemanden auf. Grosny (die tschetschenische Hauptstadt, Anm.) wurde in den Neunziger Jahren im Stich gelassen. Jetzt erinnert die Hafenstadt Mariupol an das Schicksal von Aleppo – belagert und in Schutt und Asche gebombt. Ähnliche Massengräber wie in Butscha hatten wir in Syrien zuhauf durch das Assad-Regime, nur leider wurden die in den hiesigen Medien kaum erwähnt.” Es sei das brutale Instrument eines “gnadenlosen Systems”, so Baghajati.

Tarafa Baghajati, selbst in Damaskus geboren und Kritiker des Assad-Regimes, erklärte auf der Kundgebung seine Solidarität mit Tschetschenen und Ukrainern. (C) ZackZack/Christopher Glanzl

Es ist nicht neu: Was die Kriege in Tschetschenien, in Syrien und aktuell in der Ukraine miteinander verbindet, sind Putins geopolitische Interessen. Putins Politikeinstieg war der zweite Tschetschenienkrieg, ein sogenannter “dirty war”, später unterstützte er Assad in Syrien, der mit unglaublicher Brutalität gegen die eigene Bevölkerung vorging.

Darauf geht auch Baghajati in seiner Rede ein: “Ich möchte daran erinnern, dass Syrien für Putin wie ein Testlabor für alles funktioniert, was er beim Angriffskrieg auf die Ukraine betreibt”, lässt der 61-Jährige die Menge wissen. “Hätte die Welt damals Putin in Syrien und davor in Grosny gestoppt, wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit zum Ukraine-Krieg gar nicht gekommen.”

Grosny – Kiew – Damaskus

In Europa sei man erst sehr spät aufgewacht, so Baghajati zu ZackZack: “Erst mit Mariupol kam das große Aha-Erlebnis. Niemand hier wollte uns glauben. Erst jetzt, wo es ein paar hundert Kilometer weiter passiert.” Und niemand habe wirklich sehen wollen, dass Putin schon einmal in Tschetschenien und Syrien zu solchen Taten fähig gewesen sei. Die politische Analyse im Westen im Umgang mit Diktatoren habe versagt, sagt er.

(C) ZackZack/Christopher Glanzl

Partizipation ist alles

“Wir Tschetschenen, Syrer, Ukrainer und Österreicher hier dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen”, fordert Baghajati, der auch selbst viele Jugendliche betreut. Was jetzt besonders auch für junge Tschetschenen zähle: sich weiterbilden, sich vernetzen, zusammentun und politische Arbeit für ein gutes Zusammenleben aller Menschen machen.

Auch russische Menschen protestieren hier gegen den Krieg ihres eigenen Landes. (C) ZackZack/Christopher Glanzl

Der lang Arm des Regimes reicht bis nach Österreich

Eines fällt auf, wenn man den Blick über die Kundgebung schweifen lässt: Es sind zum Großteil Frauen und Ältere zugegen. Wo aber sind die vielen jungen Tschetschenen in Wien? Zum einen hätten einige die Nase voll, wenn immer nur die gleichen Alteingesessen aus der Community zu solchen Anlässen das Wort ergriffen, ohne echte Lösungen anzubieten, meint Zura. Die Jungen waren da, sind aber kurz nach Beginn wieder abgehauen.

“Dazu kommt einfach das alte Problem”, fügt sie hinzu, ohne mit der Wimper zu zucken, “viele haben Angst, sich zu exponieren. Der lange Arm des Regimes reicht bis nach Österreich.” Und genau das ist wohl der Krieg, den Kadyrow sogar über die eigenen Landesgrenzen hinaus seit seiner Machtübernahme am erfolgreichsten führt: den Krieg der Angstmache.

