“Bei der Wien-Wahl durften 30 Prozent der hier lebenden Menschen nicht wählen” sagt der Wiener Landtagsabgeordnete Öztaş. ZackZack Türkiye hat ihn zum Wahlrecht, Klimaaktivismus und Antirassismus interviewt.
Wien, 06. Januar 2023 | Ömer Öztaş ist 2000 in Wien geboren und ist seit dem 24. November 2020 der jüngste Landtagsabgeordnete Wiens. Er studiert Geschichte und Politikwissenschaften. Sein Großvater kam in den 1970er Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Österreich.
Gabriel Hartmann hat ihn zum Interview getroffen.
ZackZack: Klimaaktivistinnen der „Letzten Generation“ haben im Leopold Museum das Klimt-Bild „Tod und Leben“ mit Farbe überschüttet, Aktivistinnen von „Erde brennt“ haben einen Hörsaal der Uni Wien besetzt. Was sagen Sie zu dieser Form des Aktivismus?
Ömer Öztaş: Dieser Aktivismus zeigt die Verzweiflung der jungen Menschen. Beginnend bei Fridays for Future bis hin zur Lobau: da spiegelt die Gesellschaft und Politik wider, dass sie den jungen Menschen nicht zuhört. Man bekleckert nicht gern ein Gemälde oder klebt sich irgendwo fest. Die Aktivistinnen wissen auch, dass vor dem Gemälde ein Glas ist und dass sie es nicht beschädigen können. In Deutschland haben sich Klimaaktivistinnen auf die Straße geklebt und falls ein Notstand entstand, konnten sie Rettungsgassen bilden. Das ist eine Form des Aktivismus, die wehtun muss, um Aufmerksamkeit zu generieren, aber bis auf mehr Stau oder bis auf ein Glas, das beschmiert wurde, niemanden schadet.
Ich war neulich selbst bei der Uni-Besetzung, um mir das anzuschauen, weil ich die Forderungen wichtig finde: klimagerechte Zukunft für alle, ein leistbares Leben für alle. Aufgrund der Inflation ist das nicht der Fall. Den Unis muss auch mehr Geld von der Bundesebene zur Verfügung gestellt werden. Da waren auch Professoren, die sich solidarisch erklärt haben mit dem, was die Jugendlichen gerade machen, sei es in der Uni, in der Schule oder in der Politik. Man redet gerne über junge Menschen, aber nicht mit ihnen. Das ist ein Problem.
Wann haben Sie sich politisiert und wieso sind Sie zu den Grünen gegangen?
Mit 14 Jahren habe ich in der Schule meine erste Rassismus-Erfahrung erlebt. Ein Lehrer hat mir damals gesagt, ich könnte niemals studieren, weil ich türkischer Herkunft bin.
Da hat ein Hinterfragen begonnen, was ich bin, was meine Familie ist, was Österreich ist und dass wir anders sind. Dass wir nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehören und zwar nicht nur meine Familie und ich, sondern 40 Prozent der Wienerinnen und Wiener mit Migrationshintergrund dementsprechend nicht inkludiert werden.
Ich habe vergeblich ein politisches Vorbild gesucht, eine migrantische Person, die mich repräsentieren kann. Ich habe über 50-jährige, weiße, autochthone Österreicherinnen gefunden, die im Parlament über junge Menschen und über migrantische Menschen reden. Das kann es nicht sein. Wir leben in einer Demokratie, wo es, bis auf die Staatsbürgerschaft, keine Voraussetzungen gibt, um anzutreten. Politik ist Mitgestaltung aller Menschen, da brauchst du keine Qualifikation vorher, du kannst mitmachen und gestalten.
Wie war das bei Ihnen?
2016 war ich Erstwähler bei der Bundespräsidentenwahl. Da fiel mir die Entscheidung nicht schwer zu sagen, ich wähle eher den Alexander Van der Bellen als grünen, als liberalen und weltoffenen Menschen als den Norbert Hofer. Da bin ich zu der Grünen Jugend und zur GRAS dazugestoßen, also zu den grünen Studierenden. Ich habe mich vernetzt in der Partei und habe vier Jahre, bis zu meiner eigenen Kandidatur, Aktivismus betrieben, indem ich auf der Straße war, Zettel verteilt habe und Leute von der grünen Idee überzeugt habe.
Wie viel Migrationshintergrund steckt in den Grünen Ihrer Meinung nach?
