Hier geht es um Ungeschminktes, Ungeschöntes, Schiefhängendes, dornig Bohrendes. Es geht um psychische Erkrankungen, die Brutalität und die Schwäche der Gesellschaft, es geht um Hysterie, um Ausbeutung, es geht um die Vererbung der Bildung, um das generische Femininum, um Heteronormatives, um Verzweiflung, um Durchbrüche. Es geht aber auch um Hilfe zur Selbsthilfe.

Julya Rabinowich

Wien, 09. Dezember 2022 | Beatrice Frasl, die Frau hinter dem Podcast „Große Töchter“, Kulturwissenschaftlerin/Geschlechterforscherin, Kolumnistin und immer: Feministin. hat ein Buch geschrieben. Das Buch ist gnadenlos in seiner Direktheit und dem Anspruch, Schmerzhaftes auszusprechen. Aber: Was ausgesprochen ist, ist zwar noch nicht in Ordnung, aber wenigstens auf dem Weg der Offenbarung, der vielleicht! einmal eine Heilung folgen kann. Hier geht es um alles oder nichts. Hier geht es um verbale Faust aufs Auge. Hier geht es um Ungeschminktes, Ungeschöntes, Schiefhängendes, dornig Bohrendes. Es geht um psychische Erkrankungen, die Brutalität und die Schwäche der Gesellschaft, die Angst vor dem Kranken, es geht um Hysterie, um Ausbeutung, es geht um die Vererbung der Bildung und damit die Vererbung der krankmachenden Ungleichheit, um das generische Femininum, um Heteronormatives, um Verzweiflung, um Durchbrüche. Es geht aber auch um Hilfe zur Selbsthilfe. Um Weiterreichen wichtiger Informationen. Es geht um ein besseres Miteinander.

ICH_AG kein Individiuum

Das Buch entsetzt und hilft gleichzeitig, Mut zu schöpfen, Atem zu holen. Beides kann Betroffenen und Angehörigen immer wieder wegbleiben. Ein großer Schwerpunkt liegt auf Psychotherapie und den Hürden, eine solche zu bekommen- die Entscheidung liegt, wie bei vielem im medizinischen Bereich, auf lange Warten oder sofort privat zahlen, für viele keine Entscheidung, die sie treffen können. Hier zeigen sich Bruchlinien unseres Systems, das ein Funktionieren predigt und Unterwerfung unter dieses Funktionieren verlangt. Das ein Herausfallen aus dieser Maschinerie mit Verachtung und Isolation straft. Die ICH_AG ist eben eine AG und kein Individuum. Hier schließt jenes Kapitel nahtlos an, das den Teufelskreislauf zwischen Armut und Krankheit schildert- ein Ausbruch ohne Deus ex Machina wird fast unmöglich. Dieses Deus ex Machina sollte ein Sozialstaat sein, der funktioniert, statt Betroffene zum Funktionieren zu zwingen- mit zweifelhaftem, Ergebnis. Der Vergleich der Autorin ist bildhaft und hilft, die Absurdität der Situation zu verstehen: niemand würde erwarten, dass eine mit gebrochenem Bein weiterhin genauso viel leistet, wie mit zwei gesunden. Mit gebrochener Seele ist das aber in den Augen vieler offenbar ein Klacks!

„Nicht nur gibt es Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsversorgung, sondern auch in der Frage, wer überhaupt erkrankt und in welchem Ausmaß. Klassenverhältnisse und Patriarchat prägen unsere Psyche. Um das zu erkennen, braucht es einen radikalen Zugang zum Thema. Radikal ist hier durchaus im Wortsinne zu verstehen, wir müssen uns mit der Wurzel psychischen Leides beschäftigen,“ schreibt die Autorin, und sie hält Wort. Das Werk ist ein Tauchgang, die Bruchstellen der Gesellschaft verbergen so viel Dunkelheit wie der Marianengraben. Es braucht Mut, hinabzusteigen. Beatrice Frasl ist eine mutige Frau.

Titelbild: ZackZack