Aufwachen!
Heute: Die ÖVP will das Recht auf Freiheit, Gleichheit und faire Gerichtsbarkeit „überarbeiten“ und plagiiert damit Herbert Kickl.
Daniel Wisser
Wien, 19. November 2022 | Der Abgeordnete Wöginger, der als Parlamentarier auf die Österreichische Bundesverfassung vereidigt ist, hat ganz offenbar einen Meineid geleistet. Er erklärte jüngst: „Die Menschenrechtskonvention gehört überarbeitet“. Die Menschrechtskonvention wurde vom Nationalrat am 4. März 1964 (X. GP. – 44. Sitzung) einstimmig in den Verfassungsrang gehoben. Der Redner der ÖVP, Dr. Theodor Piffl-Perčević, sagte in dieser Sitzung, dass das Recht, das aus der Menschenrechtskonvention spricht, kein Recht ist, das verliehen wird, sondern dass es sich um Rechte handelt, die festgestellt werden, etwa das Recht jedes Menschen auf das Leben. Im Jahr 2022 aber folgt der ÖVP-Club offensichtlich den verfassungsfeindlichen Worten des früher von ihm unterstützten Innenministers.
Keine Erklärung
Bis heute hat August Wöginger nicht gesagt, wie die von ihm geforderte „Überarbeitung“ der Menschenrechte aussehen soll. Das kann er auch gar nicht, denn es sind ganz allgemein formulierte Artikel, die das Recht auf Gleichheit, Freiheit und faire Gerichtsbarkeit definieren. Den Verfassungsrang kann er den Menschenrechten auch nicht nehmen, denn dazu braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat. Und das Verändern des Texts der Menschenrechtserklärung durch einen HAK-Maturanten aus Schärding oder eine von einem Aufsichtsratssammler zusammengetrommelte Gruppe aus ÖVP-Bürgermeistern ist wohl auch nicht realistisch.
Worum geht es also? Es geht um den nächsten Wahlkampf. Als wären fünf Jahre nicht vergangen, müssen wir nun den Unsinn von 2017 wieder hören. Die ÖVP hat Herbert Kickl anscheinend zu ihrem Wahlkampfleiter gemacht und er hat mit seiner Arbeit schon begonnen. Nun wiederholt Wöginger also Kickls Forderung von 2019. Was damals falsch war, ist auch heute falsch: Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hat nichts mit Asylpolitik zu tun. Das Wort Asyl kommt darin kein einziges Mal vor. Bis heute hat August Wöginger die Menschenrechtserklärung offenbar nicht gelesen.
Falscher Konnex
Dass er konkrete Aussagen schuldig bleibt, ist typisch für Rechtspopulisten. Doch ständiger Populismus und Rechtsruck erzielen Erfolge, indem viele Menschen fälschlicherweise zu glauben beginnen, die Menschenrechte hätten mit Asylpolitik zu tun. Ein Verteidiger der schwarz-grünen Regierung sagte jüngst zu mir: Solange sie die Flüchtlinge nicht hereinlassen, stört es mich nicht, dass sie korrupt sind. Damit hat sich die nur scheinbar bürgerliche, in Wahrheit aber faschistische Moral selbst entlarvt.
Wir wissen längst, dass die Flüchtlingswellen der Zukunft viel größer sein werden als die der Vergangenheit, wenn es in den vielen Ländern, auf deren Rohstoffe und Arbeitskräfte wir angewiesen sind, nicht endlich zu Demokratisierung und einer gerechteren Umverteilung des Wohlstands kommt. Österreichs Wirtschaft ist von Öl abhängig. Während es nur sieben Prozent seines Bedarfs selbst deckt, kommen die Importe zu 90 Prozent aus Staaten mit Defiziten bei Menschenrechten. Die wichtigsten Lieferanten des Jahres 2021 waren Kasachstan, Irak, Libyen, Russland, Algerien und Saudi-Arabien. Demokratie und Pressefreiheit sind in diesen Ländern stark eingeschränkt.
Indem der Westen in den Ländern, aus denen seine Billigarbeitskräfte und Rohstofflieferanten kommen, autoritäre und korrupte Eliten an der Macht hält, um billig an Ressourcen zu kommen, wird das Elend dort täglich vermehrt und Flucht und Migration befördert. Bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde im Kolonialismus Unterdrückung noch offen ausgeübt. Der Rückzug aus den Kolonien und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1948 haben zumindest de jure für eine Beendigung dieser Unterdrückung gesorgt. De facto existiert sie aber unter anderen Voraussetzungen immer noch.
Keine zielführenden Maßnahmen
Und auch Österreichs Politik vermehrt Elend und Verfolgung in jenen Ländern, aus denen Asylwerber nach Österreich kommen. Seit fünf Jahren sind in Österreich rechte Regierungen am Werk. Keinen einzigen Schritt haben sie in diesen Jahren getan, um diese Entwicklung umzukehren oder auch nur im Ansatz zielführende Maßnahmen zu verabschieden. Wir haben fünf Jahre verloren und müssen nun die Dummheiten und Unwahrheiten von früher in Dauerschleife anhören. Es ist eine Geduldsprobe für die Bevölkerung, deren Intelligenz von der Regierung massiv unterschätzt wird. Nein, Herbert Kickl wird mit seiner Strategie die ÖVP nicht zum Wahlsieg führen.
Rechte für alle
Wöginger bekam aber jedenfalls prompt Rückendeckung aus der eigenen Partei. Zuerst von Landeschefs. Einen Kommentar dazu erspare ich Ihnen. Dann folgten Ministerin Raab und Ministerin Edtstadler. Letztere hatte Wögingers Ansinnen in einer ersten Reaktion noch eine Absage erteilt, schwenkte aber am Freitag plötzlich um. Edtstadler sagt, wir hätten heute „eine andere Situation, als es vor ein paar Jahrzehnten der Fall war, als diese Gesetze geschrieben wurden“. Bedeutet das nun, dass Recht auf Leben, Verbot der Folter, Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung im Jahr 2022 nicht mehr gelten? Oder bedeutet es, dass diese Rechte nur für schwarze Schärdinger, Ampflwanger und Salzburger gelten?
Auch dazu heißt es in Artikel 14 der Menschenrechtskonvention klar: Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten.
Nichts als Propaganda
Man kann es ganz einfach zusammenfassen: Wöginger, Raab und Edtstadler sind eine Schande für ein demokratisches Land! Das Ansehen Österreichs ist mit dieser Regierung tief gesunken! Sie macht rechtspopulistische Propaganda und sonst nichts.
Das Entsetzen über Wögingers Vorstoß in der Presse ist groß. Viele Kommentatoren fragen sich, wie eine christlich-soziale Partei so weit nach rechts rücken konnte. Ich gebe ihnen die Antwort: Die ÖVP war nie christlich-sozial. Sie müsste es erst werden. Und vielleicht hat es August Wöginger ja so gemeint: Die ÖVP gehört überarbeitet.
Titelbild: ZackZack/Miriam Mone