Samstag, September 14, 2024

Wenn die Feigenblätter fallen – Skylla & Charybdis

Skylla & Charybdis

“Die Kultur darf nicht schweigen, auch nicht während des Krieges”, hielt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan in einem Interview fest. “Wenn die Kultur schweigt, wenn Schriftsteller nicht mehr schreiben, dann bedeutet das, dass die Angst gewonnen hat.”

Julya Rabinowich

Wien, 29. Oktober 2022 | Wenn Herbst ist, ist Lesezeit. Weinlesen, Buchlesen. Beides berauscht, letzteres kann auch noch im Blätterrausch ernüchtern. Herbst ist auch die Zeit der kürzeren Tage, des Rückzuges, der Schnupfenvariationen und der Frankfurter Buchmesse. Auf ebendieser war heuer verschnupft: der Soziologe Harald Welzer, dem der Applaus für den ukrainischen Friedenspreisträger Serhij Zhadan einfach zu lange dauerte. Das kann man verstehen, schließlich galt dieser Applaus nicht ihm, und den Preis hat er obendrein auch nicht bekommen. Davor und vermutlich auch danach waren Harald Welzer, aber auch einige andere, damit beschäftigt, in diversen Medien und vor großem Publikum vehement darauf hinzuweisen, dass man heutzutage nichts mehr sagen dürfe, während man genau beschrieb, was dieses Unaussprechliche sei.

Vielleicht war wenigstens Harald Welzer insgeheim überrascht darüber, dass alle seine Aussagen über das, was man nicht mehr sagen dürfe, gesendet wurden, gedruckt, angehört und verbreitet. Aber wer weiß das schon so genau. Dmitry Glukhovsky hätte ihm, wären sie sich in den hohen Hallen der Frankfurter Buchmesse begegnet, durchaus schildern können, wie es ist, wenn man Dinge ausspricht, deren Ausspruch unerwünscht, ja sogar verboten ist. Der russische Putin-Kritiker und Science-Fiction-Autor musste sein Land verlassen, aber bestimmt war auch das nur so ein Sozialtourismus. Dieser wird heutzutage schnell vermutet, auch bei Menschen, die es eigenartigerweise vorziehen, weder in die Luft gejagt noch erschossen zu werden.

Glukhovsky – zuerst als Journalist und erst dann als Autor tätig – ist schonungslos brutal in seinen Aussagen. Er glüht. Der Blick in eine dystopische Realität ist hart, vor allem wenn man bedenkt, dass er nicht länger auf sehr Unwahrscheinliches trifft. Am Stand des PEN Berlin – dieser stellte dieses Jahr ein unglaubliches Programm mit dem Fokus auf die aktuellen Schmerzen der Welt von Ukraine bis Iran auf die Beine, aus dem Stand, an dem Stand und im Wort – , wurde ein Geschenk für Glukhovsky abgegeben, etwas Essbares. Seine Realität bedeutete, dass er es aus Sicherheitsgründen entsorgen musste.

“Die Kultur darf nicht schweigen, auch nicht während des Krieges”, hielt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan in einem Interview fest. “Wenn die Kultur schweigt, wenn Schriftsteller nicht mehr schreiben, dann bedeutet das, dass die Angst gewonnen hat.” Mehr noch: Wenn die Kultur schweigt, hat nicht nur die Angst gewonnen, sondern auch die Unfreiheit. Wer herausfinden möchte, wie es tatsächlich ist, zum Schweigen gebracht zu werden, der sollte einfach ein One-Way-Ticket nach Russland nehmen. Oder in den Iran. Oder nach Afghanistan. Oder nach China. Währenddessen fallen die Blätter der heute zensierten, die Blätter der gestern verbrannten Bücher, fallen wie von weit.

Titelbild: ZackZack

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