Donnerstag, Oktober 3, 2024

Internationale Presse zu russischen Raketenangriffen: »Reine Rache«

»Reine Rache«

Die internationale Presse sieht in den russischen Raketenangriffen auf die Ukraine vor allem ein Motiv: Rache.

Kiew/Moskau, 11. Oktober 2022 |

“de Volkskrant” (Amsterdam):

“Der Angriff auf die Krim-Brücke wurde von Putin mit einem Raketenhagel beantwortet. Und es wird ganz offen von Rache gesprochen. Der russische Präsident Wladimir Putin hat damit am Montag zum ersten Mal zugegeben, was eigentlich alle bereits dachten. Seine Angriffe auf ukrainische Städte und Dörfer, auf Kraftwerke und Einkaufszentren, auf Wohnhäuser und Spielplätze dienen keinem anderen Zweck als der Vergeltung. Damit hat sich Putin erstmals offiziell zu seiner nihilistischen Art der Kriegsführung bekannt. Es gibt keine primitivere Doktrin.

Rache an wem? An einem Land, das sich verteidigt. Rache wofür? Für die chirurgisch-exakte Sabotage einer Brücke, um russische Nachschublinien in die besetzten Gebiete zu unterbrechen. Sauberer und präziser kann sich ein Land kaum widersetzen. Das macht die Rachsucht noch unmoralischer: Es gibt keine Rechtfertigung dafür, derart auf eine Antwort auf eigene kriminelle Handlungen zu reagieren.”

“De Standaard” (Brüssel):

“Es handelt sich um ein bekanntes Rezept der russischen Kriegsführung, das die Handschrift des neuen Befehlshabers Sergej Surowikin erkennen lässt. Er hatte schon von Rebellen gehaltene Viertel in Syrien bombardieren lassen, angefangen bei Krankenhäusern, Schulen und Bäckereien. Fassbomben gegen Kalaschnikows, das Vorgehen war gnadenlos und wirksam.

Mit der Ukraine trifft Russland allerdings auf einen ernst zu nehmenden Gegner. Der Einsatz all dieser extrem teuren Waffen aus den schwindenden russischen Beständen hat keine militärische Wirkung auf dem Schlachtfeld in der Ost- und Südukraine. Das Einzige, was Putin vorerst erreicht zu haben scheint, ist, dass der Blutrausch der Falken im und rings um den Kreml für eine Weile besänftigt ist. (…)

Entschlossenheit sollte auch die Antwort des Westens auf die russische Eskalation sein. Deutschland hat der Ukraine die Bereitstellung von hochentwickelten Luftverteidigungssystemen zugesagt. Das sind defensive Waffensysteme, die keinen Tag zu früh kommen.”

“ABC” (Madrid):

“Man kann es nicht mit absoluter Sicherheit behaupten, aber die Vermutung liegt nahe, dass (Kreml-Chef Wladimir) Putin nicht auf Atomwaffen zurückgreifen wird, weil er die Reaktion der NATO fürchtet und sich bewusst ist, dass das die Intervention des Bündnisses zur Unterstützung der Ukraine nach sich ziehen würde. Und in einem solchen Szenario würde er aufgrund der technologischen und militärischen Überlegenheit der Vereinigten Staaten auf verlorenem Posten stehen.

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Putin sich dafür entscheiden wird, in den kommenden Wochen zivile Ziele zu bombardieren, wie er es bereits gestern getan hat. Er ist ein Tyrann, der auch vor interner Repression nicht zurückschreckt, aber er wird es nicht wagen, die NATO zu provozieren. Es wäre sein politischer Selbstmord und das Ende seines Regimes (…) Die Menschheit wird irgendwann aussterben, aber aus anderen Gründen. Nicht wegen eines Atomkrieges.”