Die Repräsentation von jungen Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund haben die Grünen für mich gezeigt. In der österreichischen Bevölkerung sind 20 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund und im Grünen Nationalratsklub sind 25 Prozent unserer Abgeordneten mit Migrationshintergrund. Es sind viele Menschen von der LGBTIQ-Community, es sind viele Religionen und viele ethnische Gruppen vertreten. Das finde ich bereichernd für die Gesellschaft. Das war ein Punkt, warum ich zu den Grünen gegangen bin.
Wie repräsentativ ist die österreichische Politik für Sie als junger Mensch aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationsgeschichte?
Politik wird von Menschen aus der Gesellschaft gemacht, die für die Menschen arbeiten. Wenn eine Gesellschaft aus 40 Prozent Migranten und circa zu 10 Prozent aus LGBTIQ-Menschen besteht und am Ende des Tages nur Menschen entscheiden, die einer einzigen Gruppe angehören, aber über alle entscheiden, dann finde ich das demokratiepolitisch problematisch.
Bei der Wien-Wahl durften circa 30 Prozent der hier lebenden Menschen nicht wählen, obwohl die 30 Prozent genauso Steuern zahlen und arbeiten. Es gab 72.000 Jugendliche, die in Wien geboren sind, aber nicht wählen durften. Ich bin mit diesen Menschen aufgewachsen, die mir dann gesagt haben: „Ich finde toll, was du machst, aber ich konnte dich leider nicht wählen“.
Es ist meine Überzeugung, dass wir diesen Menschen eine Repräsentation geben müssen. Wenn du ein Anliegen hast, kannst du nicht erwarten, dass das irgendjemand für dich macht, sondern es müssen Menschen sein, die dein Anliegen verstehen können.
Warum ist das überhaupt so relevant?
Die Prognosen zeigen, dass bei der überübernächsten Wien-Wahl, also 2035, circa 45-50 Prozent der Menschen in Wien nicht wählen könnten. Dann wird es eine Mehrheit geben, über die die Minderheit entscheidet. Das kann nicht Sinn und Zweck der Demokratie sein. Früher haben sich berechtigterweise Frauen das Wahlrecht erkämpft, die auch in der Mehrheit waren. Warum sollte es jetzt nicht für Menschen gehen, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben? Andere Länder haben es auch geschafft.
Bürgermeister Ludwig fordert eine Reform des Staatsbürgerrechts. Unter anderem sollen die Hürden für den Staatsbürgerschaftserwerb abgesenkt werden. Fordern Sie ein Wahlrecht für ansässige Nicht-EU-Bürger bei der Wien-Wahl?
Um es klar zu sagen: Ja. Das gab es auch früher. 2002 hat der Wiener Landtag beschlossen, dass Menschen, die Drittstaatsangehörige sind, auf der Bezirksebene zumindest wählen dürfen. Zwei Jahre später wurde das Gesetz vom Verfassungsgerichtshof gekippt, weil der Verfassungsgerichtshof der Meinung war, dass das Wahlrecht an das Staatsbürgerschaftsrecht gekoppelt ist. Was kann man jetzt machen, 20 Jahre später? Natürlich kann man die Hürden senken. Die sind enorm, man kann nicht erwarten, dass man Tausende von Euro auf den Tisch legt, dass man die Deutschkenntnisse hat, die die Behörden erwarten und dass man ein historisches Wissen über Österreich hat, das nicht einmal viele mit österreichischer Staatsbürgerschaft haben.
Warum muss das Wahlrecht an das Staatsbürgerrecht gekoppelt sein? Meine Mutter zum Beispiel lebt, seit sie 18 ist, in Österreich. Sie hat kein Wahlrecht, obwohl sie ihren Lebensmittelpunkt hier hat und länger hier lebt, als sie in der Türkei gelebt hat.
Warum muss ich etwas aufgeben, damit ich etwas haben darf? Wenn ich an meinen Opa denke, der als Gastarbeiter hergekommen ist: Ihn hat damals niemand gefragt, ob er Deutsch lernen will. Es hieß, er würde irgendwann wieder gehen, niemand hat sich um ihn gekümmert. Dann darf man sich nicht wundern, wenn diese Menschen sagen, man hat mich jahrelang nicht gefragt und jetzt muss ich eine Staatsbürgerschaft annehmen, für die ich eigentlich nicht vorbereitet wurde. Wie kann man das erwarten von Menschen, die jahrzehntelang hier leben?
