Samstag, Dezember 7, 2024

Schluss mit arm trotz Arbeit – Ausgerechnet

Ausgerechnet:

In Deutschland gilt ab heute ein gesetzlicher Mindestlohn. Will Österreich verhindern, dass Arbeitskräfte nach Deutschland abwandern, muss die Politik nachziehen. Davon würden hierzulande mehr als 300.000 Menschen profitieren.

Jakob Sturn

Wien, 01. Oktober 2022 | Was ist es uns als Gesellschaft wert, dass alle, die jeden Tag in die Arbeit gehen, auch ihre Rechnungen zahlen können? In Deutschland lautet die Antwort auf diese Frage ab heute: mindestens zwölf Euro pro Stunde. Für weniger darf bei unseren Nachbarn – mit wenigen Ausnahmen – nicht mehr gearbeitet werden. Österreich ist eines von nur fünf EU-Ländern, die keinen gesetzlichen Mindestlohn haben. Von einem Mindestlohn nach deutschem Vorbild würden in Österreich mehr als 300.000 Menschen und deren Familien direkt profitieren.

Dass ein Erwerbseinkommen vor Armut schützte, stimmte schon in den Zeiten vor der Teuerung für viele nicht: Knapp 180.000 Menschen waren in Österreich 2020 armutsgefährdet – trotz einer Vollzeitstelle. Jetzt, wo die Preise für Wohnen, Lebensmittel und Energie durch die Decke gehen, werden es immer mehr. Denn Haushalte mit wenig Einkommen müssen den Großteil ihres Geldes für diese Grundbedürfnisse aufwenden, die Teuerung trifft sie am stärksten.

Ohne Mindestlohn fehlen im Westen Fachkräfte

Ein Mindestlohn kann Abhilfe schaffen. Entweder, indem sich Gewerkschaften und Arbeitgeber in den aktuellen Lohnverhandlungen darauf einigen. Oder indem die Bundesregierung einen gesetzlichen Mindestlohn vorschreibt. Von Deutschland umgerechnet auf Österreich entspricht das 1.782 Euro brutto im Monat – 14-mal im Jahr.

Jede achte Person, deren Lohn durch einen Mindestlohn aufgebessert würde, arbeitet in der Gastronomie. Jede zehnte arbeitet im Einzelhandel. Das sind gerade jene Branchen, in denen die Klagen nach unbesetzten offenen Stellen besonders laut dröhnen. Dabei mangelt es oft nicht an Personal, sondern an angemessener Bezahlung. Im Umkehrschluss bedeutet das: Für Betriebe an der deutsch-österreichischen Grenze nimmt der Wettbewerb um Arbeitnehmer:innen jetzt weiter zu. Wer verhindern will, dass das eigene Wirtshaus-Personal zukünftig im deutschen Nachbarort arbeitet, ist mit einer Lohnerhöhung gut beraten. Das gleiche gilt für ausländische Fachkräfte, die sich entscheiden müssen: Pflege ich lieber ältere Österreicher:innen oder Deutsche? Arbeite ich lieber auf einer deutschen oder österreichischen Baustelle? Ist das Gehalt in Deutschland höher, entscheiden sich die allermeisten für unsere Nachbarn.

Ein Mindestlohn kann auch der Wirtschaft helfen

Aber nicht nur dem Paketboten und der Friseurin käme ein Mindestlohn zugute. Auch viele Unternehmen profitieren von höheren Löhnen. Denn ein Mindestlohn nach deutschem Vorbild würde in Österreich die Kaufkraft um rund 950 Millionen Euro stärken. Die regionale Wirtschaft – von Tischlerin bis zum kleinen Einzelhändler – kann sich auf zusätzliche Einnahmen freuen. Indirekt hätten auch jene Arbeitnehmer:innen etwas davon, die bereits mehr als 1.782 Euro brutto verdienen.

Sobald ein Mindeststandard bei Löhnen gilt, verbessert sich für alle die Verhandlungsposition gegenüber dem Arbeitgeber. Denn selbst wer auf Jobsuche ist oder den Job wechselt, kann dann nicht tiefer als zum Mindestlohn angestellt werden. Angesichts des Rekordverlusts an Kaufkraft, den eine Teuerung von aktuell über 10 Prozent mit sich bringt, ist ein solcher Mindestlohn wahrlich bitter nötig.

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Jakob Sturn arbeitet am Momentum Institut zur Frage, wie wir unsere Arbeitswelt fair gestalten können. Er schreibt und forscht zu Arbeitsmarkt, Löhnen, Verteilung und Steuerpolitik. Volkswirtschaft hat er an der Wirtschaftsuniversität Wien und der University of Illinois studiert.

Titelbild: ZackZack

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