“Corriere della Sera” (Mailand):

“Die Bombardierung von Städten und ziviler Infrastruktur zeigt das tragische Gesicht des Scheiterns der russischen ‘Spezialoperation’ in der Ukraine. Es herrscht die feige Logik derer vor, die in der direkten Konfrontation nicht gewinnen können und deshalb unter die Gürtellinie schlagen. Wladimir Putin hatte von Anfang an versprochen, dass er komme, um das Land zu ‘befreien’ und zu ‘entnazifizieren’.

Mit dem Segen des Patriarchen von Moskau trat er in der Rolle eines erleuchteten Anführers mit der Mission auf, die Kinder, die Opfer eines von der NATO finanzierten korrupten Regimes waren, zu Mütterchen Russland zurückzubringen.

Die Fakten beweisen das Gegenteil. Die Angriffe auf Kiew und ukrainische Großstädte folgen auf eine lange Reihe von Rückschlägen, die die fast acht Monate der russischen Invasion geprägt haben. Die Schreie der Kinder, die zusammengedrängten Menschen in den U-Bahn-Tunneln, die Trümmer auf den Straßen: Das alles geschieht nach den russischen Niederlagen zwischen Donbass und Cherson, aber vor allem als Reaktion auf die Explosion auf der Kertsch-Brücke, deren strategische Bedeutung bekannt ist, die Moskau nicht verteidigen konnte.”

“Libération” (Paris):

“Wladimir Putin glaubt an das Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. ‘Auge um Auge, Zahn um Zahn’. ‘Du beschädigst meine Brücke, ich lasse große Städte im Bombenregen untergehen.’ Aber es gibt einen Haken: die Art der zwei Operationen ist sehr unterschiedlich. Die Explosion, die die Brücke beschädigt hat, zielte auf die Zerstörung eines symbolischen Werks ab, nämlich dem Stolz Putins, und eines Strategischen, da sie für die Logistik des russischen Militärs in der Gegend entscheidend ist. Der russische Beschuss, der seit Sonntag auf die Ukraine niedergegangen ist, zielt hingegen darauf ab, Zivilisten zu terrorisieren und wahllos zu töten. (…)

Diese russische Angriffsserie ist reine Rache und keinesfalls eine militärische Strategie, da an der Front die Truppen von Wolodymyr Selenskyj weiter vorrücken. Und die Ukrainer haben seit Beginn dieses Krieges gezeigt, dass die Angst vor dem Tod sie nicht zurückweichen lässt, sondern ihren Kampfgeist verstärkt. Dennoch ist die Situation hochentzündlich, vor allem wenn der Krieg auf Belarus überzugreifen droht, wo Präsident (Alexander) Lukaschenko erwägt, Truppen gegen Kiew zu mobilisieren (…). Man kann nur hoffen, dass dieser Wahnsinn irgendwann von selbst endet.”

“Washington Post”:

“Hardliner in Russland, die Putin dazu gedrängt haben, zivile Ziele und Infrastruktur anzugreifen, haben sich erfreut gezeigt über diese entsetzliche Eskalation. Doch sie täuschen sich. Russische Artillerie und russische Flugzeuge haben bereits gewaltige Zerstörung und Tod über Städte in der Ukraine gebracht und mit dieser Strategie kaum mehr erreicht, als die Ukrainer, die diesen Angriffen getrotzt haben, noch kampfbereiter zu machen. (…)

Putin zielt auf Zivilisten zu einer Zeit, in der er schwächelt und im gegenwärtigen Kampf der beiden Armeen vor einer Niederlage steht – man kann der Liste seiner Beweggründe, die er mit anderen Terrorbombern teilt, also Verzweiflung hinzufügen.

In praktischer militärischer Hinsicht zeigt der russische Angriff, dass die Ukraine weitere und bessere Luftverteidigungssysteme benötigt, zusätzlich zu denen, die sie bereits besitzt und die sie genutzt hat, um 43 der von Moskau abgefeuerten Raketen abzuschießen. (…) Versetzt man die Ukraine in die Lage, den Schaden von Putins Luftterrorismus zu begrenzen, wird dies dazu beitragen, dass sich dieser Feldzug – wie ähnliche in der Vergangenheit – als strategische Sinnlosigkeit erweist.”