Was ist ihre Arbeit im Wiener Landtag und was sind ihre politischen Zielsetzungen?
Ich bin im Gemeinderatsklub der Grünen Sprecher für Kinder, Jugend, Lehrlinge und für Digitalisierung. Das Kinder-Jugend-Thema ist sehr breit, das sind nicht nur Kinder- und Jugendschutzgesetze: Es kommt auch im Klimabereich vor, es kommt vor in den Unis. Überall, wo die Jugend dabei ist, habe ich die Aufgabe, mich darum zu kümmern. Mein größtes Ziel ist teils erfüllt worden durch uns und die SPÖ-NEOS-Stadtregierung: jungen Menschen ein Sprachrohr zu geben.
Inwiefern?
Wir haben 2020 die Kinder-und-Jugend-Strategie beschlossen. Das ist zum ersten Mal eine große Strategie der Stadt Wien, um kinder- und jugendfreundlicher zu werden. Eine dieser Maßnahmen war das Kinder-Jugend-Parlament. Junge Menschen dürfen eigenständig entscheiden über ein Budget von einer Million Euro. Das ist ein Meilenstein. Ich bin in dieser Repräsentationsfrage der Meinung: nicht über Jugendliche reden, sondern mit Jugendlichen reden. Und auch nicht sagen, was Jugendliche wollen, die können es selber artikulieren. Die wissen, was sie wollen, man muss ihnen nur die Plattform dazu geben.
Wie kann man Menschen in Österreich weiter für Antirassismus sensibilisieren?
Indem man zum Beispiel verschiedenste Initiativen aus der Zivilgesellschaften startet. Das Black Voices Volksbegehren ist um 600 Stimmen an den benötigten 100.000 gescheitert. Daran sieht man, wie uninteressiert die Mehrheitsgesellschaft ist. Erst durch den Druck von unten wird die Politik aktiv. Es gibt, ohne Namen zu nennen, sehr viele Politiker, die nur auf der faulen Haut liegen und denen Druck von außen gemacht werden sollte.
Woran, glauben Sie, ist das Black Voices Volksbegehren gescheitert?
Das Erste ist, dass Menschen gedacht haben: „Ja das wird schon“. Dass sie nicht genügend überzeugt waren, dass sie wirklich ins Amt gehen müssen oder einfach per Handy-Signatur unterschreiben. Das Zweite ist, dass dieses Bewusstsein in der Gesellschaft nicht da ist. Die Erfahrungen von Rassismus, die verschiedenste Menschen mit Migrationshintergrund gemacht haben, haben nicht alle Menschen erfahren. Es gibt Menschen, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren sind, und es gibt Menschen, die kämpfen mussten, um auf den Mindeststandard zu kommen. Der Kontext von Black Lives Matter ist, dass Polizeigewalt gegen schwarze Menschen auch in Österreich präsent ist, die auch zum Tod von mehreren schwarzen Menschen geführt hat. Das ist vielen nicht bewusst.
Im Koalitionsabkommen steht, dass eine „unabhängige Beschwerdestelle“ zu Polizeigewalt im Innenministerium eingerichtet werden soll. Glauben Sie, dass diese Stelle noch kommt?
Ich erwarte sie mir. Das steht im Koalitionsabkommen. Wir haben eine Gesetzgebungsperiode, die bis 2024 läuft. Ich hoffe, dass sie noch in dieser Periode kommt. Man muss ehrlich sagen, dass sie schneller kommen sollte, als sie jetzt geplant ist.
Braucht es eine Aufklärung der Umstände von in Polizeigewahrsam zu Tode gekommener schwarzer Menschen?
Selbstverständlich, wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, so als ob mit diesen Menschen nichts gewesen wäre. Es war Polizeigewalt, da braucht es Aufklärung. Ich finde das System, wie es jetzt ist, absurd, dass wenn man Rassismus oder Polizeigewalt erfährt, zur Polizei gehen muss und Anzeige erstattet gegen die Polizei. Das ist ein Widerspruch in sich. Ich hoffe, dass diese unabhängige Stelle wirklich unabhängig agieren und nicht unter dem Einfluss gewisser Beamten sein wird. Genauso wie ich zu einem unabhängigen Gericht gehen und jemanden klagen kann, möchte ich auch die Polizei klagen können.
(gh)
Titelbild: ZackZack/ Christopher Glanzl