“Wir Tschetschenen, Syrer, Ukrainer und Österreicher hier dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen”, so Tarafa Baghajati bei der Kundgebung gegen die Zwangseinberufungen. (C) ZackZack/Christopher Glanzl

Titelbild: ZackZack/Christopher Glanzl

Anja Melzer
Anja Melzer
Hält sich für die österreichischste Piefke der Welt, redet gerne, sehr viel und vor allem sehr schnell, hegt eine Vorliebe für Mord(s)themen. Stellvertretende Chefredakteurin. Sie twittert unter @mauerfallkind.
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25 Kommentare

  1. Die “ersten große Kundgebung in Wien” hatte heute vielleicht 300 Demonstranten. Aber als die Impfkritiker mit an die 100.000 Personen regelmäßig demonstrierten sprach man von einer kleinen Minderheit.

  2. Die Jungen wollen keinen Krieg und die Jungen sind auch nicht der Meinung, das der Wohlstand alles rechtfertigen würde auch das Wegschauen bei Gräueltaten und Krieg inkl. Umweltzerstörung. Die jungen Menschen wollen Frieden, Freiheit, Menschlichkeit, Solidarität innerhalb der EU und auf der ganzen Welt. Ausnahme sind nur jene, die politisch oder religiös indoktriniert wurden und da macht es nicht viel Unterschied ob die FPÖ am Werke war oder ein par Religionsfanatiker in Timbuktu. Es liegt nicht im Wesen des Menschen sich gegenseitig zu killen aber es liegt im Wesen des Menschen, dass er beeinflussbar ist.

  3. Welche Überraschung!
    Herr Bundeskanzler Nehammer sie sollten sofort zu Putin fliegen. Er soll Assad, Aljaksandr Lukaschenka und Ramsan Kadyrow Einhalt gebieten.
    Ah verstehe sie haben keinen Auftrag von der EU, na dann. Vllt können Firtasch, der Schütz, Deripaska, der Sigi, der Gerhard und der Wolfgang etc. etwas……
    Aja, blöd, geht noch nicht, wir müssen noch ein paar Kinder abschieben, aber dann vllt. Ah geht auch nicht, will der Kickl nicht. Kneissl wäre noch im Angebot. Ah, sie beobachten eh und sie reden mit dem Orban. Ach, das habe ich ganz vergessen, das macht der Soberl.

  4. Alles gute Europa!
    Selenskyj fordert Langstreckenraketen und schliesst einen «limitierten Atomkrieg» gegen Russland nicht aus. Kiew jongliert mit einem dritten Weltkrieg

  5. Arbeite mit Frankotschetschen zusammen. Die sind alle Pro Russisch und ganz klar Antichristlich positioniert. Von der Schweizer Niederlassung haben vor 2 Monaten auch Tschetschen gekündigt bzw. sind abgegangen. Wir vermuten dass diese freiwillig für Putin kämpfen.

    Die Frankotschetschenen haben sogar alle die Französische Staatsbürgerschaft. Jedoch sind vor allem die muslimische Werte dermaßen extremst stark ausgeprägt. Falls hier religiöse Oberhäupter zum Krieg ausrufen wird anders reagiert als in unseren Kulturkreisen.

    Jene die da jetzt Protestieren sind in diesem Kulturkreis die komischen Vögel. Meines Erachtens jedoch die vernünftigen Stimmen.

    Eigentlich höchst bedenklich wenn direkt von Europa Kämpfer rekrutiert werden.

  6. Wahrheitssuchende und andere Gesellen aus diesem Lager wird man hier in diesem Thread wohl selten(er) antreffen… 😉 Weil es die Sprache im Entsetzen “der Wirklichkeit vor Ort” authentisch wiedergibt, nicht bloß distanziert manipulativ “kommentiert”…

  7. Sehr traurig ist das. Die FPÖVP Wähler sind angehalten, sich diesen Tatsachenbericht genaustens durchzulesen. Das ist es, was diese Parteien tatsächlich wollen. Absoluten Gehorsam der Bevölkerung, Unterwerfung und Kontrolle. Korrupte, manipulative Nazis sind das, die keinerlei Skrupel haben.

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