“Financial Times” (London):

“Eine Reaktion der westlichen Demokratien sollte darin bestehen, der Ukraine rasch die hochentwickelten Verteidigungssysteme zu liefern, um die sie seit langem bittet. Werden sie nicht geliefert, wird die Ukraine nur noch verwundbarer, und die Qualen, die ihre Bürger ertragen müssen, werden noch größer – ebenso wie die Kosten für den Wiederaufbau nach dem Krieg. (…)

Trotz des menschlichen Elends, das die russischen Angriffe mit sich bringen, werden sie die außergewöhnliche Entschlossenheit der Ukraine wahrscheinlich nur stärken. Allerdings müssen sich die westlichen Demokratien auch auf mögliche Versuche Moskaus einstellen, ihre Infrastruktur ins Visier zu nehmen. Nach Explosionen an den russischen Nord-Stream-Gaspipelines nach Deutschland und ungeklärten Sabotageakten an Kabeln, die am Wochenende einen Teil des deutschen Schienennetzes lahmlegten, wurde am Montag ein Cyberangriff auf Websites von US-Flughäfen russischen Hackern zugeschrieben.

Die Verbündeten müssen nicht nur ihre Unterstützung für die Ukraine aufstocken, sondern auch die Überwachung kritischer Energie-, Verkehrs- und Kommunikationsnetze verstärken – und darauf vorbereitet sein, dass einer von Putins nächsten Schritten ein Versuch sein könnte, den Krieg auszuweiten.”

“Neatkariga Rita Avize” (Riga):

“Je früher die Welt erkennt, dass das Böse vernichtet werden muss, desto besser, desto weniger Schaden wird es am Ende anrichten. In dieser Hinsicht besonders widerlich war in der vergangenen Woche die idiotische (ein anderer Begriff wäre zu milde) ‘Erkenntnis’ der aus der Versenkung aufgetauchten langjährigen Kultiviererin/Verbergerin dieses Übels, Angela Merkel, dass ein stabiler Frieden in Europa ohne Russland nicht möglich ist. Tatsächlich ist es genau andersherum. Frieden ist mit Putins Russland absolut unmöglich. Entweder Frieden in Europa und der Welt oder Putin. Beides zugleich ist nicht möglich. Dies sollte endlich verstanden werden, und dieses Verständnis erreicht langsam die Welt. Leider zu einem extrem hohen Preis.”

“Rzeczpospolita” (Warschau):

“Der ukrainische Sieg ist näher gerückt, nicht weiter entfernt. Der Angriff auf mindestens zehn ukrainische Städte, darunter das Zentrum Kiews, war eine Reaktion auf die Zerstörung der Krimbrücke. Es gibt kein wichtigeres Symbol als diese Brücke für alle Russen, die imperialistische Eroberungen gutheißen. In ihrem Verständnis hätte die Vergeltung den Charakter eines außergewöhnlichen Symbols haben müssen, das eine Macht darstellt, die imperialistische Ziele umsetzen kann. Doch war das so? Oder hat die Vergeltung wenigstens gezeigt, dass Moskau die Gegenoffensive Kiews, die stückweise Zurückgewinnung ukrainischen Terrains, stoppen kann? Nein.

So schrecklich es klingen mag – schließlich geht es um die Tötung von Menschen -, die symbolische Reaktion des Kremls ist kein Vorbote seines Triumphs. Denn das war das Maximum dessen, was sich Putin in einem Moment der Prüfung leisten konnte. Ihm bleibt jetzt noch die Drohung mit Atomwaffen. Ihr Einsatz würde jedoch nicht nur den Tod einer unvorstellbaren Zahl von Zivilisten, sondern wahrscheinlich auch den Tod seines Regimes zur Folge haben.”

(bf/apa)

Titelbild: JACK TAYLOR / AFP / picturedesk.com

Autor

  • Benedikt Faast

    Redakteur für Innenpolitik. Verfolgt so gut wie jedes Interview in der österreichischen Politlandschaft.

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